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1. Der Forsthof.

Es war Mitte April. Den kalten Nordost- und Ostwinden, die wochenlang das Land durchfegt hatten, war ein warmer Südwind gefolgt. Der Regen, den er mit sich gebracht, hatte aufgehört, und Sonnenschein und Vogelsang, Keimen und Sprießen an Sträuchern und Bäumen kündigte den Frühling an. In dem Dorf Lindenheim, das seinen Namen von der großen Lindenallee haben mochte, welche links von der Dorfstraße in das von einem schönen Parke umgebene Schloß führte, läuteten die Glocken den Palmsonntag ein. Etwas abseits vom Dorf, da, wo der Wald anfing, lag der Forsthof. Das stattliche Wohnhaus mit seinen grünen Fensterläden und dem großen Hirschgeweih über der Haustür war von der Landstraße durch eine immergrüne, kurzbeschnittene Tannenhecke getrennt. Durch das offene Tor, welches die Hecke teilte, sah man in den Garten, der das Forsthaus vorn umgab. Es blühten Narzissen und Osterlilien darin, Veilchen und buntfarbige Aurikel.

»Nehmt euch, so viel ihr mögt,« sagte ein kleines, etwa sechsjähriges Mädchen zu zwei größeren Dorfmädchen, die morgen konfirmiert werden sollten. »Mutter hat's erlaubt, sie sagt: sie freut sich, wenn der Altar der Kirche mit unsern Blumen geschmückt werden soll.« – »Nun sind es genug,« sagte das größte von den Mädchen.

»Da kommen Marie und Christine, seht nur, wie reich beladen sie sind.« Die erwähnten Mädchen kamen vom Walde her mit großen Sträußen von Anemonen und Himmelsschlüsseln; die Kinder legten die im Forstgarten gepflückten Blumen in einen Korb, verabschiedeten sich dankend und pilgerten dem Dorfe zu, um das Kirchlein, wie es hier Sitte war, zum morgenden Tage festlich zu schmücken.

Magda, so hieß des Forstmeisters Töchterlein, blieb am Tore stehen und sah ihnen sehnsüchtig nach. Als sie schon lange verschwunden waren, stand die Kleine noch immer wartend da. Jetzt verklärte sich ihr Gesicht, denn dort vom Walde her ertönte ein Pfeifen und Flöten, das von einem Jungen herrührte, der spornstreichs auf die Kleine zugerannt kam. »Nun sollst du aber sehen, Magda, was ich dir für eine wunderschöne Flöte gemacht habe,« rief er schon von weitem. Dazwischen flötete er wieder, Magda aber lief auf ihn zu, nahm ihm die Flöte aus der Hand und versuchte auch, dem Instrument Töne zu entlocken, was herrlich gelang. Fritz zog noch eine Flöte aus der Tasche, und so flöteten die Kinder fröhlich und wohlgemut in den warmen Frühlingstag hinein, immer gegen die Glocken an, die noch läuteten.

»Du, morgen zeige ich dir die Weide, von der ich das Holz zu den Flöten genommen habe. Du kommst mit mir, ich mache noch mehr, damit wir das ganze Jahr zu flöten haben.« – »Morgen ist Palmsonntag, da geh' ich mit meinem Vater in die Kirche, wenn der Herr Pfarrer die Kinder konfirmiert.« – »In zwei Jahren werd' ich auch eingesegnet,« sagte der Junge, »und dann – geht's in die weite Welt.« »Dann willst du wohl die Gänse im Nachbardorf hüten?« fragte die Kleine. »Gänse hüten? meinst du, daß ich mein Leben lang Gänse hüten will? Wozu gäbe mir dann der Herr Pfarrer die Privatstunden? Der Herr Lehrer hat zu meiner Mutter gesagt, zum Gänsehüten sei ich zu gut, wenn nur das Geld da wäre, müßte ich studieren.« »Wenn ich doch reich wäre,« sagte Magda mit einem tiefen Seufzer, »dann gäbe ich dir mein Geld und es könnte etwas Rechtes aus dir werden.« »Pah,« sagte Fritz stolz, »ich kann mir schon selbst forthelfen,« dabei warf er sich in die Brust und fuhr fort: »Sollst einmal sehen, was in zehn Jahren aus mir geworden ist.« »Was denn wohl?« fragte Magda neugierig. »Ein gelehrter Herr, wie der Herr Pfarrer,« war die Antwort. Ein helles Lachen ertönte aus Magdas Munde. »O,« sagte sie, »das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Du dummes Ding,« war die Antwort, »denkst, wir armen Leute können nicht auch gelehrt werden. Pah« – er warf die Flöte zur Erde, steckte beide Hände in die Hosentaschen und zog sie in die Breite. »Geh nur, ich mach' dir keine Flöten mehr, du hast mich ausgelacht, ich mag nichts mehr mit dir zu tun haben.« –

