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5. Die Heimkehr.

»Guten Morgen, Fräulein Minchen,« erklang eine helle, jugendfrische Stimme, und ein schwarzäugiges Mägdlein mit dickem, schwarzem Zopf trat aus der Haustür und nickte Minchen zu, die in ihrem kleinen Garten die Wege säuberte, was sie jeden Morgen zu tun pflegte. »Wissen Sie schon, daß meine Schwester heute kommt? O, wie freue ich mich. Denken Sie nur, eine Schwester, wie reizend das sein muß. Ich hatte nur die Brüder.«

»Ich weiß, was man an einer Schwester haben kann,« versetzte Minchen. »Wenn ich mein Jettchen nicht gehabt hätte, und wenn ich sie jetzt nicht hätte, ich wüßte gar nicht, wie ich das Leben ohne sie ertragen sollte.« »Glauben Sie wohl, daß meine Schwester und ich uns auch so lieben werden?« fragte Luischen. Minchen machte ein etwas bedenkliches Gesicht. »Mit der Zeit – ja, – aber ihr seid immer getrennt gewesen und kennt euch noch gar nicht. Auch bist du um vieles jünger, ihr werdet euch erst miteinander einleben müssen.« – »Das wird schnell gehen,« meinte Luischen zuversichtlich, »wenn's doch erst Abend wäre!« »Wann kommt denn die Fräulein Schwester?« »Mit dem letzten Zuge, wir gehen alle an die Bahn, um sie abzuholen. Vater wollte Magda eigentlich von Goldenau abholen, aber es hat sich eine Reisebegleitung für sie gefunden. Doch ich habe noch viel zu tun, bis Magda kommt, sie soll ihr kleines Zimmer recht hübsch finden.« »Wenn ihr Blumen haben wollt, so pflücke dir, was sich bei uns findet,« rief Minchen dem davoneilenden Luischen nach, die ihr ein freundliches »danke« von der Treppe zurückgab.

Später kam die Forstmeisterin selbst, um sich von den freundlichen Leuten ein Sträußchen zu erbitten. »Nächstes Jahr,« sagte sie zu Frau Ehrlich, welche mit ihr gegangen war und ihr alles Blühende mit größter Bereitwilligkeit abgeschnitten hatte, »nächstes Jahr, hoffe ich, haben wir selbst Blumen. Jetzt sieht es hinten im Garten wüst aus, aber mein Mann ist ein großer Blumenfreund, der wird sich des Gartens annehmen, so viel sein Arm ihm dies erlaubt. – Noch eine Frage, Frau Ehrlich. Herr Radke, der Wirt, sagte uns noch, das zweite Stockwerk sei bewohnt, aber uns allen ist die unheimliche Ruhe, die dort oben herrscht, aufgefallen, nur abends hört man bisweilen jemand mit dröhnenden Schritten auf- und abgehen, auch wurde einige Male eine Tür recht heftig zugeschlagen.«

Die Forstmeisterin, welche gerade mit Frau Ehrlich so stand, daß sie die Front des Hauses vor sich hatte, sah, während sie sprach, in die Höhe und sagte verwundert: »Es hat den Anschein, als seien die Bewohner verreist, alle Vorhänge sind heruntergelassen, sehen Sie doch.« Frau Ehrlich lächelte geheimnisvoll und machte eine eigentümliche Handbewegung, als wollte sie sagen: »Nur stille, da steckt etwas dahinter.« Dann legte sie ihren Mund an der Forstmeisterin Ohr und flüsterte leise: »Er hat das ganze große Stockwerk inne, wohnt aber nur nach hinten heraus, dort werden wenigstens die Vorhänge aufgezogen und zuweilen die Fenster geöffnet.« »Wer wohnt denn dort?« fragte die Forstmeisterin gespannt. »Wenn es zu ergründen wäre, hätte ich es gewiß schon heraus, denn ich bin etwas neugierig,« versetzte treuherzig die alte Dame. »Die Wirtin hat mir nur gesagt, ein Herr wohne oben, ob er aber alt oder jung ist, vornehm oder gering, das weiß kein Mensch. Er zeigt sich nie, und wenn er ausgeht, weiß er es stets so einzurichten, daß gerade niemand von uns da ist. Die alte Haushälterin muß erst spionieren, ob das Feld leer ist. Einmal hätte ich ihn beinahe gesehen, aber sein Angesicht war unter einem so riesengroßen Hut verborgen, daß man nichts davon erspähen konnte. Es soll ja große Sonderlinge in der Welt geben, zu diesen gehört er unzweifelhaft.« »Das ist ja sehr merkwürdig,« sagte die Forstmeisterin und ging, nachdem sie herzlich für die Blumen gedankt hatte, ins Haus.

