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21. Das Geheimnis.

»Fräulein Magda, können Sie gut Geheimnisse bewahren?« fragte eines Tages Dr. Wendt, indem er zu Magda trat, die allein, mit einer Handarbeit beschäftigt, in der Veranda saß. Magda errötete. »Wollen Sie mir etwas anvertrauen?« »Ich möchte es wohl,« sagte Dr. Wendt, ernster werdend. »Wir pflegten uns früher als Kinder alles zu sagen, deshalb möchte ich diesen Ort nicht verlassen, ohne Ihnen etwas mitgeteilt zu haben, was für mich von größter Wichtigkeit ist.« Magda senkte den Kopf und beugte sich tief über ihre Arbeit, Dr. Wendt, der nichts Auffälliges bemerkte, fuhr fort: »Es ist für den Mann, wenn er sein Studium vollendet hat und sich ein eigenes Heim gründen will, ein beseligendes Gefühl, wenn er gefunden, was er gesucht –« »Herr Doktor, Sie haben mir in voriger Woche Ihre hilfreiche Hand geliehen beim Garnwickeln,« – ertönte Frau Ehrlichs Stimme plötzlich dazwischen – da stand sie schon hinter ihm mit einem großen Paket Wolle, schaute aber nun von einem zum andern und sagte: »Ich störe doch nicht etwa – gibt es hier Geheimnisse?«

»Noch nicht,« war Dr. Wendts Antwort, »aber beinahe hätte es eins gegeben, ich war im Begriff, Fräulein Magda etwas anzuvertrauen. Sie müssen wissen, Frau Ehrlich, wir kennen uns schon seit lange.« – Frau Ehrlich meinte, sie könne auch schweigen, aber wenn es nicht für sie berechnet wäre, könne er es ja ein andermal sagen, wenn sie nicht da sei; jetzt würde es ihr sehr lieb sein, wenn sie mit seiner freundlichen Hilfe die Wolle wickeln könne, sie wolle für ihre Enkel Fritzchen und Konrad Strümpfe stricken. »Für die kleinen Jungen, die im Frühling unten bei Forstmeisters zum Besuch waren? Ich habe sie auch gesehen, wie geht es ihnen?« Der Großmama ging das Herz auf, wenn jemand von ihren Enkeln hören mochte; während Dr. Wendt sich ihr gegenüber setzte und sich anschickte, das Garn regelrecht über die Arme zu legen, fing sie an zu erzählen, wie die Kinder bei aller Lebhaftigkeit doch sehr begabt seien und zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Magda benützte diesen Augenblick, um ihre Arbeit zusammenzulegen und sich heimlich zu entfernen. Ihr Herz war zu voll, sie mußte einen Augenblick in ihr Stübchen gehen und allein sein. Als sie das Zimmer betrat, stand jemand am Tisch und ordnete einen Waldstrauß. »Minchen,« rief sie erglühend und schlang in ihrer leidenschaftlichen Art beide Arme um ihren Hals, »Minchen, ich bin zu glücklich.« Dann, sich besinnend, fügte sie hinzu: »Verzeihen Sie, ich bin zu töricht.« – »Ich habe eigentlich um Verzeihung zu bitten, daß ich Ihr Zimmer ohne Erlaubnis betreten habe, ich wußte aber, wie sehr Sie den Wald lieben; da wir heute dort waren, habe ich dies für Sie mitgebracht. Ich wollte es Ihnen bringen und sah, daß Sie mit Dr. Wendt allein in der Veranda waren, wie es schien, in ernstem Gespräch. Man darf wohl Glück wünschen?« »Nein, nein,« rief Magda erregt, »es ist gar kein Grund dazu.« »Aber wenn es einmal so weit ist, dann dürfen wir uns mit freuen, nicht wahr?« sagte Minchen, drückte ihr herzlich die Hand und verließ das Zimmer.

