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Ein Wiedersehen

Die Zeit ging hin, ohne daß Frieda eine Begegnung mit dem Unbekannten hatte. Zu Weihnachten war sie vierzehn Tage in Buschrode. Es waren wehmütige Tage der Erinnerung an die liebe Entschlafene, die die Seele des Hauses gewesen war und nun von allen so sehr vermißt wurde. Die Tanten waren gekommen, um Martha und den Vater in dieser Zeit nicht allein zu lassen. Tante Agnes war nicht mehr so kräftig wie früher, die Krankheit im Sommer hatte sie recht geschwächt, sie mußte sehr behütet werden. Großtante Kathinka war auch gealtert, aber ihr liebes prächtiges Wesen tat allen wohl. Das schöne Fest mit den Predigten übte auf alle einen wohltuenden Einfluß; die Tage vergingen stiller als sonst, aber den Segen des Festes spürte ein jeder. Martha und Frieda waren glücklich, sich wieder zu haben, wenn's auch nicht auf lange war. –

Die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern verging wie im Flug. Das Leben in der Großstadt brachte für Frieda manche Abwechslung. Frau Roller sah gern Gäste um sich. So lernte Frieda manche interessante Persönlichkeit kennen und hatte viel genußreiche Abende. Die Hausfrau zog sie zu allem heran. Wenn sie auch den unbekannten Fremden nicht wieder getroffen hatte, so hatte sie eine andere Begegnung gehabt, die ihr fast noch wertvoller war.

Es war ein schöner Tag im März, als man das Herannahen des Frühlings schon spürte. In den Vorgärten der Villen sah man schon Schneeglöckchen blühen, auch Krokus und andere Frühlingskinder streckten ihre Köpfchen aus der Erde. Gretchen ging vergnügt neben ihrer Lehrerin. Beide freuten sich über den warmen Sonnenschein und beschlossen, ihren Spaziergang heute ein wenig länger auszudehnen, und wanderten durch die weiten Anlagen in der Vorstadt.

Als eine Bank in Sicht kam, lief Gretchen darauf zu und rief: »Wie schön, daß wir uns setzen können, ich bin so müde.« – »Nein, Gretchen, nicht sitzen. In dieser Jahreszeit ist die Luft noch zu rauh, du würdest dir eine Erkältung zuziehen.«

Eben schritt ein junges Paar vorüber. Die Dame wandte sich, als sie Friedas Stimme hörte, schnell um, als ob die Stimme für sie einen bekannten Klang gehabt hätte, und flüsterte ihrem Begleiter einige Worte zu. Auch Frieda stutzte. Aber das Paar ging weiter, und Frieda sagte zu Gretchen: »Die Dame muß ich kennen, das Gesicht kam mir so bekannt vor.« Sie dachte eine Weile nach. »Jetzt hab ich's«, rief sie. »Das muß eine frühere Pensionsfreundin von mir sein. Sie hieß Veronika und war verlobt! Gewiß ist sie nun verheiratet und wohnt hier.«

»Da können wir sie doch besuchen«, rief Gretchen.

»Ja, wenn ich den Namen ihres Mannes wüßte! Sie hat ihn mir früher einmal genannt, aber ich habe ihn ganz vergessen. Ich weiß nur, daß der Name einen italienischen Klang hatte.« »Wie schade«, sagte Gretchen, das gern neue Bekanntschaften machte.

»Vielleicht begegnen wir ihnen noch einmal«, meinte Frieda. »Wir wollen öfter in die Anlagen gehen, ich möchte Veronika gern wiedersehen.«

Von da an sah man die beiden öfter nach dieser Freundin auslugen, aber vergeblich, sie kam nicht wieder.

Endlich sollte es doch glücken. Sie waren in einem Galanterieladen, um Einkäufe zu machen. Gretchen suchte ein Ledertäschchen für die Mutter zum Geburtstag aus. Da betrat eine Dame den Laden, die Frieda sofort scharf ins Auge faßte. Sofort kam sie auf sie zu.