Sie setzte den Strauß in Magdas Zimmer, wo Luischen noch eben dies und jenes ordnete und dann die Mutter auf alle Verschönerungen aufmerksam machte. Dann ging sie mit der Mutter durch alle Zimmer der großen, freundlichen Wohnung; alles war in schönster Ordnung, im Eßzimmer putzte Ida, das Dienstmädchen, noch die Türschlösser. »Nun, mein Luischen, wie gefällt es dir in der Stadt?« fragte die Mutter ihr Töchterchen, das vertraulich an der Mutter Arm die Räume durchschritt. »Im Walde war's schöner,« sagte diese, sich anschmiegend, »aber ohne Euch möchte ich doch nicht dort sein. Es ist nur gut, daß wir nicht mitten in der Stadt wohnen, in dem Häusergewirre. Aber jetzt muß ich mitten hinein, es ist Schulzeit.« Das Kind sprang fröhlich davon, die Mutter sah ihr liebevoll nach. Wie wenig Mühe hatte ihr die Erziehung der Kleinen bis jetzt gemacht! Die Älteste kam nun heute, vollständig erwachsen, ins Haus, wie würde sie sich zu ihr stellen mit allen Vorurteilen, die ihr von großmütterlicher Seite eingepflanzt waren?

Am Nachmittag war der Forstmeister mit den beiden Knaben verschwunden. »Wo mag der Vater sein?« fragte die Forstmeisterin Luischen. Diese konnte keinen Bescheid geben, aber Ida berichtete, der Herr Forstmeister sei mit Otto und Rudolf in die Stadt gegangen, um »Empfangsfeierlichkeiten« zu holen.

Die Forstmeisterin, welche auf dem Vorsaal beschäftigt war, hatte ganz das Rollen eines Wagens überhört, noch weniger darauf geachtet, daß derselbe schon einige Minuten vor dem Hause hielt. Luischen, die zufällig am Fenster stand, rief plötzlich: »Mutter, ein Wagen hält vor der Tür.« In demselben Augenblick ertönte die Glocke im Vorhaus und als die Mutter öffnete, sah sie vor sich eine schlanke, junge Dame in vornehmer Reisekleidung. »Wohnt Herr Forstmeister Binder hier?« fragte das junge Mädchen, das »Herr« betonend. Die kühle Zurückhaltung der Dame und das Fragen nach ihrem Mann berührte die Forstmeisterin nicht angenehm. Sie antwortete deshalb in demselben kühlen Ton: »Gewiß wohnt der Forstmeister Binder hier, aber mein Mann ist nicht zu Hause, wünschen Sie etwas von mir?« Da zuckte es dem jungen Mädchen um die Mundwinkel, in ihre Augen traten Tränen, als sie sagte: »Ich hoffte, man würde mich vom Bahnhof abholen.« – Jetzt ging der Forstmeisterin ein Licht auf. Sollte diese vornehme, junge Dame die erwartete Magda – ihr Kind – sein? – »Liebes Kind, kommen Sie doch herein, sind Sie – bist du – Magda, unser Kind?«

»Ja, ich bin Magda Binder. Wir haben den Schnellzug benutzt und sind einige Stunden früher eingetroffen. Frau Laube wollte es Vater melden, deshalb erwartete ich ihn am Bahnhof, da ich hier fremd bin.« »Du armes Kind,« sagte nun Frau Binder mit mütterlicher Zärtlichkeit, »komm herein, das trifft sich ja ganz unglücklich. Eine Nachricht von Frau Laube haben wir nicht bekommen. Die ganze Familie hatte sich vorgenommen, dich heute abend abzuholen und nun kommst du einsam und fremd hier an, wie leid mir das tut!« Mit diesen Worten streichelte die Mutter Magdas Wangen und trocknete ihr die Tränen von den Augen.

