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27. Die Reisenden treffen ein.

Es war einige Tage vor Weihnachten. Jettchen und Minchen hatten, wie immer, vollauf zu tun, so daß Frau Ehrlich ungeduldig sagte: »Man kann kein vernünftiges Wort mehr mit euch sprechen. Schon zweimal habe ich euch angeredet und ihr habt mir keine Antwort gegeben.« »Verzeih, liebe Mutter, ich wollte nur Jettchen erklären, wie der Besatz auf diesen Ärmeln angebracht sein muß, gleich sind wir zu Diensten.« »Ich rate euch, euch mit euren Kleidern zu sputen, denn – übermorgen bekommen wir Besuch.« »Besuch!« riefen beide Schwestern zugleich. »Ja, Georg und Emma melden sich eben mit den Kindern an, Emma schreibt, sie hätten so lange nicht Weihnachten mit uns gefeiert und Fritzchen und Konrad möchten gern zu Großmama und den Tanten.« »Die Jungen,« riefen beide Tanten zugleich; »aber, Mutter, sie werden dir im Winter zu viel Unruhe machen.« »Sie sind älter geworden, und die Eltern kommen mit, Minchen, wir wollen uns die Freude nicht verderben, Weihnachten ist nur einmal im Jahr, und Kinder unter dem Christbaum ist noch einmal so hübsch.« »Du hast recht, Mutter, wir wollen uns freuen, besonders wenn wir denken, daß die armen Geschwister jetzt vielleicht in Not sind.« »Freilich sind sie in Not,« sagte die Mutter. »Emma schreibt, das kaufmännische Geschäft hätten sie schon seit längerer Zeit aufgegeben, Georg sei eifrig bemüht, wieder eine Inspektorstelle auf dem Lande zu finden, er habe jetzt eine Aussicht, doch sicher sei es noch nicht.« »Es wird sich wohl, wie vieles andere, zerschlagen, wir werden wohl für die Familie mitsorgen müssen,« meinte Jettchen. »Nun, vorderhand wollen wir schreiben, daß sie uns alle herzlich willkommen sind.« So gab es in allen Wohnungen des Hauses Besuch, die weiblichen Insassen waren eifrig beschäftigt mit Einkaufen, Putzen und Scheuern, mit dem Ordnen der Zimmer u. dgl. m. Auch im zweiten Stock wurde gelüftet, gescheuert und gewirtschaftet, als erwarte man auch dort Gäste. Frau Mabel handhabte den Besen, um die unbewohnten Zimmer von Spinnweben zu reinigen, im Scheuern wurde sie kräftig von einer Frau unterstützt, welche sie sich gedingt hatte. Magda schlüpfte ungesehen von den Ihrigen nach oben. »Frau Mabel, hat der Herr Ihnen geschrieben?« »Freilich,« war die Antwort, »ich habe Befehl, alles aufs schönste herzurichten, der Herr kommt heute abend.« »Ich weiß es,« flüsterte Magda und drückte verstohlen einen Brief, den sie in der Tasche hatte.

Schnee lag auf den Dächern der Großstadt und in den Straßen war ein fröhliches Treiben. Alles lief mit Weihnachtspaketen oder Christbäumen. In den Läden drängten sich die Menschen zusammen, um schöne Sachen auszusuchen für Freunde und Verwandte. Schwerbeladen fuhr der Postwagen durch die Straßen, um überall die Menschen mit Weihnachtskistchen zu erfreuen. Am Bahnhof war ein reger Verkehr. Fröhliche Menschen reisten ab, ebenso fröhliche kamen an. Der Zug, der soeben herangebraust war, schien endlos zu sein; als er hielt, entströmte ihm eine unabsehbare Menge. In einem Abteil zweiter Klasse erhob sich ein älterer in einen Pelz gehüllter Herr und sagte zu dem jüngeren, der ihm gegenüber saß: »Ihre Bekanntschaft ist mir sehr wertvoll geworden, ich werde Ihnen den Dienst, welchen Sie mir heute geleistet haben, nicht so bald vergessen. Wohin lenken Sie Ihre Schritte, wenn ich fragen darf?« »Ich will in die Langendorffer Allee,« versetzte der junge Mann bescheiden. »Eben dahin will ich auch,« sagte der ältere Herr; »ich nehme eine Droschke und Sie begleiten mich.« Der junge Herr machte eine dankende Verbeugung und rief: »So will ich die Droschke wenigstens besorgen.« Aber, o weh! alle Droschken waren besetzt und fuhren davon. Da hielt noch eine, auch sie war schon bestellt; zwei kleine, lebhaft plaudernde Jungen saßen darin mit ihrer Mutter, ein Herr, der eben einsteigen wollte, rief dem Kutscher zu: »Langendorffer Allee 4.« »Dahin wollen wir auch,« sagte der ältere Herr; »ist es nicht möglich, daß wir mitfahren können, der Weg ist so weit?« »Gewiß, gern,« sagte der Vater der Buben, und als er den Bittenden näher ins Auge faßte, rief er: »Eine große Ehre für mich, Herr von Busch, wenn ich Ihnen dienen kann.« Nun sah sich Herr von Busch den Mann auch näher an und sagte erfreut: »Herr Nekel, Sie sind es, wie kommen Sie denn hierher?« »Ich will mit meiner Familie noch einmal zu der Mutter meiner Frau, bevor ich ins Weite ziehe, um die Inspektorstelle auf Ihrem Gut anzunehmen.« Der Vater der Knaben, Herr Georg Nekel, machte Herrn von Busch Platz neben seiner Frau und lud den jüngeren Herrn, der durchaus gehen wollte, ein, mit ihm auf dem Rücksitz vorlieb zu nehmen. Die Buben fanden in der Mitte noch ein bescheidenes Plätzchen. Sie redeten von Weihnachten und von allen zu erwartenden Herrlichkeiten.