»Täusche ich mich, oder erkenne ich in Ihnen eine frühere Pensionsfreundin?« –

Kaum hatte sie zu reden begonnen, so unterbrach Frieda sie. »Veronika, du bist es, ich höre es an der Stimme.«

»Und du bist Frieda, meine Freundin im Meilerschen Hause. Wie kommen wir hier zusammen!«

Frieda zeigte auf Margarete und sagte: »Ich bin als Lehrerin dieser Kleinen nach hier gekommen und fühle mich sehr wohl. Aber du, Veronika? Ich sah dich am Arm eines Herrn. Ich vermute, daß du verheiratet bist.«

»Freilich«, sagte Veronika, und ein glückliches Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen. »Ich bin seit dem Herbst mit meinem Saltino vereinigt. Es hat sich alles besonders vorteilhaft für uns gestaltet.«

»Nun wissen wir den Namen«, flüsterte Gretchen.

»Was sagt die Kleine?«

»Wir sind uns schon einmal begegnet. Ich glaubte, dich zu erkennen. Da ich aber meiner Sache nicht gewiß war, wagte ich nicht, dich anzureden. Wir wußten nun leider deinen Namen nicht, sonst hätten wir deine Wohnung ausgekundschaftet und hätten dich überfallen.«

»Jetzt mußt du mich jedenfalls so bald als möglich aufsuchen. Ich wohne in der Breitestraße 6. Willst du es dir aufschreiben? Komme ja recht bald, ich habe dir viel zu erzählen, und du mir gewiß nicht minder. Wie freue ich mich, eine so liebe Bekannte hier getroffen zu haben.«

»Ich besuche dich, sobald ich Zeit habe. Vielleicht darf ich meine kleine Schülerin mitbringen. Sie hat keine Geschwister und ist viel allein.«

»Gewiß, die bringst du mit. Wir trinken zusammen Kaffee, und die Kleine sieht schöne Bilder an, während wir miteinander plaudern und uns von alten Zeiten erzählen.« Margarete war über die Aussicht, mitgehen zu dürfen, sehr glücklich. Sie erzählte später ihrer Mutter von der Begegnung.

»Es freut mich für Sie, liebes Fräulein Senker, daß Sie diese Bekannte gefunden haben«, sagte Frau Roller. »Vielleicht besucht uns Ihre Freundin auch einmal.«

Schon in der folgenden Woche kam eine Einladung zum Kaffee von Veronika für Frieda und ihre Schülerin. Sie machten sich an einem Nachmittag zu diesem Besuch auf. Sie mußten ziemlich lange gehen, ehe sie auf die Breitestraße kamen. Sie lag inmitten der Stadt, im eigentlichen Geschäftsviertel. Ein schöner Laden reihte sich an den andern, nur das große vornehme Gebäude Nr. 6 hatte keinen. Aber man sah, daß die Parterrezimmer nicht als Wohnung dienten, sondern Kontore waren, in denen viele Angestellte an ihren Pulten saßen, mit eifrigem Schreiben beschäftigt. Im zweiten Stockwerk sollte Veronika wohnen. Nach den hohen Fenstern und den eleganten Vorhängen zu urteilen, mußte es eine schöne Wohnung sein. Veronikas Lage mußte sich doch außerordentlich günstig gestaltet haben. Es freute sie für die Freundin, die damals so verzagt gewesen war und trübe in die Zukunft geblickt hatte.

Frieda öffnete die Haustür und trat in die große Halle. Im selben Augenblick kam aus einem der untern Zimmer ein Herr. Frieda erschrak und errötete tief. Es war wieder der fremde Unbekannte. Er hatte seinen Hut in der Hand, aber statt vorüberzuschreiten, ging er auf sie zu und sagte freundlich:

»Nicht wahr? Ich irre mich nicht, wenn ich in Ihnen das Fräulein begrüße, das ich in der Schneenacht im Schlitten nach Neuburg mitnahm. Es war doch wohl besser, daß Sie nicht, wie Sie es wünschten, im Abteil sitzen blieben, denn ich hörte später, daß es große Mühe und Arbeit gemacht hat, den Zug loszueisen, daß es viele Stunden gewährt hat, bis er weiterfahren konnte.«

Frieda sagte verlegen: »Ich habe später eingesehen, daß ich Unrecht tat, Ihr Anerbieten von mir zu weisen. Es tat mir nur leid, daß ich beim Aussteigen nicht Gelegenheit fand, Ihnen zu danken. Aber Sie waren so von Menschen umringt, daß ich nicht durchdringen konnte. Ich hole mein Versäumnis heute nach.«