»Wir pflegten uns früher als Kinder alles zu sagen, so möchte ich nicht von dannen gehen, ohne Ihnen etwas mitgeteilt zu haben, was für mich von größter Wichtigkeit ist.« Ja, so waren seine Worte. Und dann: »Es ist für den Mann, wenn er seine Studien vollendet hat und sich ein eigenes Heim gründen will, ein beseligendes Gefühl, wenn er gefunden hat, was er gesucht.« –

Da kam Frau Ehrlich dazwischen, o sie hätte zürnen mögen mit der alten Dame, daß sie gerade in diesem Augenblick – doch was tat es, noch drei Tage waren sie zusammen, es ließ sich wohl noch ein Augenblick finden, wo der angefangene Satz, der eine Welt voll Seligkeit barg, vollendet wurde, ja, es mußte ausgesprochen werden, nun es einmal heraus war, das süße Geheimnis, das für sie alles enthielt. Sie stand am Fenster und schaute hinaus auf die stille, grüne Wiese, die im Hintergrund den Wald hatte. Darüber wölbte sich der blaue Himmel. Wie gern mochte sie diesen Blick, es war so geheimnisvoll stille, ein Friede lagerte über dem Ganzen und in ihr war Glück und Seligkeit. Da – schellte es zum Essen, sie hatte ganz vergessen sich umzukleiden. Mit Blitzesschnelle vertauschte sie das Morgenkleid mit einem bessern und wusch sich das heiße Gesicht. Da stürmte Luischen herbei: »Schnell, Magda, Ehrlichs warten schon. Denke dir, Dr. Wendt hat eben Besuch bekommen und ist mit dem Herrn fortgegangen. Ist das nicht schade? Es ist viel lustiger, wenn er mit bei Tische ist.«

War es schade? Nein, Magda war es sehr recht, es war ihr lieb, ihm jetzt nicht zu begegnen; es wäre peinlich für sie gewesen. »Der gute Herr Doktor,« sagte Frau Ehrlich über Tisch zu Frau Schlick, so hieß die junge, elegante Mutter, »wie geduldig hat er diesen Morgen bei mir ausgehalten, bis ich meine Wolle gewickelt hatte, er ist ein prächtiger Mensch.« »Ein anziehender Herr,« sagte Frau Schlick, »er gefällt mir sehr; so gelehrt und doch bescheiden, wie schade, daß er uns so bald verläßt.«

Der Tag verging, Dr. Wendt kehrte nicht zurück, erst in der elften Stunde, als die übrige Badegesellschaft schon schlafen gegangen war, hörte Magda den wohlbekannten Tritt den Gang entlang gehen, Dr. Wendt schien allein zu sein, der Freund hatte ihn also wieder verlassen. Was würde der morgende Tag bringen?

Fürs erste brachte er Briefe von daheim. Die Mutter schrieb so herzlich und freundlich, sie versicherte Magda, daß sie jeden Tag kräftiger würde und daß sie ihre alten Beschäftigungen und Pflichten alle wieder aufgenommen habe. Der Vater hatte etwas anderes zu berichten. Er hatte einen Brief von Frau Laube bekommen, die es für ihre Pflicht hielt, ihm mitzuteilen, daß Frau von Busch, seine Schwiegermutter, sehr übel dran sei, durch jahrelanges, schlechtes Wirtschaften sei das Gut ganz heruntergekommen, Betrügereien aller Art seien entdeckt, auch unter den Leuten; die einzige Rettung würde wohl sein, daß das Gut verkauft würde, ob er, der Schwiegersohn, nicht hinkommen und Klarheit in die Sache bringen wolle. Der Forstmeister schrieb an Magda, daß ihm die Geschichte, der Großmutter wegen, sehr leid tue, doch dürfe er sich nicht hineinmischen, da die Mutter seiner nie begehrt hatte und ihn einfach zurückweisen werde. Magda gab der Brief viel zu denken. Die reiche, vielseitig verehrte Großmutter wurde vielleicht arm, was hatte sie dann vom Leben? Sie hing so sehr an ihrem irdischen Besitz und würde es wohl kaum überstehen. Magda faltete den Brief zusammen und sah ernsthaft vor sich hin, es bewegte sie mehr, als sie gedacht, und legte sich wie ein Schatten auf ihr von Glück bewegtes Herz. Wie würde die Großmutter denken über eine etwaige Verbindung ihrerseits mit Dr. Wendt? Ihretwegen war es vielleicht gut, wenn die Großmutter arm würde, sie würde es wohl sonst nie zugeben, daß eine Enkelin von ihr sich mit einem armen Gelehrten verbinde, der von geringem Herkommen war.