Das Gesicht der Kleinen wurde glühend rot. Eh der Junge sich's versah, war sie auf ihn zugesprungen und versetzte ihm einen Schlag mitten ins Gesicht. Darauf lief sie wie der Wind davon, rannte durch das Tor, war in zwei Sätzen im Haus und riß stürmisch die Tür auf, welche in das große vordere Zimmer führte.

»Gemach, gemach,« sagte ein großer, kräftig gebauter Herr in Jägeruniform. »Magda, du weißt doch, daß Mutter« – Magda erschrak sichtlich. »Ich dachte wirklich nicht daran,« sagte sie, die Augen traurig zu ihrem Vater erhebend. »Du mußt daran denken,« sagte dieser ernst und verließ das Zimmer. Magda näherte sich auf Fußspitzen dem Sofa, auf dem eine blasse, in Decken eingehüllte Dame lag. Ihr Antlitz trug Spuren langen Leidens, ihr kurzer, trockener Husten verkündete die Art der Krankheit, die eingefallenen Wangen, sowie die abgemagerten Hände zeigten, daß sie in das letzte Stadium getreten sei, daß eine baldige Auflösung zu erwarten stand. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas mit Himmelsschlüsseln; ein aufgeschlagenes Neues Testament lag daneben, ihr Gatte hatte ihr eben die Worte gelesen: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.«

Vorher hatten die beiden eine lange, ernste Unterredung gehabt. Magdas Mutter fühlte, daß ihres Bleibens hier nicht mehr lange sein würde. Es lag ihr vieles schwer auf; was ihr aber das Scheiden am schwersten machte, war ihr geliebtes, einziges Kind. »Versprich mir,« hatte sie zu dem traurigen Gatten gesagt, »daß du Magda zu meiner Mutter gibst, sie wird sie gut erziehen. Überlasse sie nicht fremden Händen. Du selbst hast einen Beruf, der dich meistens vom Hause fern hält, du kannst dich nicht viel um sie kümmern, und meiner Mutter ist es zu gönnen, daß sie ein liebendes Wesen um sich hat, nach allem Schweren, was sie erlebt.« »Soll ich denn euch beide verlieren?« sagte der Gatte schmerzbewegt.

»Du verlierst Magda nicht, sie wird dir nur erzogen, damit sie später deine Stütze sein kann.« »Aber meinst du nicht, meine teure Magdalene, daß es ihr schaden wird, bei der Großmutter in Üppigkeit und Wohlleben aufzuwachsen, wird sie nicht verwöhnt?« – »Bin ich verwöhnt gewesen?« unterbrach ihn die Gattin, »habe ich mich nicht schnell in einfachere Verhältnisse gewöhnt, habe ich dir nicht gut hausgehalten?«

»Das hast du, geliebte Magdalene, du hast dich über deine Kräfte angestrengt, daher bist du nun so leidend.« »Das ist nicht der Grund meines Leidens. Du weißt, daß der Gram um den armen, verlorenen Bruder an meinem Herzen nagt. Die Ungewißheit über sein Schicksal und besonders der Grund, warum er fliehen mußte, das ist, was mich beständig aufgeregt und beunruhigt hat. Versprich mir das eine, Gottfried, sollte Adolf noch unter den Lebenden sein, sollte er je zurückkehren in sein Vaterland – sage ihm, daß ich nie an seiner Unschuld gezweifelt habe, daß ich ihn lieb behalten hätte bis zum letzten Atemzuge.« »Du weißt, Magdalene, daß ich deinen Bruder nie gesehen habe, aber ich verspreche dir, sollte ich je mit ihm zusammentreffen, so will ich ihn lieb haben um deinetwillen.« – »Suche, wenn es irgend möglich ist, ihn mit seiner Mutter auszusöhnen; es ist so traurig, daß die Mutter, die ihn früher lieb hatte wie ihren Augapfel, ihm nun ihren ganzen Zorn zugewandt hat.« »Sie ist stolz auf ihr Geschlecht; ihr Name ist durch Adolf beschimpft worden, sie hat weiter keine Söhne, so daß bei ihrem Tode ihr Name erlischt.« – »Das kann sie ihm nie vergeben, das hat sie hart und ungerecht gemacht. Ich denke, wenn wir ihr das Kind hingeben, das wird sie weich und milde stimmen, sie wird abgelenkt von dem traurigen Gedanken und sie lernt mit Gottes Hilfe dem vergeben, dem sie einst den mütterlichen Segen genommen hat.« Die Kranke sah ihren Gatten bittend an und streckte ihm die Hand hin, gleichsam als sollte er durch Handschlag ihr das gegebene Versprechen besiegeln. Der Forstmeister nahm ihre zarte, schmale Hand in die seine und sagte mit tiefbewegter Stimme: »Wenn es dir das Sterben erleichtert, so soll die Großmutter das Kind erziehen.« Dann, als er merkte, wie das Gespräch sie angegriffen, setzte er sich zu ihr, griff nach dem Neuen Testament, welches neben ihr lag, und begann zu lesen. Er hatte eben die vorhin erwähnte Stelle vorgelesen, als Magda wie ein Brausewind in die Tür hineingewirbelt kam.