»Was wir wohl von Großmama und von Tante Minchen und Jettchen bekommen werden,« rief Fritzchen. »Ich habe mir Soldaten und Kanonen gewünscht, aber richtige Kanonen, die man mit Pulver laden kann, ob Großmutter uns die wohl schenkt?« meinte Konrad. »Und ich habe mir ein Gewehr zum Schießen gewünscht und Trommel und Trompeten; aber wir dürfen nicht solchen Lärm machen, der böse Mann da oben, der haut uns,« ließ sich Fritzchen vernehmen. »Still, Kinder.« mahnte die Mutter, über das Gesicht des Herrn von Busch glitt ein Lächeln des Erkennens. »Ja, Mutter, wenn er nicht so böse wäre, dann solltest du einmal mit uns hinaufkommen, was er alles hat: große Eidechsen und Schildkrötenschalen und Hörner von wilden Ziegen und Muscheln. – Tante Jettchen sagt, er wäre ein alter – du Konrad, was sagte Tante Jettchen noch?« »Ein alter, sonderbarer Kauz.« – »Und so gelb sieht er aus.« »Und so böse ist er.« »Ich wollte, er wäre ausgestorben.« »Konrad und Fritzchen,« sagte die Mutter wieder in ermahnendem Ton, »es ist Weihnachten, ihr müßt alle Menschen liebhaben.« »Aber er hat uns auch nicht lieb, er schlägt uns.« »Stille, Kinder, ich bitte mir Ruhe aus,« sagte der Vater, der sich die ganze Zeit über eifrig mit Herrn von Busch unterhalten hatte über die zu verwaltenden Güter. Der jüngere Herr schien sich sehr zu belustigen; Herr von Busch hatte seinen Hut tief ins Gesicht gedrückt und die Hände auf seinen Stock gestützt.

Der Wagen rasselte durch viele Straßen, über große Plätze, überall gab es erleuchtete Läden mit glänzenden Weihnachtssachen, die den Jungen fortwährend Ausrufe des Entzückens entlockten. Endlich war man in der Langendorffer Allee. »Welche Nummer haben Sie, Herr von Busch?« fragte Herr Nekel. »Auch Nr. 4, wie Sie, ich will in die obere Wohnung.« »Und wir ins Erdgeschoß.« – »Ich beabsichtige in den ersten Stock zu gehen,« versetzte der junge Herr lächelnd. »Sie wollen auch in diesem Hause einkehren, Wohl als Gast?« fragte Herr von Busch verwundert. »Freilich,« war Dr. Wendts Antwort, »ich bin eingeladen worden. Da sind wir!« Beim Herannahen des Wagens sah man, wie sich in allen Stockwerken Lichter bewegten. Tante Minchen stand in der Haustür mit der Lampe und rief: »Seid ihr glücklich da?« Ein älterer Herr entstieg dem Wagen, ihr entfuhr ein leiser Schrei des Erstaunens, der alte Herr lüftete seinen großen Hut; sie sagte: »Verzeihen Sie, ich glaubte –« »Ihre Angehörigen sind auch im Wagen –« damit verschwand er und enteilte nach oben. Gerade als er die erste Treppe erreicht hatte, öffnete ein liebliches, junges Mädchen in Schwarz die Türe. Sie wollte sich eben enttäuscht zurückziehen, als eilige Schritte die Treppe heraufkamen. Das junge Mädchen rief: »Fritz,« er: »Irene,« Herr von Busch blieb auf der zweiten Treppe stehen und hörte die zärtliche Begrüßung.

