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25. Onkel Adolfs Abreise. Frau Berners Tod.

Neugestärkt erwachte Magda am andern Morgen. Sobald sie konnte, ging sie zum Onkel. Herr von Busch kam ihr freundlich entgegen. »Gestern habe ich dich den ganzen Tag erwartet, liebe Magda, es wird dir gewiß schwer, zu dem armen, einsamen Onkel zu kommen.« Magda erwiderte ernst, daß sie in seinen Angelegenheiten einen wichtigen Gang gehabt habe. Sie wisse durch die Mutter und Großmutter, daß dem Onkel durch seine Heftigkeit ein großes Unglück begegnet sei, welches ihn zur Flucht verleitet habe und ihn viele Jahre von der Heimat ferngehalten. »Also weißt du, warum ich unstät und flüchtig bin?« rief der Mann bekümmert aus, »du siehst also ein, daß ich nicht bleiben darf, daß ich meiner Mutter nicht entgegentreten kann, schuldbeladen.« Eine innere Freude leuchtete aus Mazdas Augen. »Sie dürfen getrost sein,« sprach sie mit sicherer, fester Stimme, »ich komme heute, Ihnen zu sagen, daß der Totgeglaubte lebt, daß Sie ihn wohl getroffen haben, aber nicht tödlich. Gott hat sein Leben erhalten, er hat gestern im Kreise der Seinigen fröhlich seinen Geburtstag gefeiert.« Der Onkel starrte sie an, als habe er sie nicht verstanden. »Es ist wahr,« sagte Magda, »er wird selbst kommen und Ihnen sagen, daß er Ihnen nicht zürnt, daß alles vergeben und vergessen ist, daß er Ihr Freund sein will, wie zuvor.« Der Onkel saß immer noch unbeweglich. »Ist es wirklich wahr, Kind, was du sagst? Bedenke wohl, es ist nicht gut, mit einem alten, schwergeprüften Mann seinen Scherz zu treiben.« »Ich scherze nicht, es ist die lautere Wahrheit. Ihr Freund, Martin von Molk, jetzt Regierungsrat hier am Ort, wird in einer Viertelstunde hier sein, um sich Ihnen als lebend vorzustellen.« »Mein Gott, es ist ja nicht möglich!« rief Herr von Busch tief ergriffen. Er bedeckte das Gesicht mit seinen Händen und schwieg eine Weile ganz still, dann rief er laut: »Mein ganzes Leben habe ich vertrauert um dieses Mannes willen. Das ist die Strafe für meine Feigheit, die mich gleich die Flucht ergreifen ließ. Man hatte mir freilich wiederholt versichert, daß der Arme tot sei, ohne Rettung, und nun lebt er, ist gesund und glücklich. O, mein Gott, ich danke dir.«

Man hörte feste, männliche Tritte. Magda eilte hinaus; nach kurzer Zeit erschien sie wieder in Begleitung eines Herrn, der auf der Schwelle stehen blieb. Magda legte die Hand auf die Schulter ihres Onkels, der wieder wie im Traum verloren dasaß. »Lieber Onkel, hier ist der Herr Regierungsrat von Molk.« Der Onkel erhob sich, Herr von Molk kam näher, Magda sah noch, wie sich die zwei Freunde gegenüberstanden, einer den andern prüfend, ob sie noch aus den grauwerdenden Haaren, den gealterten Zügen die Gesichter der Jugend herauszufinden vermochten, dann auf einmal fielen sie sich in die Arme, einer des andern Namen nennend, darauf schloß Magda leise die Tür.