»So gedankenvoll?« ertönte eine fröhliche Stimme und Dr. Wendt trat aus dem Hause, auch mit einem Brief in der Hand, den er jedoch sorgsam in der Brusttasche barg. Es währte nicht lange, so hatte er den Inhalt von Magdas Brief erfahren. »So vergänglich ist der Reichtum,« sagte er ernst, »wie töricht von den Menschen, sich darauf zu verlassen oder sich darauf etwas einzubilden.« »Ich habe es früher auch getan,« erwiderte Magda ehrlich. »Ja, das weiß ich,« versetzte Dr. Wendt. »Wie stolz kamen Sie damals zu mir und kündigten mir an, daß Sie nun reich würden, wie bewunderte auch ich die vornehme Dame in dem rauschenden Seidengewande, welche Sie abzuholen kam, ja, wie beneidete ich die kleine Magda, als sie in den Wagen gehoben wurde und davonrollte, um fortan in Reichtum und Überfluß zu leben, während ich armer Knabe nur trockenes Brot hatte und mangelhafte Kleidung. Aber jetzt bin ich mit meinem Los zufrieden – ja sehr zufrieden,« fügte er hinzu, »und Luischen scheint es auch zu sein, denn dort hüpft sie mit ihren neugewonnenen Freundinnen herbei, ich will die Damen nicht länger stören, da ich einen Brief zu schreiben habe.« Damit war er wieder im Hause verschwunden und hatte nichts gesagt, wiewohl Magda zuversichtlich gehofft hatte, daß heute das wichtige Wort gesprochen werden würde.

Am Nachmittag wurde ein gemeinsamer Spaziergang nach der »goldenen Höhe« verabredet, demselben Aussichtspunkt, den Magda an jenem Morgen allein bestiegen hatte, als sie von Dr. Wendt überrascht worden war. Die Herren gingen voran, die Damen folgten, die Kinder hüpften nach Kinderart hin und her, bald Blumen pflückend oder sich haschend mit fröhlichem Jauchzen. »Wie schön ist die Welt,« sagte Magda und drückte Jettchens Arm, an dem sie hing; »es ist doch herrlich in Gottes freier Natur.« »Das wollte ich meinen,« sagte Frau Ehrlich, »man muß Gottes Macht und Herrlichkeit anerkennen, die er offenbart in den Werken der Natur. Seht dies Blümchen, welches Magda eben gepflückt hat, wie wunderbar ist es geformt, welch eine liebliche, himmelblaue Farbe hat es und doch ist es ein kleines, winziges Dinglein von tausend und abertausend Gewächsen; wie groß und wunderbar ist die Mannigfaltigkeit, – so ist es nicht allein mit den Blumen, auch mit den lebenden Wesen, die Vöglein mit ihrem Gesang und ihrem bunten Gefieder, die Bienen mit ihrem Fleiß und ihrer Kunstfertigkeit –« »Und zuletzt der Mensch,« vollendete Minchen, »die Offenbarung Gottes am Menschen durch sein Wort ist das Allerherrlichste.« Magda hörte still zu. Wie schön und edel war alles, was die Menschen sprachen, wie konnte man von ihnen lernen, wie einfach und bescheiden traten sie auf und welch einen Schatz von Bildung und Erfahrung bargen sie. Ja, sie sollten ihr ein Vorbild werden, ihnen wollte sie nachstreben, sie wollte auch alle Menschen, mit denen sie zusammen lebte, glücklich machen. Nun kamen die Kinder mit blauen Kornblumen. »Seht, was wir schon gepflückt, in den Feldern ist alles blau.« Magda lief fröhlich mit ihnen. »Davon muß ich auch einen Strauß haben,« rief sie, man hörte sie lachen und jubeln mit den Kindern.

