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3. Goldenau.

Zwölf Jahre sind dahin gegangen. In dem schattigen Park, der zu dem herrschaftlichen Hause von Goldenau gehörte, saßen zwei junge Mädchen in eifrigem Gespräch. Die eine, schon in den zwanziger Jahren, war eine stolze Brünette, die etwas Selbstbewußtes, Fertiges hatte. Man sah es ihr an, daß sie genau wußte, wer sie war und was sie konnte. Die andere, jüngere, konnte kaum achtzehn Jahre zählen, sie war schlank gewachsen, von zarter Konstitution, hatte seine Züge, zarte gerötete Wangen, hübsches, aschblondes Haar und kleine, lebhafte, kluge Augen. Sie sah ihre Gefährtin herausfordernd an und sagte: »Du kannst es nicht begreifen, daß ich gern nach Hause möchte, nachdem ich seit meinem sechsten Jahr fern von der Heimat gewesen bin!« – »Fern von der Heimat,« wiederholte die ältere spöttisch. »Ich nenne es nicht fern von der Heimat, wenn man bei einer guten Großmutter erzogen ist, die alles tut, um ihrer Enkelin das Leben reich und schön zu machen. Was hast du zu Hause?« – »Ich habe einen Vater, der mich sehr liebt. Die Mutter soll auch gut sein, nur etwas strenge.«

»Eine Stiefmutter ist unter keinen Umständen etwas Angenehmes. Du stellst dir alles zu ideal vor. Bleibe nur ruhig hier am Rhein auf dem schönen Landgut deiner Großmutter; betrachte Goldenau als deine Heimat, das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.« – Magda, denn sie war es, sah nachdenklich vor sich hin. »Lucie,« sagte sie nach einer Weile, »du magst es ja ganz gut mit mir meinen, aber ich kann den Brief des Vaters nicht aus dem Sinn lassen. Er schreibt: Komm ins Elternhaus zurück, bevor du demselben ganz entfremdet bist.« »Aber er läßt dir ganz freie Wahl. Du sagtest vorhin, er schreibt ausdrücklich: Du sollst es überlegen und einen selbständigen Entschluß fassen. Zwingen wolle er dich nicht.« »Ich möchte ganz gern einmal sehen, wie es bei den Eltern ist; ich habe es ja sehr gut bei Großmutter, aber mitunter ist es entsetzlich langweilig. Ich möchte die Mutter und Geschwister kennen lernen, die große Entfernung machte es unmöglich, daß wir uns sehen konnten.«

»Ich glaubte, deine Großmutter wollte die Deinen nicht sehen, wollte sie nicht bei sich aufnehmen?« Magda wurde rot. »Doch,« erwiderte sie, »Vater ist einigemal hier gewesen. Die Mutter und Großmutter haben ja nichts miteinander zu tun; Großmama war die Mutter meiner verstorbenen Mutter. Sie war böse, daß Vater sich wieder verheiratete, wollte nichts von der zweiten Frau wissen. Ich glaube, die Stiefmutter ist arm und vielleicht von geringem Herkommen, und Großmutter ist stolz.« – »Dafür ist sie bekannt,« versetzte Lucie, »sie wird es dir nie vergeben, wenn du, die du vornehm erzogen bist, nun in die einfachen Verhältnisse zu deinen Eltern zurückgehst.«

Die beiden jungen Mädchen waren während des Gespräches aufgestanden und gingen schnellen Schrittes in der Hauptallee des Parkes auf und ab. Da trat die Jungfer zu ihnen und meldete, daß der Tee bereit sei. »So früh heute!« rief Magda. »Mama will um sieben nach Hause fahren,« sagte Lucie, »sie erwartet Besuch diesen Abend. Nun, Magda, ich denke, wenn wir wiederkommen, ist dein Entschluß gefaßt. Solltest du aber darauf bestehen, zu deinen Eltern zurückzukehren, will ich dir sagen, daß wir im Herbst auch nach B. gehen, um den nächsten Winter dort zuzubringen. Dann können wir ja unsere Bekanntschaft fortsetzen, und wenn es dir bei deinen Eltern nicht gefällt, hast du doch uns!«