Kopfschüttelnd ging er die Treppe hinauf und eilte in seine Wohnung. Sie war hell erleuchtet, freundlich und warm. Frau Mabel stand in der Eingangstür und bewillkommnete ihn. Sie ging voran und öffnete die Tür seins Lieblingszimmers. Dort stand Magda in tiefer Bewegung. Sie eilte ihm entgegen mit herzlichem Gruß und Kuß. »Lieber, lieber Onkel, herzlich willkommen. Alles ist vorbereitet; die gute Großmama ahnt nicht, daß du noch lebst; aber sie hat mir gesagt, daß sie dich sehr, sehr lieb hat, und daß sie alles, alles darum gegeben hätte, wenn sie dich noch einmal hätte sehen und segnen können.« »Und Irene?« Magda errötete. Sie hatte die Begrüßung unten gehört und war so froh, daß sie nicht nötig hatte, dabei zu sein. Niemand ahnte, wie schwer es ihr wurde, das Brautpaar das erstemal zusammenzusehen. »Irene ist verlobt, lieber Onkel, ich schrieb es dir noch nicht; aber Dr. Wendt, ihr Verlobter, ist ein edler, guter Mensch, dabei tüchtig und, sehr gelehrt.« »Ich bin mit ihm gefahren,« sagte der Onkel, »ich habe ihn kennen lernen, ohne zu ahnen, daß er –« »Dein Schwiegersohn ist,« ergänzte Magda. »Wann kann ich mein Töchterchen sehen?« »Sie ist noch nicht vorbereitet, lieber Onkel; aber dazu gehört ja nicht viel Zeit. Die Eltern denken, daß ich jetzt in der Stadt bin und Einkäufe mache, ich muß aber bald hinunter, damit sie nichts merken, da doch nun einmal alles eine Weihnachtsüberraschung sein soll. Irenen wollte ich es nun sagen, daß sie noch einen Vater hat, willst du, so führe ich sie dir noch diesen Abend zu. Dann mußt du aber gleich ein gutes Werk tun und ihren Verlobten bei dir aufnehmen. Wir haben keinen Platz mehr, Vater wollte ihn im Gasthof schlafen lassen.« »Ich habe Zimmer genug, sage Frau Mabel, das blaue Zimmer instandzusetzen. Wie geht es meiner Mutter?« »Sie hat sich hier schon sehr erholt, Luischen und die Brüder sind bei ihr, sie scheint sich wohl bei uns zu fühlen.« »Ich danke dir, Magda, daß du alles so treu besorgt hast, was wäre ich ohne deine Hilfe?« »Meine Freude, dir dienen zu können, ist größer als du ahnst; ich gedenke meiner verstorbenen Mutter, die dich so lieb hatte.« Er sah sie bewegt an, wie traurig war es ihm, seine geliebte Schwester nicht mehr am Leben zu treffen.

Nachdem noch wegen des morgenden Tages alles besprochen war, eilte Magda hinunter und betrat nicht ohne Herzklopfen das Familienzimmer. Da saßen die Eltern mit Irene und Dr. Wendt. Das Brautpaar erhob sich bei ihrem Eintritt. Irene flog auf Magda zu und rief: »Jetzt weiß ich, ich habe es dir zu danken, daß Fritz gekommen ist.« Dr. Wendt streckte ihr beide Hände entgegen und sagte ihr seinen herzlichen Dank, daß sie ihm diese Weihnachtsfreude bereitet habe. Magda errötete und meinte, es sei ihr eine Freude, andere glücklich zu sehen. Dann wandte sie sich an die Eltern mit triumphierendem Lächeln: »Herr Dr. Wendt kann oben im zweiten Stock wohnen.« »Ist der Herr wieder nach Hause gekommen?« fragte der Vater. »Ja, er kam gleichzeitig mit Dr. Wendt; ich nahm mir den Mut, ihn zu fragen, ob Herr Doktor in einem seiner unbewohnten Zimmer schlafen könne.« »Du hast mehr Mut als wir,« sagte der Vater und sah sie staunend an. »Der Herr ist nicht so böse, wie er scheint,« meinte Magda. »Dazu kommt, daß er schon unterwegs die Bekanntschaft von Dr. Wendt gemacht hat.« »Ich bin eine Strecke mit ihm gefahren und konnte ihm einen geringen Dienst leisten. Wir wollten beide denselben Wagen besteigen, da entfiel ihm eine Brieftasche, die ein dastehendes Weib schnell an sich riß, worauf sie das Weite suchte. Ich hatte es glücklicherweise gesehen, lief ihr nach und entriß ihr die Beute. Der Herr hatte seinen Verlust bemerkt und suchte unruhig nach seinem verlorenen Gut. Er sagte, er sei mir zu großem Dank verpflichtet, die Brieftasche berge Papiere, die für ihn von größter Wichtigkeit seien. Wir blieben zusammen und haben uns sehr gut unterhalten; also, wenn ich oben wohnen soll, komme ich nicht zu einem Unbekannten, morgen stelle ich ihm mein Bräutchen vor.«