Dann ging es bergan; sie lief zurück, um Frau Ehrlich stützen zu helfen, denn das Bergsteigen wurde der alten Dame schwer; sie überwand es aber mit der ihr eigenen Energie. »Einmal,« so hatte sie gesagt, »will ich dort oben Umschau halten, wenn es mich auch den Atem kostet.« Die Herren standen schon auf dem Aussichtsturm und hielten durch ein Fernglas Rundschau. Die steilen Stufen zu dem Turm erklärte Frau Ehrlich nicht mehr hinaufsteigen zu wollen, so blieben auch die übrigen Damen unten und ließen sich an der Aussicht, die man vom Berge aus hatte, genügen. Sie bestellten den Kaffee und suchten in der Veranda der Restauration nach einem Platz, der die Aussicht nach vorn frei ließ. Auf den schönen Tag folgte ein warmer Abend. Als die Gesellschaft den Berg verließ, begann es schon zu dämmern. Beim Hinuntersteigen erbot sich Dr. Wendt, die alte Dame zu führen; er hatte sich fast ausschließlich mit einem Herrn, der vor einigen Tagen gekommen war, unterhalten und wenig mit der übrigen Gesellschaft verkehrt, und doch war Magda beständig in freudiger Erregung gewesen, hatte gemeint, heute müsse es zum Austrag kommen, denn morgen in aller Frühe gedachte Dr. Wendt diesen Ort zu verlassen. Nun unterhielt er sich wieder eifrig mit Frau Ehrlich, hatte er sie denn heute ganz vergessen?

So, jetzt waren sie unten angekommen, Frau Ehrlich dankte für die Führung, nun wolle sie sich Minchen anvertrauen. »Das heißt mit andern Worten, ich bin nun abgesetzt,« sagte lächelnd der Doktor und wandte sich an Magda. »Fräulein Magda, wir haben uns ja heute nachmittag kaum gesehen.« Magda errötete und schwieg. Er ging nun neben ihr, während Frau Ehrlich mit den Töchtern voranging. Die übrige Gesellschaft war schon ein Stück voraus. »Ich bin wohl schuld daran, da ich vielseitig in Anspruch genommen war, aber nun müssen wir noch ein wenig zusammen plaudern, wer weiß, wann wir uns wiedersehen.« »Kehren Sie denn nicht nach B. zurück?« »Jetzt wohl, aber wenn Sie wieder dort eintreffen werden, bin ich nicht mehr dort. Ich möchte Ihnen etwas sagen, Fräulein Magda, ich weiß, Sie haben Interesse für mich und mein Wohlergehen.« – Magdas Herz klopfte hörbar. »Sie wollten schon vor einigen Tagen« – »Richtig, schon vor einigen Tagen wollte ich Ihnen beichten, da kam Frau Ehrlich uns dazwischen. Es ist aber auch eine wichtige Sache, die man nicht jedem anvertraut, vorausgesetzt also, daß Sie schweigen, nichts verraten, will ich Ihnen das köstliche Geheimnis mitteilen. Sie werden sich mit mir freuen, das weiß ich.« Wie anders klang dies, als sie erwartet hatte.

»Ich weiß selbst nicht, wie es gekommen, ich dachte gar nicht daran, da ich noch keine Frau ernähren kann, aber die Sorge, das liebliche Wesen zu verlieren, ließ mich früher das bindende Wort sprechen, als ich eigentlich wollte. Nun, kurz und gut, Fräulein Magda, ich bin verlobt.« Magda sah ihn an, als habe sie ihn nicht verstanden. »Sie sind erstaunt, nicht wahr? aber wie gesagt, ich wollte warten, aber das Wort kam heraus, als wir beide auf der Felsenburg standen, und nun ist es auch gut. Seit ich weiß, daß das holde Mägdlein mein Eigentum ist, geht das Arbeiten noch einmal so gut und das unruhig bewegte Herz ist zur Ruhe gekommen. Aber wünschen Sie mir denn gar nicht Glück, Fräulein Magda,« rief er befremdet aus. »Ich weiß ja noch nicht, wer es ist,« war die tonlose Antwort. »Haben Sie das noch nicht erraten? Meinen Sie, daß man lange in einem Hause mit Irene leben kann, ohne von ihrem Liebreiz gefangen zu werden?« »Ja, sie ist recht hübsch,« war die gezwungene Antwort.