In dem Gartensaal saßen die Damen, ebenso eifrig redend, wie die jungen Mädchen es soeben getan. Das Gespräch hatte sich jedenfalls um dieselbe Sache gedreht, es wurde abgebrochen, als Magda und Lucie eintraten. Magda aber hatte doch die letzte Äußerung der Großmutter gehört. Diese, eine alte, stolz aussehende Dame, machte nicht den Eindruck, als ob sie volle, mütterliche Liebe zu geben vermochte. Man merkte sofort an der Art und Weise, wie sie mit Magda verkehrte, daß die herzliche Vertraulichkeit, welche die Familienglieder enger aneinander schließt, fehlte. Magda mochte es weniger empfinden, sie war als kleines Mädchen zu ihr gekommen und seit Jahren an das kühle, vornehme Wesen gewöhnt. Die Großmutter hatte viel für sie getan, sie war ihr großen Dank schuldig, das durfte sie nie vergessen, ihr Vater erinnerte sie immer daran in seinen Briefen.

»Nun, liebe Magda, Sie sehen heute recht nachdenklich aus. Großmama sagte mir eben, daß das Vöglein flügge werden will. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir,« sagte Frau Laube mit einschmeichelnder Stimme. »Sie werden doch Großmütterchen nicht verlassen wollen, wenn sie alt wird; das wäre sehr undankbar. Sie müssen ganz bei ihr bleiben und ihr Töchterchen sein, das sie aufheitert und pflegt.« »Meine Eltern wünschen, daß ich nach Hause komme,« wagte Magda einzuwerfen. »Eltern!« ließ sich nun der Großmutter Stimme vernehmen. »Die Mutter hat sich bis jetzt gar nicht um sie bekümmert; sie bedarf wahrscheinlich einer Stütze im Haushalt und will darum die Tochter nach Hause haben.« »Magda hat es ja hier viel besser,« stimmte Frau Laube ein. »Liebes Kind, Sie wären ja töricht, wenn Sie Ihr schönes, bequemes Leben hier aufgeben wollten, um in enge, kleinliche Verhältnisse zu gehen, nur weil es die Stiefmutter wünscht.« »Mein Vater wünscht es,« sagte Magda in einem Ton, der verriet, daß es innerlich in ihr kochte. Die Großmutter sah sie mit einem strafenden Blick an und fuhr fort: »Ich habe Magda schon heute morgen gesagt, daß es höchst undankbar ist, wenn sie mich treulos verläßt. Wäre sie bei mir geblieben, wäre ihre Zukunft gesichert.« Plötzlich klirrte es und Magdas Tasse lag auf der Erde. »O wie schade,« rief Lucie und sprang herzu, um die Scherben aufzuheben. »Wie ungeschickt,« flüsterte Frau Laube der Großmutter zu. »Das ist kein Ungeschick. es ist Heftigkeit,« sagte diese, »es liegt in der Familie.«

Der Diener, welcher das Klirren gehört hatte, kam, nahm die Scherben weg und setzte dem Fräulein eine andere Tasse hin. Frau Laube aber, welche merkte, in welche Erregung Magda geraten war, lenkte das Gespräch auf etwas anderes, und Lucie, die lieber lustig als traurig war, wußte soviel zu erzählen, daß auch Magda wieder heiter wurde und in den fröhlichen Ton einstimmte. Die Großmutter jedoch blieb verstimmt, sie erwähnte die Angelegenheit nicht mehr, als die Damen sich verabschiedet hatten, entließ aber Magda sehr bald, indem sie Kopfschmerzen vorschützte.