Jettchen aber hatte den Regierungsrat gesehen, als er das Haus betrat. Sie hatte gehört, daß er in die obere Wohnung gegangen war und dort Einlaß gefunden hatte. Sie teilte Minchen ihre Beobachtungen mit. »Was dies alles bedeutet,« sagte sie, »ich kann nicht klug daraus werden.« »Aber Jettchen,« sagte Minchen auf einmal bedeutungsvoll und schlug sich an die Stirn, »ich hab's! Ich weiß das ganze Geheimnis! Denke doch an die unglückliche Geschichte, die Herr von Molk in seiner Jugend erlebt hat. Er wäre beinahe von seinem Freund erschossen worden. Dieser hat ihn für tot gehalten und ist entflohen, sollte der Freund zurückgekehrt sein? Sollte es wohl der Onkel Adolf sein, von dem Magda uns erzählt hat?« »Natürlich,« rief Jettchen, nun auch überzeugt, »es gibt da oben eine Wiedererkennungsfeier, eine Versöhnung! Aber wir wollen schweigen, Minchen.« »Schweigen wie das Grab, Jettchen, wissen wir doch nun, um was es sich handelt, und können das Weitere ruhig abwarten!« So hatten die beiden Mädchen denn richtig den Zusammenhang gefunden und wunderten sich nur, warum Magda, die ihnen sonst alles sagte, in dieser Sache so verschwiegen gewesen.

Magda wartete in bangem Schweigen, es währte lange, bis sich oben wieder Tritte vernehmen ließen. Endlich erschien der Regierungsrat unten; er dankte Magda in bewegten Worten, daß sie es ihm möglich gemacht, seinem unglücklichen Freunde Frieden und Erlösung zu bringen. Der Onkel wünsche dringend, sie gleich noch einmal zu sehen. Magda fand ihn in tiefster Bewegung, aber sein Gesichtsausdruck war ein ganz anderer als zuvor. Es war, als ob das Bittere, Starre, das den Zügen aufgeprägt war, von ihm genommen und er nun ein Mensch wie andere Menschen geworden. »Meine liebe Magda,« sagte er, »Gott segne dich für das, was du an mir getan hast; nun, da der Bann, der auf mir lastete, von mir genommen ist, fühle ich mich wie neugeboren. Nun kann ich meiner Mutter wieder unter die Augen treten und ihren Segen empfangen. Und o! wie verlangt mich darnach, sie wiederzusehen. Nach allem aber, was du mir erzählt hast, darf die Mutter nicht plötzlich beunruhigt werden, der Schreck könnte die nachteiligsten Folgen haben. Ich reise in diesen Tagen ab, wenn sie hier ankommt, werde ich in Goldenau eintreffen und versuchen, das alte Erbe der Väter in meinen Besitz zu bringen; das wird der Mutter, so wie ich sie kenne, von großem Wert sein. Du suchst zu ergründen, wie sie gegen mich gesonnen ist, glaubst du, daß sie mich mit offenen Armen empfangen wird, dann schreibst du mir. Wir werden dann, will's Gott, unter dem Dach dieses Hauses ein Wiedersehen feiern. Laß uns heute abend alles, was geschehen muß, überlegen. Es erwacht in mir neuer Lebensmut, ich fühle mich um vieles jünger, seit ich weiß, daß mein Freund lebt, daß er mir nicht nur verziehen, sondern daß er ferner mein Freund bleiben will, es ist, als ob nach langer, dunkler Nacht der Tag wieder anbrechen will; o Magda, mein Kind, ich bin sehr glücklich.«