»Das ist es nicht, was mich anzog, wenigstens kommt es erst in zweiter Linie, aber das sanfte, stille Wesen, die stete Emsigkeit, die Selbstlosigkeit, mit der sie andern dient, die aufopfernde Liebe zu ihrer Pflegemutter – ich habe sie lange im stillen beobachtet und erkannt, daß, wer sie heimführt, einen großen Schatz mitbekommt, der mehr wert ist, als Geld und Gut. Ein frommes Herz und arbeitsame Hände –«

Er war in seinen Gedanken ganz bei seiner Irene, sonst hätte er bemerken müssen, welche Veränderung bei Magda vorgegangen war, während er sprach. Eine Blässe bedeckte ihr Gesicht, sie konnte sich eines leisen Zitterns nicht erwehren, was von der innern Erregung herrühren mochte. Was hätte sie jetzt darum gegeben, wenn sie nicht allein gewesen wären. Da – als ob die gute Frau Ehrlich geahnt, was ihr Herz bewegte, rief die alte Dame, indem sie sich umsah: »Kommen Sie doch, warum bleiben Sie so zurück.« Es war eine Erlösung für Magda. »Ich gratuliere Ihnen,« sagte sie und reichte ihm ihre Hand. »Wie kalt Sie sind,« sagte er überrascht, »wir sind doch wohl zu lange geblieben, der Abend wird kühl.« Magda war schon entflohen, mit schnellen, hastigen Schritten hatte sie Ehrlichs eingeholt, Dr. Wendt ging langsam hinterher. Wie seltsam, Magda schien sich gar nicht so herzlich mit ihm zu freuen, wie er es erwartet hatte. Sollte sie selbst –? Doch nein, wie hätte sie je daran denken können, sein bescheidenes Los mit ihm zu teilen, sie, die kleine, stolze Magda, die ihn früher immer als weit unter sich stehend betrachtet hatte und es in gewisser Weise auch sicher jetzt noch tat.

Frau Ehrlich kam ziemlich müde und erschöpft nach Hause und beide Töchter geleiteten sie in ihr Zimmer, während Magda schnell in das ihrige ging und dort in leidenschaftlicher Weise ihren Gefühlen Ausdruck gab. Sie warf die Blumen auf den Tisch, die Handschuhe flogen auf die Erde, der Schirm berührte so unsanft die Vase, welche Minchen den Tag vorher so hübsch mit dem Waldstrauß geschmückt hatte, daß dieselbe vom Tisch fiel und zerbrach. »Kind, was ist Ihnen passiert,« rief eine angstvolle Stimme, und Minchen, die unbemerkt eingetreten war, legte ihren Arm um Magda und sah sie besorgt an.

»Bitte, lassen Sie mich nur,« sagte diese abwehrend, »ich bin am liebsten jetzt allein.«

»Aber es tut mitunter gut, wenn man sich aussprechen kann, sagen Sie mir doch, ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?«

»Ich bin wütend,« rief Magda, »dieser –« »Stille, liebes Herz, mäßigen Sie sich, es sind hier überall Ohren und geschwätzige Zungen.« »Es ist aber auch zu arg, zu abscheulich –«

Minchen tat es fast leid, Magda, die noch sehr aufgeregt war, zum Sprechen veranlaßt zu haben, es wäre besser gewesen, sie hätte sie erst ruhiger werden lassen, da heftige Naturen immer mehr heraussagen, als sie eigentlich wollen. Sie wollte deshalb gehen, aber als sie an der Tür war, hielt Magda sie zurück, umfaßte sie leidenschaftlich und sagte: »Nun Sie einmal da sind, können Sie meinetwegen alles wissen.«