Magda ging in ihr Zimmer. Dasselbe war mit allem ausgestattet, was sich ein junges Mädchen wünschen kann. Es gab Bücher und Bilder, Blumen und unzählige kleine Nippsachen, doch das alles hatte für Magda wenig Reiz. Nur ein Gedanke beherrschte sie: »Du sollst heim zu deinen Eltern!« Ob es nun mehr das Heimatsgefühl war, oder die Lust, etwas Neues zu erleben, bleibt dahingestellt. Die Großmutter wollte sie nicht hergeben, aber sie mußte es doch, wenn Magda selbst erklärte, daß sie forthin bei den Eltern leben wolle. Aber hatte die Großmutter nicht auch Ansprüche? Sie hatte viele Jahre ganz für sie gesorgt, hatte sich ihre Erziehung viel Geld kosten lassen und nun, da sie der Großmutter hätte etwas sein können, wollte sie von dannen gehen. Wenn ihr nur jemand raten könnte! Plötzlich fiel ihr der alte Pfarrer des Dorfes ein. Dieser ihr väterlicher Freund, der sie konfirmiert hatte und stets freundlichen Anteil nahm an allem, was sie betraf, würde ihr sagen können, was das Rechte sei.

»Sieh, da kommt die Kleine vom Schloß,« sagte am folgenden Tage der Pfarrherr zu seiner Gattin, die neben ihm vor der Haustüre saß. »Kleine, sagst du, Väterchen, ich finde, Magda ist sehr groß und schlank geworden, sie hat ganz das Ansehen einer erwachsenen jungen Dame.« »Ich fürchte,« versetzte der Pfarrer, »die alte Dame macht auch noch ein gnädiges Fräulein aus ihr. So ganz gefällt mir ihre Erziehungsweise nicht, in Magda steckt ein guter Kern, aber es wird alles getan, um das Natürliche zu ersticken.« – »Sie hätte, meiner Meinung nach, nur einfacher erzogen werden sollen. Sie kann Französisch parlieren und malen und wer weiß, was alles noch, versteht sich zu amüsieren und die Zeit zu vertändeln. Das, fürchte ich, wird den Eltern, welche, wie ich gehört, die Einfachheit lieben, wenig passen.« »Ich begreife den Vater nicht,« meinte der alte Pfarrer kopfschüttelnd, »daß er sein Kind jahrelang unter diesem Einfluß lassen konnte, zumal er sich so bald wieder verheiratete. Er hätte seine Tochter damals gleich wieder zurückfordern müssen?« »Hat er ja getan, Väterchen,« rief die Pfarrerin. »Es gab ja damals eine große Aufregung. Aber die alte Gnädige siegte, wie immer; sie behielt das Kind, nun müssen die Eltern sehen, wie sie mit ihr fertig werden.« – »Still, sie kommt,« flüsterte der vorsichtige Pfarrer, »sie sieht recht bedrückt aus und läßt die Flügel hängen, was mag es denn gegeben haben?«

Nun war Magda näher gekommen und wurde von den freundlichen Pfarrersleuten aufgefordert, bei ihnen Platz zu nehmen. Bald hatte sie alle ihre Sorgen und Kümmernisse den guten Alten anvertraut und war glücklich, zu merken, daß der Pfarrer den Wunsch des Vaters, seine Tochter daheim zu haben, nur billigte. »Aber liebes Kind,« sagte der väterliche Freund, »haben Sie auch daran gedacht, daß Sie vieles aufgeben müssen, daß Sie im Elternhause die dienende, helfende, älteste Tochter sein müssen, während Ihnen hier aufgewartet wird, Ihnen alles bequem gemacht wird?«

»Ich mag sehr gerne helfen,« erwiderte Magda, voll Eifer glühend. »Großmama wird sehr gut ohne mich fertig, zudem ist Fräulein Albertine, ihre Gesellschafterin, beständig um sie, auch hat sie so viele Freunde und Bekannte in der Nachbarschaft, welche ihr die Zeit vertreiben helfen.« »Aber wenn nun Heimweh kommt nach den guten Tagen, wenn es nun anders zu Hause ist, als Sie es sich gedacht haben, werden Sie dann auch aushalten und nicht die Flinte ins Korn werfen und hierher zurückkehren?«

»Ich werde es nicht tun,« sagte Magda bestimmt, fügte aber gleich hinzu: »Es wird zu Hause schon auch unterhaltend sein.«