Luischen hatte die ganze Zeit in großem Erstaunen dagestanden und die seine, vornehme Erscheinung gleichsam mit den Augen verschlungen. »O, welch eine schöne Schwester,« stand auf ihrem Gesicht geschrieben, sie sprach aber kein Wort. Magda sah unbefriedigt aus, sie hatte sich das Ankommen ganz anders gedacht. Die Mutter war auch nicht zufrieden; sie hatte selbst ganz anders sein wollen beim Empfang dieser ihrer Tochter, nun war die Ankunft so schnell, so unvorbereitet erfolgt. Wenn nur erst der Vater da wäre! Jetzt ließen sich Tritte vernehmen, da kam er. Die Forstmeisterin ging ihm entgegen. »Mutter, laß uns in Ruhe, wir haben wichtiges vor. Otto, zeige der Mutter, was wir eingekauft haben. Ein großes Transparent mit »Willkommen« darin, das soll an die Eingangstür angebracht werden und erleuchtet zum Empfang. Ihr Jungen, holt die Trittleiter, Ihr könnt es da oben befestigen.« Die beiden Knaben stürmten davon, während die Forstmeisterin schon zweimal den Gatten am Rock gezupft hatte und gesagt: »Ist alles nicht mehr nötig, die Tochter ist schon da.« Der Forstmeister sah so ungläubig und verblüfft aus, daß die Gattin lachen mußte. »Komm nur,« sagte sie, »ich glaube, dann erst wird es dem armen Kinde heimisch.« Er betrat das Zimmer gerade in dem Augenblick, da Luischen der weinenden Magda die Hand reichte und sagte: »Ich will dich recht lieb haben.«

»Unsere Magda kommt ohne Sang und Klang ins Haus, während wir noch mit großartigen Empfangsfeierlichkeiten zu tun haben,« rief der Forstmeister und eilte auf Magda zu, die sich beim Eintritt des Vaters schnell erhob und ihm entgegeneilte. Er begrüßte sie zärtlich und sagte bewegt: »Gott segne deinen Eingang ins Elternhaus, mein teures Kind.« Dann zog er seine Gattin an sich heran und sprach: »Dir übergebe ich das Vermächtnis meiner ersten Frau, bei dir ist ihr Kind in den besten Händen.« Und zu Magda gewandt: »Dies ist die treueste und selbstloseste Mutter, die es gibt, Magda, du wirst dich unter ihrer Leitung glücklich und heimisch fühlen.« – Ein großes Gepolter ließ sich draußen hören. »Die Jungen kommen mit der Leiter,« rief Luischen. Sie öffnete die Tür und sagte: »Laßt nur die Leiter weg, die Schwester ist schon da.« »Schon da?« kam es aus beider Mund in gedehntem Ton, »dann ist ja aller Spaß vorbei.« »Schnell herein, Jungens, wenn ihr eure große Schwester sehen wollt,« rief der Vater. Sie schoben sich vorwärts, sahen aber gar nicht aus, als ob sie hocherfreut wären. »Hier ist Otto, der älteste, und dies ist sein jüngerer Bruder Rudolf.« »Was habt ihr zu murren?« »Er sagt,« hob Otto an, »es wäre greulich, daß sie schon da wäre, nun wär's mit dem Abholen vom Bahnhof vorbei und das sei doch der Hauptspaß gewesen.« »Der Hauptspaß ist, daß wir unsere Magda hier haben und daß sie für immer bei uns bleibt. Gebt ihr die Hand und heißt sie willkommen.« Die Jungen drehten verlegen an ihren Jackenknöpfen und reichten der fremden Schwester die Hand. »Nun, Magda, ihr werdet gute Kameraden, wie?« Magda nickte stumm, es kam ihr alles wie ein Traum vor. Der Kopf schwirrte von der weiten Reise, von allen neuen Eindrücken. Die Mutter konnte das gut begreifen und schlug deshalb vor, ins Eßzimmer zu gehen und dort gemeinsam den Kaffee zu trinken, in der Hoffnung, es werde Magda dann heimischer werden.

Luischen hatte schon vorher, auf einen Wink der Mutter, das Zimmer verlassen und dann mit Idas Hilfe den Kaffeetisch gedeckt, auch den Kuchen, welcher eigentlich für den Abend bestimmt war, herbeigeholt. Magda mußte nun von der Reise erzählen und wurde allmählich gesprächiger. Es war ihr nur alles so neu, so sonderbar, wenngleich die Liebe, mit welcher die Ihrigen sie umgaben, ihr wohl tat. Da sie abgespannt und müde war, begab sie sich früh zur Ruhe. Die Mutter führte sie selbst in ihr niedliches Zimmer; daneben war ein kleines, das den beiden Töchtern zum Schlafzimmer dienen sollte. Luischen, die der Mutter und Schwester gefolgt war, weil sie gespannt war auf die Überraschung der Schwester, wenn sie das in ihren Augen wunderschöne Wohnzimmer und das mit peinlicher Sauberkeit hergerichtete Schlafzimmer sehen würde, war enttäuscht, als es anscheinend auf Magda gar keinen Eindruck machte. Sie tröstete sich damit, die Schwester sei müde, morgen würde sie gewiß staunen über die schönen Blumen, den neuen Sofabezug, die frischen Gardinen und besonders über eine Vase, welche die kleinen Brüder von ihrem Taschengeld gekauft hatten, um der Schwester eine Freude zu machen.