Der Onkel bat, diesen Abend, wenn die Geschwister zur Ruhe seien, noch einmal zu ihm zu kommen, er habe noch sehr viel mit ihr zu besprechen. Sie versprach es, bat aber gleichzeitig um die Erlaubnis, den Bewohnern unten, ihren Freunden, sagen zu dürfen, wer er sei, da sie schon einmal durch Fragen in Verlegenheit gesetzt wäre. Der Onkel hatte nichts dagegen; er konnte sein Haupt wieder frei erheben, konnte seinen Namen bekannt geben, kein Makel klebte daran. Sonst aber wünschte er um der Mutter willen, daß in der Familie noch nichts bekannt würde, und Magda war es eine Freude, diese Überraschung für die Ihrigen noch geheim zu halten. Nun ging sie, um das Versäumte in der Küche nachzuholen. Ida hatte von den Besuchen oben glücklicherweise nichts bemerkt; sie glaubte immer, Magda verkehre mit den Damen unten, wunderte sich allerdings, daß sie den ganzen Morgen dazu verwendete, da sie sonst während der Abwesenheit der Mutter sich alle ihre häuslichen Pflichten sehr angelegen sein ließ. Es wurde Magda jetzt schwer, alles Äußere zu besorgen und die Gedanken auf dem rechten Fleck zu haben, die Eindrücke des in den letzten Tagen Erlebten waren zu gewaltig und nahmen sie ganz gefangen. Ja, was konnte sich in vierundzwanzig Stunden ereignen! Sie überdachte alles noch einmal, als sie nach Tisch am Fenster saß, wunderte sich, woher sie den Mut genommen, den Regierungsrat, der ihr doch ziemlich fremd war, aufzusuchen. Während sie sich alle Einzelheiten dieses Besuches, des Laufens in die Burgstraße usw. ins Gedächtnis rief, wurde sie auf einmal inne, daß sie sehr schlecht gewesen. Wie konnte sie das vergessen! Wo hatte sie ihre Gedanken gehabt? Sie sah die arme Irene vor sich, wie sie ihr bleiches Gesicht zu ihr erhob und bat: »Bitte kommen Sie zu mir, meine Mutter ist sterbenskrank.« Darüber war fast ein ganzer Tag vergangen, wie mochte es dort aussehen! Bestürzt erhob sie sich, band sich Hut und Mantel um und rief Minchen, die unten durchs Haus ging, zu: »Bitte, liebstes Minchen, folge mir, sobald du kannst, Irenens Mutter ist so krank, vielleicht kannst du besser helfen als ich.«

Wie sie dahin gekommen, wußte sie nicht. Sie stand, tief Atem holend, vor der Tür. Erst nachdem sie sich etwas von dem schnellen Gehen erholt hatte, klopfte sie leise. Niemand antwortete. Sie öffnete vorsichtig die Tür und betrat das Zimmer. Auf dem Nähtisch vor dem Fenster lag Irenens Näharbeit, sie selbst war nicht dort, aber aus dem Nebenzimmer, dessen Tür angelehnt war, drang ein leises Schluchzen. Magda näherte sich mit Herzklopfen und stieß die Tür ein wenig zurück. Da lag Irene auf den Knieen vor dem Bett der Mutter und hatte deren schmale, weiße Hand gefaßt, die sie immer wieder mit Küssen bedeckte. Der Kranke vernahm nichts davon, sie hatte die Augen geschlossen und phantasierte. Auf ihr Angesicht war der Stempel des Todes geprägt, sie hatte wohl nur noch Stunden zu leben. Irene mochte ein Geräusch gehört haben; sie wandte den Kopf, als sie Magda erblickte, erhob sie sich schnell. »Wie gut, daß Sie noch kommen,« rief sie und umschlang Magda weinend. »Ich glaubte, Sie hätten uns vergessen.« »Ich hatte es auch, Irene,« sagte Magda aufrichtig. »Aber wenn Sie wüßten, was ich seit gestern alles erlebt habe, Sie würden mir verzeihen.« Irene sah sie fragend an, ihr Herz war aber zu sehr von Trauer über die geliebte Mutter erfüllt, als daß sie nach der Ursache von Magdas Ausbleiben hätte forschen mögen. »Sind Sie ganz allein gewesen bei der kranken Mutter?« »Von den Hausbewohnern hat dieser oder jener hereingesehen, aber in dieser Nacht war ich ganz allein, es war sehr schwer.« »Haben Sie an Dr. Wendt geschrieben?« »Heute morgen.« »Sie arme Irene, diese Nacht dürfen Sie nicht allein bleiben, ich werde es einrichten, daß ich wieder kommen kann.« »Sie sehen so angegriffen aus, ich darf es nicht annehmen.« Irene bat Magda, leise mit ihr in das andere Zimmer zu gehen, sie fürchtete, das Sprechen möchte die Kranke stören. »Wie lange ist die Mutter krank?« fragte Magda. »Seit acht Tagen,« war die Antwort. »Und seitdem haben Sie immer bei ihr gewacht?« »Ich hatte niemand, der mich vertrat, und habe es so gern getan. Wenn ich nur mein Mütterchen behalten dürfte,« sagte Irene mit Traurigkeit, »aber ich fürchte, es ist keine Hoffnung, und dann stehe ich ganz allein.« – »Dr. Wendt wird kommen und Sie heimführen.« »Fürs erste können wir noch nicht daran denken.« »Sorgen Sie nicht, liebe Irene,« sagte Magda herzlich und nahm ihre beiden Hände in die ihren, »sollte es zum Schlimmsten kommen, so finden Sie bei uns ein Unterkommen.« Irene sah sie dankbar an, und gerade jetzt kam Tante Jettchen dazu.