Der Pfarrer nahm Gelegenheit, Frau von Busch in den nächsten Tagen aufzusuchen, um so mehr, als sie selbst gewünscht hatte, ihn in der Angelegenheit sprechen zu können. Die Unterredung war lang und ernst. Nachdem der alte Herr gegangen war, ließ die Großmama Magda rufen, sagte ihr, daß sie ihr nichts mehr in den Weg legen würde, sie könne, sobald sich eine passende Begleitung fände, ihre Reise antreten. Magda war glücklich, ihren Wunsch erfüllt zu sehen, sie träumte von allem Neuen und Schönen, was sie erleben würde. Freilich wurde es ihr nun, da die Entscheidung getroffen war, auch schwer, ihr jetziges Heim zu verlassen. Jedes Fleckchen im Garten war ihr lieb, ebenso hatte sie ihre Freunde unter den Dorfleuten, der Dienerschaft und im Pfarrhause. Die Großmutter besaß wohl auch ihre Liebe und Dankbarkeit, aber ein gewisses Etwas trennte sie von ihr. Es war, weil dieselbe weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwester als zu ihr gehörig betrachtete. Magda ganz allein und nur diese war ihre Enkelin, ihre Angehörigen wurden als ganz fernstehende Leute angesehen, ja sie war bemüht, sie den Ihrigen zu entfremden.

Frau von Busch hatte nur eine Tochter gehabt, Magdas Mutter, und einen Sohn, Adolf. Dieser, um mehrere Jahre älter als die Tochter, hatte, da der Vater früh gestorben war und die Mutter ihn verzog, viel freien Willen gehabt. Da er von jeher daran gewöhnt war, seinen Launen und Einfällen zu folgen, so wollte er auch, als er die Schule durchgemacht hatte, seinem Drange nach Abenteuern folgen und auf die See gehen. Dem widersetzte sich die Mutter ernstlich. Da Beide heftig waren und nicht nachgeben wollten, kam es zu aufregenden Szenen. Adolf, der trotzdem seine Mutter leidenschaftlich liebte, verstand sich endlich dazu, noch ein Jahr zu warten, und die Mutter war beruhigt in der Hoffnung, er werde auf andere Gedanken kommen. Ihr Wunsch war, er sollte die Landwirtschaft erlernen, um dann später das väterliche Gut zu übernehmen und ihrem Namen und Geschlecht Ehre zu machen. So wußte sie ihn zu veranlassen, begüterte Verwandte zu besuchen, und bat diese, ihn zu beeinflussen, daß er auf eine landwirtschaftliche Schule gehe. Nach mehreren Wochen schrieb Adolf von dort, daß er von einem Freunde in Westpreußen aufgefordert sei, ihn zu besuchen, dessen Vater habe ein großes Gut und es seien außer ihm noch andere Freunde eingeladen, mit denen sie reiten und auf die Jagd gehen wollten. Das war der Mutter ganz recht, sie gab gern ihre Zustimmung, erbat sich aber von ihrem Sohn die genaue Adresse des zu besuchenden Freundes, da er unterlassen hatte, den Namen desselben zu nennen. Adolf reiste ab, war aber saumselig im Schreiben und ließ längere Zeit vergehen, ohne etwas von sich hören zu lassen.

Da geschah etwas, das den Sohn der Frau von Busch nötigte, Deutschland zu verlassen. Er war für die Seinigen für immer verschollen!

Frau von Busch ließ sich äußerlich nicht viel merken, denn sie besaß eine große Selbstbeherrschung und war stolz. Aber wenn sie allein war, stieß sie oft schwere Seufzer aus und klagte über ihr Unglück.