Am andern Morgen erwachte Magda nach einem tiefen erquickenden Schlaf. Sie fühlte sich wie neu geboren und sah verwundert um sich. Das Bett ihr gegenüber war nicht nur leer, sondern schon gemacht und mit einer weißen Decke zugedeckt. Wie sonderbar, ihre kleine Schwester hatte doch bei ihr geschlafen. War sie aufgestanden, ohne daß sie etwas gemerkt hatte, wer hatte denn ihr Bett schon in Ordnung gebracht? Sie begann sich anzukleiden, und nachdem ihre Toilette beendet war, betrat sie ihr Wohnzimmer und schaute neugierig zum Fenster hinaus. Da war schon jemand fleißig im Vorgarten beschäftigt, es war vielleicht eine Bedienstete der Eltern? Aber die Eltern waren, so viel sie wußte, nicht reich, die Großmutter hatte es ihr oft gesagt, so wohnten sie gewiß gar nicht einmal allein im Hause, sie konnte sich noch kein rechtes Bild von der neuen Heimat machen. Die Allee vor dem Hause war hübsch und schien sehr belebt. Wagen fuhren hin und her, Menschen liefen geschäftig vorbei, alles eilte der inneren Stadt zu. Während Magda noch am Fenster stand, trat die Mutter ein. Eine stattliche Erscheinung im einfachen, grauen Morgenkleid und einem zierlichen Morgenhäubchen. Sie begrüßte Magda herzlich, freute sich, daß sie so frisch aussah und meinte, der Vater könne es kaum erwarten, seine älteste Tochter zu sehen. Die Geschwister seien längst zur Schule, fuhr sie fort, Luischen habe sich gefreut, daß es ihr gelungen, ganz leise aufzustehen, um die Schwester nicht zu wecken. »Heute,« sagte die Mutter freundlich, »wollten wir dich ausschlafen lassen, sonst trinken wir den Kaffee gemeinsam, und du wirst dich gerne in die Hausordnung fügen.«

Nun ging es zum Vater, der gar zu froh und glücklich war, sein Kind wieder daheim zu haben. Während die Mutter im Haushalt zu tun hatte, plauderte der Vater mit seiner lieben ältesten Tochter, sagte ihr, daß sie ihrer seligen Mutter sprechend ähnlich geworden sei, und fragte, ob sie sich ihrer noch erinnere. Dies bejahte Magda; sie sah vor sich das alte Forsthaus, umgeben von den hohen Waldbäumen, und manche Erinnerungen wurden von dem Vater in ihr geweckt. Er erzählte ihr, wie schwer es ihnen allen geworden, das Waldhaus zu verlassen, und wie gern er gesehen hätte, daß Magda in diese ihre alte Heimat zurückgekehrt wäre. Doch er hoffe, auch hier solle es ihr wohl sein, Mutter und Geschwister werde sie bald lieb gewinnen. Dadurch, daß der Vater die Vergangenheit berührt hatte, tauchte alles längst Entschwundene wieder auf: die leidende Mutter, das elterliche Haus, der Garten mit der grünen Tannenhecke, das Dorf mit seinen Bewohnern. War es ein Wunder, daß plötzlich der alte Spielgefährte, Fritz Wendt, im Geiste vor ihr stand? Sie fragte ihren Vater, was aus ihm geworden sei. Der Vater antwortete, daß Fritz in die Stadt gekommen sei und sich durch Fleiß und Tüchtigkeit ausgezeichnet habe. Später habe er eine Universität bezogen und die Mutter sei mit ihm gegangen. Was er studiert und was überhaupt aus ihm geworden, könne er nicht sagen, er habe seit mehreren Jahren nichts von ihm gehört. Magda wurde, je länger sie mit dem Vater zusammen war, immer munterer und zutraulicher. Die Mutter hatte sich absichtlich entfernt, weil sie merkte, daß Magda in ihrer Gegenwart noch etwas Fremdes und Steifes hatte.