Nachdem sie Irene gesprochen und die Kranke gesehen hatte, nahm sie Hut und Mantel ab und erklärte, daß sie die Nacht bei Irene bleiben werde, es sei zu Hause alles verabredet. Magda, welche Irene gern diesen Liebesdienst erwiesen hätte, war heute froh, dessen enthoben zu sein, da ihrer zu Hause so viel wartete. So verabschiedete sie sich von Irene und ging langsam und traurig nach Hause. Wie hoch stand dies junge Mädchen jetzt in ihren Augen da! Sie war in allem, was sie tat, so demütig und wahr, so schlicht und einfach, in allen Lebenslagen bewahrte sie einen Gleichmut, um den sie sie beneiden mochte. Sie hatte sie herzlich lieb gewonnen, das wollte sie ihr mit der Tat beweisen; wenn die Mutter starb, sollte sie an ihr eine Freundin haben. Unter diesen Gedanken langte sie zu Hause an. Minchen wartete schon auf sie an der Haustür. Einmal wollte sie sich über die Kranke berichten lassen, und dann hatte sie eine wichtige Botschaft für Magda. Die alte Haushälterin des Sonderlings sei unten gewesen und habe sie gebeten, sobald Fräulein Magda nach Hause komme, ihr zu sagen, sie möge zu ihrem Herrn kommen. »Ich weiß,« fügte Minchen lächelnd hinzu, »daß du dort zuweilen aus- und eingehst.« – »Du weißt es, Minchen? und heute wollte ich dir das Geheimnis anvertrauen, da der Onkel es erlaubt hat.« »Also es ist, wie wir vermuteten,« sagte Minchen, »der Sonderling ist – Onkel Adolf.« »Ganz recht,« und nun erzählte Magda, indem sie Minchen in die Küche folgte, alles, was sie in diesen Tagen erlebt hatte. Das gute Minchen war tief bewegt und versprach zu schweigen. Magda ging sogleich in die obere Wohnung. Sie fand die Tür zu den Gemächern offen und den Onkel mit Frau Mabel in eifrigem Gespräch. Sobald er Magda hörte, kam er herbei. »Ich habe mit Schmerzen auf dich gewartet, mein liebes Kind,« sprach er und bat sie, näher zu kommen.

Im Wohnzimmer stand ein großer Reisekoffer, der Onkel selbst war gerüstet, als wollte er sofort das Haus verlassen. »Ich bin entschlossen, mit dem Nachtzug zu fahren, liebe Magda, möchte aber zuvor noch verschiedenes mit dir besprechen.« »Warum wollen Sie aber so schnell abreisen?« fragte Magda. »Ich fürchte, es könnte sich ein anderer Käufer für das Gut finden, ich möchte es unter allen Umständen erstehen und reise deshalb gleich, um die Unterhandlungen sobald als möglich anzuknüpfen. Meinen wahren Namen verschweige ich, da ich vorderhand noch unerkannt bleiben will. Nur, wenn ich in der Nähe von Goldenau bin, kann ich alles durch einen Rechtsanwalt einleiten. Wenn ich dann wiederkehre, mußt du das Herz der Großmutter für mich erweicht haben, daß ich in ihre Arme eilen kann und Vergebung bei ihr finde, willst du?«