Die Geschichte mit dem Sohn hatte nicht nur ihren Stolz empfindlich verletzt, sondern auch ihr Herz schwer getroffen, denn sie hatte ihren Adolf sehr lieb gehabt. Und nun? Sie schauderte, wenn sie an den Tag zurückdachte, der sich ihrem Gedächtnis so furchtbar eingeprägt hatte. Es war der schwerste Tag ihres Lebens gewesen, dieser Septembertag. Ihre Tochter Magdalene, damals ein ganz junges Mädchen, war, nichts ahnend, in den nahen Wald gegangen, hatte sich ihr Lieblingsplätzchen aufgesucht und ein Buch aus der Tasche gezogen, um hier in ungestörter Einsamkeit die poetischen Ergüsse eines Dichters, den sie liebte, zu genießen. Da, sie mochte eine Viertelstunde gesessen haben, hörte sie ein Geräusch hinter sich. In der Meinung, es sei ein neugieriges Häschen oder ein Eichhörnchen, deren es viele im Walde gab, achtete sie nicht weiter darauf. Da knisterte es, wie von Menschentritten, und eine Stimme rief ihren Namen. Nun sprang sie auf und sah sich um. Sie war stumm vor Schrecken und Bestürzung, denn hinter ihr stand ihr – Bruder! Aber nicht wie sonst in Kraft und Fülle der Gesundheit, sondern bleich, mit schlaff herunterhängenden Gliedern und mit angstvoller Gebärde. »Magdalene,« rief er, »komme mir nicht zu nahe, rühre mich nicht an – vor dir steht ein – – Mörder.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte laut. Sie glaubte, er sei von Sinnen, aber er wiederholte noch einmal das schreckliche Wort und als sie ihn immer noch starr anblickte, brachte er in Absätzen mühsam die Worte hervor: »Ich – – habe – ihn – erschossen. Wie gut, daß ich dich hier treffe, sei du die Vermittlerin bei meiner Mutter, frage sie, ob sie mir Schutz gewähren will, sonst muß ich über das weite Meer. Noch diese Nacht muß ich fliehen. Eile, die Zeit drängt; ich halte mich hier im Walde verborgen. Heute abend, wenn es dunkelt, erwarte mich an der kleinen Pforte am Ende des Parkes, laß mich ein, daß ich meiner Mutter alles beichten kann, daß ich« –

Tritte von Arbeitern, die im Walde Holz gefällt hatten, ließen sich vernehmen, Adolf war verschwunden, und seine Schwester stand allein mit der furchtbaren Kunde, die sie der nichtsahnenden Mutter überbringen sollte.

Der Wind hatte sich erhoben und rauschte in den Waldkronen; sie hörte immer nur das eine Wort an ihr Ohr tönen: »Ich bin ein Mörder.«

Was sollte sie der Mutter sagen, wie sollte sie ihr das Schreckliche beibringen? Sie wußte es selbst nicht, sie wußte nicht, wie sie ins Haus gekommen. Nur für das eine war sie dankbar, daß die Dienerschaft an diesem Tag zu einer Festlichkeit ins Dorf gegangen war, so war alles still, keine Ohren da, die das Schreckliche hören konnten. Sie stürzte in das kleine Gemach, wo sie ihre Mutter am Schreibtisch sitzend fand. Schreckensbleich fiel sie vor ihr auf die Kniee und schluchzend brachte sie in Absätzen heraus, was sie erlebt. Die Stunde, die nun folgte, erschütterte das junge Mädchen bis ins innerste Mark. Die ganze leidenschaftliche Natur der Mutter kam zum Ausbruch, ihr Stolz bäumte sich, das Furchtbare, welches ihrer angesehenen Familie den Stoß gab, zu begreifen. Darum brach nun ihr ganzer Zorn los gegen den Urheber, gleichviel, ob es ihr eigener Sohn war. Sie wollte, sie konnte ihn nicht sehen, sie wollte nie seinen Namen genannt hören, er sollte keinen Anspruch aus ihre Mutterliebe mehr haben. Die arme Tochter wagte kaum die Mutter zu unterbrechen, aber noch einmal erhob sie ihre Stimme zugunsten des Bruders; meinte, die Mutter solle ihn doch selbst anhören, ihn diese Nacht beherbergen – es war vergebens. Erst als sie schüchtern vorbrachte, daß Adolf dann fliehen müßte, um sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen, entnahm die Mutter ihrem Schreibtisch eine Rolle Geldes, warf sie aus den Tisch, wurde dabei aber wieder so heftig und leidenschaftlich in ihren Ausbrüchen, daß Magdalene das Geld nahm und sich leise entfernte.