»Sie haben wohl einen Streit gehabt mit Dr. Wendt?« fragte Minchen sanft. »Einen Streit?« sie lachte bitter. »Nein, etwas viel Schlimmeres. Ich habe ihm gratulieren müssen, weil er mir eben gesagt hat, daß er – verlobt ist mit einer andern und ich glaubte so bestimmt –« »Armes Kind, also ein Mißverständnis, eine Enttäuschung, wie sie viele Mädchen durchmachen müssen.« »Aber ich hatte es mir so fest gedacht, habe gar nicht gezweifelt, daß dieser Fritz, den ich seit den Kindheitstagen kenne, mich heiraten würde – nein – dieser Mensch! – ich mag ihn nie wieder sehen.« »Magda, besinnen Sie sich, seien Sie doch nicht so heftig, Sie müssen ruhiger werden.« – »Minchen,« rief Frau Ehrlichs Stimme, »wo bleibst du, hilf mir doch.« – »Gleich, Mütterchen. – Liebe Magda, versuchen Sie ruhiger zu werden, ich komme heute abend noch einmal zu Ihnen, wenn alles schläft.« Jetzt kam Luischen.

»O die armen Blumen, der schöne Waldstrauß,« rief sie und sammelte die zerstreuten Blumen von der Erde. »Ach, und die schöne Vase ist zerbrochen.« Sie warf einen scheuen Blick auf das verweinte und erhitzte Gesicht Magdas. »Wie schade,« sagte sie, als sie die Scherben zusammenlas.

Minchen war dem Ruf der Mutter gefolgt, die beiden Schwestern waren allein. Luischen brachte alles in Ordnung in ihrer sanften stillen Weise und trug die Scherben hinaus. Als sie wieder kam, saß Magda am Fenster und starrte vor sich hin. Sie schlang den Arm um sie und sagte: »Liebe, liebe Magda, bist du krank?« »Ja, sehr krank, zum Sterben krank bin ich.« Luischen erschrak und sah sie besorgt an. »Soll ich dir etwas zur Erquickung holen?« »Nein, bitte, laß mich in Ruhe, ganz in Ruhe, ich mag nichts sehen und nichts hören.« »Tut dir denn etwas weh,« fragte das liebe Kind, dem es angst wurde, noch einmal. »Nichts tut mir weh! Ja, alles tut mir weh, und wenn du nicht das Fragen läßt und im Augenblick zu Bett gehst und schläfst, so werfe ich alles entzwei, was im Zimmer ist.« Mit erschrockenem Gesicht sah Luischen nach der Kommode, auf welcher ihre beste Puppe saß. Dieselbe halte den Vorzug gehabt, mit ins Bad genommen zu werden. Sie deckte ein Tuch über sie, um sie vor etwaigen Zornesausbrüchen zu schützen, kleidete sich schnell aus und schlüpfte ins Bett, immer von Zeit zu Zeit nach Magda lugend und sich wundernd, was derselben so gründlich die Laune könnte verdorben haben. So böse hatte sie sie noch gar nicht gesehen und es war doch ein so schöner, ein so wunderbar schöner Tag gewesen. Wie glücklich war sie mit ihren kleinen Freundinnen gewesen, sie hatten sich ewige Freundschaft versprochen aus dem Nachhauseweg, und eben war sie noch bei ihnen gewesen, um sich ihre Poesie-Albums zu holen, sie hatten sie gebeten, ihnen etwas zum Andenken hineinzuschreiben. Ja, sie war so glücklich hier, sie hatte geglaubt, Magda sei es auch – was mochte sie nur haben? Sie dachte noch darüber nach, was sie ihrer Schwester Wohl morgen zu Gefallen tun könnte, womit sie ihr eine rechte Freude bereiten könnte – da kam der Sandmann und schloß ihre müden Augen. Das Kind lag da, wie ein Bild des Friedens. Wie auch ihr Lebensgang sein mochte, sie würde einmal nie die Kämpfe zu bestehen haben, welche Magda das Leben so schwer machten. Das dankte sie ihren trefflichen Eltern, besonders der Mutter, welche durch die Erziehung schon früh den Eigenwillen bezwungen und das Kind schon früh gelehrt hatte, durch Gehorsam ihren eigenen Willen dem der Eltern unterzuordnen.