Magda nickte. »Wenn ich mit meiner Mutter versöhnt bin, fehlt mir noch eins zu meinem irdischen Glück,« fuhr er fort, »das ist, daß ich Gewißheit erlange, ob mein Kind noch lebt oder nicht.« Er sah Magdas Erstaunen, – ja so, davon hatte er noch gar nicht zu ihr gesprochen, sie wußte nicht, daß er verheiratet gewesen. So erzählte er ihr denn seine ferneren traurigen Schicksale, sie erfuhr durch ihn, was wir bereits wissen, daß seine Gattin tot sei, er aber über den Verbleib seines Kindes im Dunklen geblieben. Einst hatte er einen Herrn getroffen, welcher meinte gehört zu haben, daß eine deutsche Kaufmannsfamilie ein kleines aufgefundenes Mädchen mit nach Deutschland genommen; da er nun im Sommer ein junges Mädchen gesehen, das seiner verstorbenen Frau sprechend ähnlich war, so sei eine schwache Hoffnung aufgetaucht, es möchte sich eine Spur finden, aber Frau Mabel, die er mit der Sache betraut, habe ihm gesagt, die Mutter des jungen Mädchens lebe, auch sei die Sache damals so verkehrt aufgefaßt worden, daß er die Nachforschungen eingestellt, er sei auch damals noch so menschenscheu und bedrückten Gemütes gewesen, daß ihm alle Energie gefehlt. Sobald er zurück sei, würde er alles aufbieten, über dies junge Mädchen genauere Auskunft zu erhalten. Magda, die so erfüllt war von allen Plänen des Onkels, von seiner Abreise usw., dachte in diesem Augenblick am wenigsten an Irene. Wenn sie auch wußte, daß jene ein angenommenes Kind war, so hatte sie sich nie eingehend ihre Lebensschicksale erzählen lassen, überdies war jetzt der Onkel eilig, auch drängte es sie, hinunterzugehen zu den Geschwistern, und diese für den Onkel so wichtige Angelegenheit wurde nicht weiter besprochen.

»Nun noch eins. Ich bin jetzt für dich Onkel Adolf, ich möchte nicht, daß die Tochter meiner geliebten Schwester mich mit ›Sie‹ anredet. Verstanden?« Magda nickte und sagte: »Ja, lieber Onkel.« Darauf gab er ihr einen Abschiedskuß und sagte bewegt: »Gott gebe uns ein fröhliches Wiedersehen, kleine Magda. Soll ich Goldenau grüßen? Es bleibt unser Eigentum. Mache deine Sache gut und schweige.«

Als Magda hinunterkam, saßen die Geschwister in großer Ungeduld. Sie waren gar nicht daran gewöhnt, von Magda allein gelassen zu werden, was mochte sie nur seit einigen Tagen haben? »Ein Brief von den Eltern an dich,« rief Luischen, »wir haben schon lange gewartet, Ida meinte, du seiest in die Stadt gegangen.« »Ich war auch vorher in der Stadt, war bei Irenens Mutter, welche sehr krank ist,« antwortete Magda und erbrach den Brief. »Die Eltern kommen morgen Abend mit der Großmutter,« rief sie freudestrahlend, »es geht der Großmutter sehr viel besser. Luischen, da müssen wir morgen sehr fleißig sein und mit Idas Hilfe alles in stand setzen. Besonders das Gastzimmer für die Großmutter müssen wir so heimisch als möglich machen.« »Glaubst du, daß sie gern bei uns sein wird?« fragte Luischen. »Ich glaube es,« erwiderte Magda ernst, »sie hat so viel durchgemacht, daß die Ruhe und der Friede hier ihr wohltun wird, und Vater schrieb, daß sie Mutter sehr lieb gewonnen habe.«