Sie ging in ihr Zimmer, sie wußte nicht, was sie tat. Sie hörte die Diener und Mädchen unter Schwatzen und Lachen zurückkommen, es schwirrte ihr vor den Ohren, aber sie achtete nicht darauf. Sie sah nur den bleichen Bruder vor sich, sie hörte nur das schreckliche Wort, das er ihr zugerufen: »Ich bin ein Mörder.« Als es dunkelte, hüllte sie sich in ein Tuch und ging ungesehen in den entlegensten Teil des Parkes. Dort war, von Gebüsch versteckt, eine kleine Pforte, zu der sie den Schlüssel besaß. Wie oft war sie mit ihrem Bruder zusammen durch die kleine Pforte in den nahen Wald geschlüpft, wie fröhlich und harmlos waren sie damals gewesen. Sie öffnete dieselbe leise und horchte hinaus, nichts regte sich. Endlich sah sie vom Walde her eine dunkle, in einen Mantel gehüllte Gestalt kommen, sie näherte sich leise. »Adolf, bist du's?« fragte sie zitternd. »Darf ich zur Mutter kommen?« Sie weinte leise und schüttelte den Kopf, dann gab sie ihm die Börse, welche er nahm, weil er sie nehmen mußte, und sagte bitter: »Das ist alles, was sie für mich übrig hatte, kein Mitleid, keine Liebe, kein mütterliches Wort für den armen, zeitlebens gebrandmarkten Mann. O, mein Gott!« Er schlug die Hände vors Gesicht und Magdalene schluchzte leise: »Hast du denn das Entsetzliche – – mit – – Absicht getan?«

»Mit Absicht getan? Mit Absicht!« schrie er auf. »Hältst du mich denn auch für so schlecht? Trage ich nicht schon schwer genug an dem entsetzlichen Unglück? – Es ist keine Zeit zu verlieren, aber nur das eine noch: ich gäbe mein Leben darum, wenn es nicht geschehen wäre! Das Gericht muß seinen Gang gehen, ich entziehe mich demselben durch die Flucht, weil ich keine öffentliche Schande auf den Namen meiner Mutter bringen will. Derselbe ist ihr mehr wert als ihr eigener Sohn.«

Er schlang seinen Arm um die Schwester, küßte sie mehrmals und dann floh er in den Wald zurück, woher er gekommen, ehe die Schwester fragen konnte, wohin? Sie war so verwirrt und sprachlos durch alles, daß sie später keine klare Vorstellung von der ganzen Sache hatte. Nun war der Bruder fort und keine Kunde drang je wieder an ihr Ohr.

Am andern Morgen war die Mutter dieselbe, die sie immer gewesen. Stolz und vornehm, keine Wimper zuckte; wenn eine Dienerin vielleicht am Abend vorher eine Aufregung an ihr wahrgenommen hatte, so mochte sie denken, es sei irgend eine Unannehmlichkeit der Grund. Nur als ihre Tochter zum Kaffee kam, schlang sie den Arm stürmisch um sie, zog sie ans Fenster und sagte: »Was wir gestern erlebt haben, bleibt unter uns beiden, verstehst du? Ist er fort?« Magdalene nickte.

»Wo ist die Tat geschehen?« »Ich weiß es nicht.« »Wie heißt der Ort?« »Ich weiß es nicht.« Etwas wie Beruhigung glitt über das Gesicht der Mutter. »Es ist jedenfalls weit von hier,« sagte sie, »die Geschichte wird hier nicht ruchbar werden. Weißt du den Namen des Unglücklichen?« »Er nannte keinen Namen, Mutter, es war so schrecklich, wenn du doch Erbarmen gehabt hättest!« »Er hat kein Erbarmen mit mir gehabt, hat mich an der empfindlichsten Stelle getroffen, hat Schimpf und Schande über unser Haus gebracht, darum muß er zeitlebens fern bleiben, darf sich nie wieder unter meinem Dach sehen lassen. O mein Sohn, mein Sohn, der letzte unseres Namens, warum hast du mir das angetan!«