»Mein Vöglein, was hast du,« sagte die Mutter mit leiser Stimme, als Magda neben ihr stand. »Du siehst so erhitzt aus und kommst gelaufen, als würdest du von Feinden verfolgt.« »Ich glaubte, er würde mich wieder schlagen, deshalb rannte ich so.« – – »Wen hast du denn geschlagen?« »Fritz sagte, er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben, da wurde ich böse und – –«

Die Mutter zog ihr Töchterchen an sich. »Magda,« sagte sie ernst, »du bist wieder heftig gewesen. Wie leid tut es mir, daß du dich immer wieder durch deine Heftigkeit hinreißen läßt, etwas zu tun, was du selbst für ungezogen halten mußt. Was wird Fritzens Mutter sagen, daß Forstmeisters Magda ihn geschlagen hat!« Magda wurde feuerrot. Es war ihr selbst nicht recht, daß sie sich in einem unbewachten Augenblick zu einer Handlung hatte hinreißen lassen, die sie nun bitter bereute. Aber die böse Heftigkeit war immer wieder da. Sie hatte schon oft von Vater und Mutter Vorstellungen und Strafen bekommen; sie kämpfte auch wohl dagegen und faßte gute Vorsätze, aber in einem Augenblick war alles über den Haufen geworfen. »O Mama, sei mir nicht böse,« bat sie und umschlang die kranke Mutter, »ich will mich nun gewiß bessern, aber du glaubst nicht, wie Fritz mich ärgerte – nein, ich ärgerte ihn wohl zuerst.«

»Ich möchte wohl, daß mein Töchterchen sich ein Wort einprägte und dasselbe immer in Gedanken hätte, wenn die Versuchung zur Heftigkeit da ist.« Sie zeigte auf das Buch neben sich und fuhr fort: »Es steht hierin und heißt: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.« »Das Erdreich besitzen, heißt das: sie werden reich werden?« fragte Magda mit leuchtendem Blick. »Ich möchte so gerne reich sein, Mutter, und in einem schönen Schloß wohnen und schöne Kleider und viel Geld möchte ich haben.«

»Und wenn du alles hättest und hättest die Liebe deiner Mitmenschen nicht, so würdest du nicht glücklich sein. Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen, heißt: sie werden durch ihre Sanftmut sich die Herzen ihrer Mitmenschen erobern und dadurch herrschen. Ein heftiger Mensch wird von niemand geliebt; ich hatte einen Bruder, der sehr heftig war. Er hat sich durch seine Heftigkeit zu einer sehr bösen Tat hinreißen lassen und dadurch die Liebe seiner Mutter verloren. Du bist jetzt noch zu klein und verstehst es nicht, aber später wirst du noch mehr davon hören. Denke an deine Mutter, die dich so lieb hat und gerne möchte, daß ihr kleines Mädchen sich in dieser Welt Freunde erwirbt. Es kann eine Zeit kommen, daß mein Kind keine Mutter mehr hat, die es ermahnt und leitet. Denke an diesen Spruch, den deine Mutter dir mitgibt, und versprich mir, daß du mit des Heilands Hilfe kämpfen willst gegen deinen bösen Fehler, wenn ich nicht mehr da bin.« – »Mutter, du sollst, du darfst nicht fort,« rief Magda in heftigem, leidenschaftlichem Tone. »Was soll ich machen, wenn du von mir gehst? Nicht wahr? Du wirst wieder gesund!« »Wie Gott will,« sagte die Mutter leise und lehnte sich erschöpft zurück. »Setze dich nun ruhig ans Fenster mit einer Arbeit, ich will zu schlafen versuchen.« – Aus der wilden Magda war auf einmal ein stilles Kind geworden. Sie ging leise an den Arbeitskorb, holte eine Häkelei heraus und setzte sich damit ans Fenster, von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick werfend auf das blasse Gesicht der Mutter, die mit geschlossenen Augen dalag.