Luischen und die Knaben konnten kaum das Ende der Schule erwarten, um die anziehende Persönlichkeit, welche die Schwester noch für sie war, wieder in Augenschein zu nehmen. Luischen hing immer bewundernd an ihren Blicken, während Otto und Rudolf sich von der Seite drückten und der Kleine sogar von »der Dame« sprach. Der Vater, der dies merkte, rief: »Otto und Rudolf, zeigt eurer Schwester einmal den Garten.« Magda stand auf, nahm Rudolf freundlich bei der Hand, Otto ging voraus und zeige den Weg, verständig und belehrend. Der Kleine sah immer respektvoll zu Magda auf, als sie im Garten waren, flüsterte er plötzlich: »Sie sind aber ein schönes Fräulein.« Magda mußte herzlich lachen. »Jetzt nennst du mich nicht mehr ›Fräulein‹, sondern Magda, ich bin deine Schwester und will mit dir spielen.« Damit entschlüpfte sie ihm, lief leichtfüßig wie ein junges Reh durch den Garten und rief fröhlich: »Hascht mich, ihr Jungen, aber schnell.« Da war der Bann gebrochen. Fort ging es über die wüsten Rasenplätze und durch die Wege, bis sie, alle erhitzt, eine Ruhepause machten, um dann wieder das Spiel zu beginnen. Nun riefen die Jungen Magda und immer wieder Magda, die Freundschaft war geschlossen.

Im zweiten Stock aber wurde leise und vorsichtig ein Fenster geöffnet, und ein Antlitz, so gelb fast wie eine Zitrone, wurde sichtbar. Gespannt folgte es den Bewegungen des jungen Mädchens, und als die Brüder ihren Namen nannten, zuckte die Gestalt da oben am Fenster zusammen. Jetzt bemerkte Magda das geöffnete Fenster und sah hinauf; das Fenster wurde augenblicklich geschlossen und das Gesicht war verschwunden. »Wer wohnt dort oben im zweiten Stock?« fragte Magda. »Jemand, der nie zu sehen ist,« rief Otto. »Ich habe aber ein gelbes Gesicht gesehen.« »Wo, wo? an welchem Fenster?« riefen die Jungen gespannt und sahen nach dem zweiten Stock. »Dort, wo jetzt die Gardine zugezogen wird. Aber seht nicht mehr dahin, es wird der Dame unangenehm sein.« »Eine Dame!« kicherten die Jungen, »es ist gar keine Dame, es ist ein Herr!« »Dann wollen wir erst recht nicht hinaufsehen,« sagte Magda, »laßt uns nun wieder zum Vater gehen, nun kennen wir uns.« »Ja, jetzt kennen wir uns,« sagte Otto, »du bist ein schöner Spielkamerad.« Mit diesen Worten hängte er sich an seiner Schwester Arm, ganz stolz, eine schöne Dame als Schwester zu haben. Rudolf nahm vertraulich den andern Arm, so betraten sie das Haus.

Hier stand Luischen mit Fräulein Minchen und Jettchen in eifrigem Gespräch. »Jetzt kommt meine Schwester,« sagte sie. »O, die Fräulein Schwester,« sagte Minchen, und Jettchen fügte mit einer Verbeugung hinzu: »Wir sind nämlich die Hausgenossen und hoffen mit der Familie Binder recht freundschaftlich zu verkehren.« Magda sah die Damen prüfend an und verneigte sich ein wenig. Luischen sprach dann von einem Kleide, das Fräulein Jettchen für sie zu machen übernommen hatte, und nachdem sie sich verabschiedet, fragte Magda: »Sind das Schneiderinnen?« »Eigentlich nicht,« versetzte Luischen. »Aber sie verstehen das Kleidermachen, du mußt die Mutter nach ihnen fragen.« »Hier wohnen wohl viele verschiedene Leute mit euch im Hause?« »Ja, an der andern Seite unten wohnt der Wirt mit seiner Frau.« »Bei euch teilen sich wohl nicht so viele in ein Haus,« fragte Otto. »Ich wohnte mit der Großmutter in einem Schloß und wir hatten viel Dienerschaft,« sagte Magda mit stolzer Genugtuung. »O, in einem Schloß,« rief Otto. »In einem wirklichen Schloß,« flüsterte der kleine Rudolf leise und sah wieder mit unverhohlenem Erstaunen an seiner Schwester empor. Sie hatten die Treppe erstiegen, oben stand die Mutter und sagte freundlich: »Ich hoffe, wir werden hier in unserer Wohnung ebenso glücklich miteinander sein, als Magda mit ihrer Großmutter im Schloß.«

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