Magdalene hatte schwere Zeiten mit der Mutter, die nicht den Trost an der Quelle suchte, wo er zu finden war. Hätte sie sich demütigen können unter die gewaltige Hand Gottes, so hätte sie die Prüfung hingenommen als heilsame Züchtigung, ja, hätte sie den Sohn ruhig angehört, sie hätte ihn vielleicht nicht so verdammt, wie sie es jetzt getan. Ihre größte Sorge war: ihren Ruhm und ihr Ansehen vor der Welt zu wahren. Darum wurde von Adolf nicht mehr gesprochen. Wurde hie und da gemunkelt, so hörte sie es nicht, wurden Fragen laut nach ihrem Sohn, so hieß es, er sei dem Drange nach Abenteuern gefolgt und in die weite Welt gegangen. Um so unzufriedener war sie nun mit der Tochter Wahl. Sie hatte gehofft, ein Baron oder ein Graf sollte sie heimführen. Daß es ein Forstmann war aus bürgerlichen Verhältnissen, war ihr ein Dorn im Auge. Und als die Tochter nach fast siebenjähriger Ehe die Augen für immer geschlossen hatte, war sie fest überzeugt, daß sie sich zu Ende gearbeitet habe, dachte aber wenig daran, daß die Schreckenstage zuerst den Grund gelegt hatten zu Magdalenens unheilbarem Leiden. Diese, eine stille, innerliche Natur, hatte sich durch das Leid zu Gott führen lassen und suchte auch in ihrer kleinen Tochter die Liebe zum Heiland zu wecken, wie wir es im Anfang unserer Geschichte gesehen haben. Auf ihrem Krankenlager gedachte sie der schwergeprüften Mutter, die durch ihren Tod aller ihrer Kinder beraubt sein würde. Deshalb nahm sie ihrem Mann das Versprechen ab, die Kleine bei der Mutter erziehen zu lassen. Sie hoffte vielleicht, das Band zwischen ihrer Mutter und ihrem Gemahl dadurch fester zu knüpfen. Aber die Menschen sind kurzsichtig; sie treffen oft Bestimmungen, die ihnen die vernünftigsten und gediegensten zu sein scheinen, und später stellt sich heraus, daß gerade das, was für die Erziehung eines Kindes am heilsamsten gehalten wird, zu dessen Nachteil ausschlägt. Hätte Magdalene gewußt, welche Kämpfe ihr Gatte mit der Großmutter haben würde wegen der Rückgabe des Kindes, sie hätte ihr Töchterchen der Hut des treuen Heilandes befohlen und sie ruhig daheim gelassen.

Der Vater Magdas hatte sich bald wieder verheiratet und schrieb seiner Schwiegermutter, daß er die weite Reise unternehmen werde, um seine Gattin ihr vorzustellen und sein Kind, das nun wieder eine Mutter habe, mit heimzunehmen. Darauf kam ein gemessener Brief, worin der Besuch der zweiten Gattin mit kühlen Worten abgelehnt wurde. Die Schwiegermutter fühlte sich gekränkt, daß die Stelle ihrer Tochter so bald ersetzt war, und zwar, wie sie meinte, durch eine nicht ebenbürtige Nachfolgerin. Sie konnte sich nicht überwinden, derselben freundliche Gesinnungen entgegen zu bringen. Die Rückgabe Magdas verweigerte sie, immer auf den Wunsch der Verstorbenen zurückkommend. Der Vater hatte einige Male die weite Reise gemacht, um sein Kind zu sehen, mißgestimmt kam er zurück, weil er mit vielem unzufrieden war. Das letzte Mal war der Forstmeister zur Konfirmation seiner Tochter in Goldenau gewesen und hatte nun entschieden auf ihre Rückkehr ins elterliche Haus gedrungen.

Noch ein Jahr mußte er sie der Großmutter lassen. Als dieses abgelaufen war und Frau von Busch noch weitere Versuche machte, Magda ganz zu behalten, stellte der Forstmeister die Entscheidung in die Hand seiner Tochter, und wir wissen, daß diese zugunsten der Eltern ausfiel.

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