An demselben Tage saß in einem kleinen Häuschen am Ende des Dorfes eine sauber gekleidete Frau am Spinnrad. Sie sah von Zeit zu Zeit nach der Tür, als erwarte sie jemand. Auf der Wachsdecke des Tisches stand ein einfaches Abendessen, bestehend aus frischer Ziegenmilch und Brot. Endlich öffnete sich die Tür und Fritz trat ein. »Du kommst spät, mein Sohn,« sagte Frau Wendt, »hast du alles zur Zufriedenheit deines Herrn besorgt?« »Ich war noch in der Stadt und habe Besorgungen für die Bäuerin gemacht. Vorher war ich in den Weiden und schnitzte Flöten.« – »Um Forstmeisters Magda die versprochene zu bringen?« »Mit der hab ich nichts mehr zu schaffen, Mutter, die seh ich nicht wieder an.« »Es wird so schlimm nicht sein, Fritz. Komm, iß dein Abendbrot und dann leg dich schlafen, wirst müde sein von deiner Tagesarbeit. Morgen ist Palmsonntag, dann gehen wir zusammen in die Kirche und hören, wie die Kinder eingesegnet werden. Du bist dem Herrn Forstmeister großen Dank schuldig, weil er dir die Stunden beim Herrn Pfarrer geben läßt.« –. »Ich bin dem Herrn Forstmeister sehr dankbar, aber Magda sehe ich nicht mehr an. Das Ding hat mir einen Schlag ins Gesicht gegeben, das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen. Und ausgelacht hat sie mich – nun, sie soll sich vor mir in acht nehmen.« Er machte eine drohende Gebärde, so daß Frau Wendt erschrocken ausrief: »Fritz, du wirst doch nicht – um alles in der Welt, tu mir das nicht an, daß du dich an Forstmeisters Magda vergreifst.« – »Sie hat mich geärgert und hat sich an mir vergriffen,« erwiderte Fritz trotzig. »Sie ist ein heftiges Kind,« warf Frau Wendt begütigend ein, »es tut ihr gewiß schon leid, sei großmütig, Fritz, vergib es ihr!« »Bin schon großmütig gewesen, Mutter,« versetzte Fritz auf einmal munter. »Meinst du, wenn ich mich wirklich hätte rächen wollen, daß ich ihr nicht zehnmal den Schlag hätte zurückgeben können, ich Hab sie laufen lassen.« »Das ist recht, Fritz, denke nur immer, was wir alles durch Forstmeisters Güte haben. Magdas Vater war gestern hier und sagte: wenn du im Sommer alle freie Zeit zum Lernen benutztest, könntest du vielleicht im Herbst in die Stadt. Er habe dort viele Freunde, welche er bitten wolle, dir Freitische zu geben. Er und der Herr Pfarrer möchten so gerne, daß du etwas Tüchtiges lerntest, da du einen guten Kopf hättest.« »Hat er das wirklich gesagt?« fragte Fritz mit leuchtenden Augen, »dann werd ich doch einmal ein gelehrter Herr, und Magda, die es jetzt nicht glauben will, wird es mit eigenen Augen sehen.« Fritz sprach nicht mehr viel an diesem Abend und verzehrte ruhig seine Mahlzeit. Die Mutter aber, die ihn von Zeit zu Zeit ansah, merkte, daß er im stillen große Zukunftspläne spann. Ihr war es auch zur Gewißheit geworden, daß er sein Leben nicht im Dorf hinter den Kühen und Gänsen verbringen würde. Er war ein reichbegabter Knabe, und wenn wohlwollende Freunde sich seiner annahmen, so konnte wohl etwas aus ihm werden, wenn anders Gott der Herr seinen Segen dazu geben wollte.

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