Magda saß am Fenster und sah in die vom Mond beschienene Landschaft hinaus. Die stille Wiese und der dunkle Wald, alles trug den Stempel des Friedens, während ihre leidenschaftlich erregte Natur vergebens nach Frieden rang.

»Ein frommes Herz und arbeitsame Hände,« so hatte er gesagt. Das hatte ihn angezogen. Fehlte ihr denn beides? Sie meinte doch auch fleißig gewesen zu sein in der letzten Zeit; freilich, er wußte ja nichts davon, das letzte, was er von ihr gehört, ehe er sich Verlobte, war, daß sie ihre Mutter krank geärgert hatte, weil sie nicht die ihr übertragene Arbeit hatte ausführen mögen. Allerdings von ihr konnte er keinen angenehmen Eindruck haben, dazu kannte er ihre Heftigkeit – es klopfte ganz leise und gleichzeitig steckte jemand seinen Kopf zur Tür herein. »Magda, kommen Sie,« flüsterte eine Stimme, »es ist ein köstlicher Abend, wir gehen noch ein Weilchen ins Freie, dort sind wir ungestört.« »Ach ja, Minchen, erlaubt es auch die Mutter?« erwiderte Magda, schon in anderem Ton als vorhin. »Mütterchen schläft schon, Jettchen ist auch hier.«

Treu und warm nahmen die beiden alten Mädchen die junge in ihre Mitte. Sie gingen leise zur Hintertür hinaus und waren bald an der Waldecke, wo ein Weg zwischen Wald und Wiese dahinführte. »Sie, liebes Kind,« sagte Jettchen und drückte verstohlen ihre Hand, »Sie tun mir so leid.« »Sie müssen es durchkämpfen,« sagte Minchen, »wir haben es auch gemußt.« »Sie?« sagte Magda verwundert, »ich glaubte, Ihr Leben sei immer sanft und friedlich dahingeflossen.« – »Unter viel Unruhe, Sorgen und Leiden aller Art sind die Jahre dahingegangen.« »Das merkt man Ihnen aber nicht an. Sie sind beide immer munter und vergnügt, man meint, Sie müßten einen großen Schatz gefunden haben. Ich habe Sie schon oft bewundert, wie Sie bei allen Vorkommnissen des Lebens so ruhig bleiben, während ich durch meine schreckliche Heftigkeit mich bei allen Menschen so unbeliebt mache. Sie sind immer zufrieden, immer heiter.« – »Wir haben auch allen Grund dazu, wir haben wirklich einen Schatz gefunden,« sagte Minchen strahlend, »ich wollte nur, Sie fänden ihn auch, dann würden Sie gewiß nicht mehr trauern über den Verlust eines irdischen Gutes, Sie würden auch immer fröhlich und glücklich sein können und sich in den Stürmen des Lebens Ruhe und Gleichmut bewahren.« »Sagen Sie mir, was ist es?« fragte Magda gespannt. »Nehmen Sie, wenn Sie in Ihrem Zimmer sind, Ihr Gesangbuch und lesen Sie den ersten Vers von Nro. 225, dann haben Sie die Antwort auf Ihre Frage. Und nun wollen wir noch ein paar Mal auf und ab gehen, die schöne Abendluft kühlt Ihre heißen Wangen, Sie sollen sehen, Sie schlafen gut danach. Morgen sind Sie wieder frisch und munter und baden tüchtig, damit die Eltern eine gesunde Tochter wieder bekommen.« »Wie fange ich es nur an, daß ich diese Irene, die mir mein Glück geraubt, nicht so furchtbar hasse, mir ist, als könnte ich ihr nie wieder einen freundlichen Blick, geschweige denn ein freundliches Wort geben.« »Desto freundlicher und liebreicher wollen wir mit ihr sein. Also Irene ist die Auserkorene?« »O, was habe ich gemacht, es ist ein großes Geheimnis und ich versprach, es nicht zu verraten.« »Wir verstehen zu schweigen, wir werden uns gegen Irene nichts merken lassen, aber bitten Sie Gott zuerst, daß er Ihnen für Haß Liebe ins Herz gibt, es ist nicht recht, seinen Nächsten zu hassen, und Irene verdient es am wenigsten.«