»Liebes Kind,« sagte die Forstmeisterin besorgt zu Magda, »du siehst so heiß, so erregt aus, du wirst doch nicht krank?« »Nein, liebe Mutter,« erwiderte Magda, ihre Hände an die glühenden Wangen legend, »ich will jetzt Großmutter und die Kinder zum Abendbrot rufen.« Das fleißige Luischen hatte schon mit Ida den Tisch gedeckt. Magda küßte ihr Schwesterchen und sagte: »Sei mir nicht böse, wenn ich diese Tage wenig helfe, nachher wird alles anders, es gibt große Überraschungen auf Weihnachten.« Sie gingen zusammen zur Großmutter, die traulich mit den Knaben bei der Lampe saß. Sie fertigten noch Weihnachtsarbeiten für die Eltern, Großmama strickte und hörte ihrem fröhlichen Geplauder zu. Sie streckte Magda die Hand entgegen. »Mein liebes Kind,« sagte sie, »vor vielen, vielen Jahren saßen deine Mutter und ihr Bruder auch mit mir an einem Tisch in Goldenau, wie glücklich war ich mit ihnen.« Es war Magda, als müßte sie sagen: »Großmutter, dein Sohn ist mit dir unter einem Dach.« Aber nur noch einen Tag, dann würde alles offenbar. Jetzt galt es, zunächst Irene vorzubereiten. Es war nach dem Abendessen. Irene trug wie gewöhnlich die übriggebliebenen Speisen mit Magda ab, Dr. Wendt war mit Forstmeisters ins Eckzimmer gegangen, da umschlang Magda Irene, zog sie in ihr Zimmer und fragte sie, ob sie wohl jetzt mit ihr nach oben gehen möge, es sei daselbst jemand, der sie sehr nahe angehe, der sie zu sehen wünsche. Irene machte ein bestürztes Gesicht, sie kam von einem Staunen ins andere, als Magda ihr enthüllte, daß sie noch einen Vater habe, der sie zärtlich liebe, der es nicht erwarten könne, bis er sie in seine Arme geschlossen habe. Es war ja Irene nicht verborgen geblieben, daß noch eine Möglichkeit vorhanden sei, daß der Vater noch am Leben sei; aber die Wahrscheinlichkeit, ihn aufzufinden, schien ihr längst ausgeschlossen. Nun plötzlich war er ihr so nahe, daß sie nur einige Schritte zu gehen brauchte, um ihn zu sehen. Sie zitterte vor Erregung und Magda sagte: »Wenn es dich zu sehr aufregt, wollen wir bis morgen warten; aber dann ist heiliger Abend.« »Nein, nein,« sagte Irene hastig; »wenn du mich begleiten willst, liebe Magda, gehe ich gleich. Soll ich Fritz davon sagen?« »Dein Vater möchte dich wohl erst gern allein sehen. Nimm deine goldene Kette und dann komm, damit es niemand merkt.«

Die beiden jungen Mädchen eilten nach oben, die eine fröhlich und wohlgemut, die andere zaghaft und beklommen. Magda führte Irene in des Onkels Gemach. Herr von Busch erhob sich und als Magda sagte: »Hier, lieber Onkel, bringe ich dir deine verloren geglaubte Tochter,« da breitete er die Arme aus und rief: »Meine Irene, mein Kind.« Der Ton war ein so inniger, väterlicher, der Zug des Kindes zum Vater war da, Irene flog in die Arme des Mannes; sie hatte ein Heim gefunden, einen Vater, der sie schützte und segnete und sie aus allen Kümmernissen und Sorgen errettete. Magda verließ still das Zimmer und ließ Vater und Tochter allein. Als sie hinunterkam, stand Dr. Wendt auf, um sich zu verabschieden. »Wenn ich da oben wohnen soll, möchte ich den Herrn nicht allzulange warten lassen. Wo ist Irene?« »Kommen Sie mit,« sagte Magda, »Sie sollen sie suchen.« Als Dr. Wendt im Flur stand, flüsterte sie leise: »Gehen Sie nach oben, dort finden Sie Irene bei – ihrem Vater.«

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