Er machte eine unmutige Bewegung. »Den Dank wollte ich nicht. Aber ich wunderte mich, wo die junge Dame geblieben sein mochte. Sie waren so urplötzlich vom Schauplatz verschwunden.«

»Ich hatte in der Nähe eine Tante, zu der ich flüchtete, denn ich fror und sehnte mich nach einer warmen Stube.« – »Verzeihen Sie«, sagte er darauf, »suchen Sie hier jemand?«

»Ich beabsichtige eine Freundin zu besuchen, die in diesem Hause wohnt«, sagte Frieda, grüßte und ging weiter. Sie ahnte nicht, daß der Herr Besitzer des Hauses war und daß alle, die darin wohnten, mehr oder weniger seine Angestellten waren. Sie ging mit Gretchen die breiten mit Teppichen belegten Treppen hinauf und hörte nicht, daß der Herr das Haus noch nicht verließ, sondern horchend einen Augenblick verweilte. Er merkte denn auch, daß im zweiten Stock geklingelt wurde, daß man öffnete und Frau Saltino das junge Mädchen freudig willkommen hieß. »Also eine Freundin von Frau Saltino«, schmunzelte Herr Gruber. »Da ließe sich vielleicht ergründen, wie das junge Mädchen heißt und wer sie ist.«

Frieda war ein sehr hübsches Mädchen, der liebliche Ausdruck ihres feinen Gesichtes zog die Menschen unwillkürlich an. So hatte auch Herr Gruber einen Eindruck empfangen, den er nicht vergessen konnte. Sonst wäre es ihm vielleicht gleichgültig gewesen, ob er einer Dame, die mit ihm im Schnee stecken geblieben war, wieder begegnete, er würde sie wohl kaum wieder erkannt haben. Aber hier war es anders. Schon daß das junge Mädchen sitzen blieb, daß sie nicht wie die andern eilte, hatte sein Interesse erregt. Das wurde verstärkt, als er sie in Gesellschaft der vornehmen Dame und des Kindes im Konzertsaal erblickte. Heute nun, wo er sie sogar in seinem eigenen Hause sah, wurde das Interesse so groß, daß er beschloß, über sie sich näher zu erkundigen.

Frieda saß inzwischen bei Frau Saltino. Sie fühlte sich gleich bei der Freundin heimisch, und wunderbar – sie hatte das Gefühl, als sei sie schon einmal in diesen Räumen gewesen. Sie trat ans Fenster. Sie sah sich als kleines Mädchen auf dem breiten Fenstersims sitzen, eine schlanke blasse Dame, ihre Mutter, neben sich stehen, da, auf einmal Trompetenklang und Trommeln, ein ganzer Zug Soldaten kam die Straße herunter: hatte sie es geträumt oder in frühester Kindheit wirklich erlebt? Die Erinnerung hatte gänzlich geschlafen, wie kam es, daß sie plötzlich aufwachte? Schon als sie die breite Treppe hinaufstieg, durchzuckte sie der Gedanke: »Hier bist du schon einmal gewesen.«

Veronika, die Gretchen mit sich ins Nebenzimmer genommen und ihr schöne Bilder zum Ansehen gegeben hatte, trat zu ihr. »Nun, so ernst in Gedanken versunken?« Frieda lachte. »Es kommt mir hier alles so bekannt vor, als wenn ich es schon einmal gesehen hätte. Hab's vielleicht geträumt. Nun erzähle mir aber von deinen Erlebnissen, Veronika, wie du hierhergekommen bist und wie sich alles zu deinen Gunsten gewendet hat.«

»Es würde zu weit führen, wollte ich dir alles ausführlich erzählen. Vielleicht später einmal. Heute nur soviel, daß ein Bekannter meines Mannes, ein sehr einflußreicher großer Fabrikherr, meinem Mann eine Stelle in seinem Kontor gegeben hat, die es uns ermöglichte, das Ziel unserer Wünsche zu erreichen. Nun erzähle aber du mir von dir und vor allen Dingen, wie du hierher gekommen bist.«

Frieda berichtete dann von Martha und ihrem traurigen Schicksal, von der Krankheit und dem Tod der Mutter und von ihrer früheren Stelle in Grünbach, die sie deswegen hatte aufgeben müssen. Veronika hörte mit großer Teilnahme zu, sie kannte ja Martha und hatte für alles, was mit der Pension Meiler zusammenhing, großes Interesse.


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