Luischens Augen leuchteten. »Magda,« sagte sie, den Arm um ihre Schwester schlingend, »bist du jetzt auch gern bei uns?« »Ich möchte nirgends lieber auf der Welt sein als unter diesem Dach, wo ich so viel gelernt habe. Und – o Luischen, du sollst sehen – wir werden alle zusammen eine sehr glückliche Familie sein.« Sie preßte die kleine Schwester an sich und küßte sie innig. Dann ging sie in die Küche, um mit Ida wegen des folgenden Tages zu beraten. Sie wollte die Eltern und die Großmutter mit einem warmen Abendbrot empfangen, die Brüder sollten wieder das »Willkommen« vom Boden holen, o, es sollte ein schöner Tag werden! Auf einmal durchzuckte es sie schmerzlich. Sie dachte an Irene und ihre Mutter und zog Vergleiche, wieviel besser sie es doch habe, wieviel Liebe im Familienkreise, während Irene nach dem Tode ihrer Pflegemutter ganz allein stand, bis Dr. Wendt sie heimführen konnte. Dann freilich – dann war sie die Bevorzugte, aber sie gönnte Irenen ihr Glück jetzt. Sie hatte so viel anderes zu bedenken und innerlich zu verarbeiten, daß ihr gar keine Zeit blieb, über ihre verlorene Liebe nachzudenken.

Am andern Morgen ging sie zu Ehrlichs, um zu fragen, ob Jettchen geschickt habe oder selbst gekommen sei. Sie fand Frau Ehrlich allein, in ziemlicher Aufregung. »Meine beiden Töchter sind fort,« klagte sie, »in dieser Nacht ist die alte Frau Berner gestorben. Jettchen schickte schon früh und ließ Minchen bitten, hinzukommen. Die arme Irene, was wird aus ihr?« »Sie kommt natürlich zu uns,« rief Magda, »ich habe zwar viel zu tun, da die Eltern und Großmama kommen, aber ich werde gleich zu ihr gehen und ihr sagen, daß sie unser Haus jetzt als ihre Heimat betrachtet.«

Sie fand Irene sehr traurig und blaß. Als Magda auf sie zueilte, warf sie sich an ihre Brust und machte ihrem Schmerz durch einen Tränenstrom Luft. »Wie danke ich es Ihnen,« sagte sie, nachdem sie ruhiger geworden war, »und Ehrlichs, daß Sie gekommen sind, mir beizustehen, ich hätte nicht gewußt, wie ich allein über diese schweren Tage hinwegkommen sollte.« »Dr. Wendt wird doch kommen?« »Ich weiß es nicht,« sagte Irene zögernd, »er ahnt ja noch nicht, daß das Schlimmste eingetreten ist, erst heute morgen konnte ich ihm schreiben. Da Sie so freundlich gewesen sind, mir Ihr Haus anzubieten, so ist es besser, er kommt jetzt nicht. Die Reise ist weit und kostspielig; wenn er die Ausgaben spart, können wir um so eher daran denken, eine Häuslichkeit zu gründen. Wir sind beide arm und müssen uns deshalb vieles versagen, was andere sich gewähren können.« Wie schwer ist es doch arm zu sein, dachte Magda, die bis jetzt noch nicht nötig gehabt hatte, sich einzuschränken. Gewiß fehlte es auch jetzt Irene an Geld, wie gut, daß der Vater heute abend heimkehrte, er mußte helfen, damit das Begräbnis ein würdiges sein konnte. Da Minchen bereit war, bei Irene zu bleiben, so kehrten Jettchen und Magda nach Hause zurück, letztere erfüllt von dem Gedanken, daß die Eltern mit der Großmutter heimkehren würden, und welche Aufgabe sie an Onkel Adolfs Mutter zu erfüllen habe.

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