»Ich werde sie ignorieren.« »Nein, liebhaben sollen Sie sie; Sie werden sich mit Gottes Hilfe durchkämpfen, und wenn Sie sich selbst überwunden haben, wenn Sie lieben, wo Sie eigentlich hassen möchten, dann wird Gottes Friede über Sie kommen.« So redeten die guten Mädchen abwechselnd in Magda hinein, suchten die Aufregung zu dämpfen und ihren Gedanken die rechte Richtung zu geben. Endlich aber erklärte Minchen energisch, nun sei es Zeit heimzugehen; sie gingen leise ins Badehaus zurück, um die Schläfer nicht zu stören, und trennten sich vor Magdas Tür, nachdem sie sich mit einem innigen Kuß verabschiedet hatten. Wie viele Liebe konnten diese beiden Mädchen geben, wie wohltuend waren sie für andere. O, wer auch einmal so werden könnte! Magda stand noch eine Weile sinnend am Tisch, dann holte sie sich ihr Gesangbuch und schlug die bezeichnete Nummer auf, sie las den ersten Vers: »Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält, wo anders als in Jesu Wunden, da lag er vor der Zeit der Welt, der Grund, der unbeweglich steht, wenn Erd' und Himmel untergeht.«

Das war's, was Minchen und Jettchen Halt gab im Leben, das war's, was sie geduldig machte der alten Mutter gegenüber, ja – den Grund hatten auch die Eltern gefunden, das fühlte sie jetzt. Sie waren gegründet in Gott, und sie war es nicht. Daher das Unbefriedigte, weil sie alles, was sie tat, um ihrer selbst willen tat und nichts um des willen, der sie auch zu seinem Eigentum begehrte. Tränen rannen über ihre Wangen, sie gedachte der alten Zeiten, der vorigen Jahre, sie gedachte der seligen Mutter und ihres letzten Gespräches; jetzt wußte sie, daß auch die teure Mutter diesen Grund gefunden und durch den Glauben an Christum die himmlische Herrlichkeit erreicht hatte.

Mit einem Blick nach oben und einem Seufzer, der durch die Wolken dringt, legte Magda das Buch beiseite. Es war, als erwache sie aus einem langen bösen Traum. Bisher hatte sie für sich selbst gelebt, sie selbst war der Mittelpunkt gewesen, um den sich alles drehte.

Jetzt leuchtete ihr in der Ferne ein anderer Mittelpunkt, der Stern aus Jakob, dem die Weisen nachforschten, bis sie ihn gefunden, der stand auch ihr plötzlich als höchstes Ziel vor Augen. Ja, es gab etwas, welches alle Leidenschaften besiegte, welches in den Stürmen des Lebens der Seele den wahren Frieden verlieh, es gab etwas, welches entschädigte für verlorenes Glück, zerstörte Hoffnungen, täuschende Blendwerke; sie wollte dem nachjagen, ob sie es ergreifen möchte. Noch lange lag sie wach, mit dem Seufzer auf den Lippen: »Herr, hilf mir, Herr, nimm mir, was mein ist und gib mir, was dein ist.« Sie sah noch den Tag anbrechen, sie hörte einen Wagen vorfahren und wußte, daß Fritz Wendt abreiste. Jetzt rollte er davon und mit ihm die schönsten Hoffnungen ihres Lebens. Als das Geräusch in der Ferne verhallte, legte sie den Kopf müde zur Ruhe und schlief ein, schlief, bis die Sonne hell und warm ins Fenster schien.

Gott der Herr hatte ihr ein großes, irdisches Gut genommen, aber nur, um ihr etwas anderes, besseres, wiederzugeben. Der Weingärtner hatte seine Rebe beschnitten, damit sie nicht verdorre, sondern neu grüne und blühe und einst Früchte bringe fürs ewige Leben.

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