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4. Das Haus in der Langendorffer Allee.

In eine größere Stadt Deutschlands führt uns der Weg. Es war eine lange gerade Straße in der Vorstadt, von einer Kastanienallee beschattet. Da das nächste Dorf den Namen Langendorff trug, so hatte man diese Straße nach jenem »die Langendorffer Allee« genannt. Die einzeln liegenden, von hübschen Gärten umgebenen Häuser gewährten einen freundlichen Anblick, einige zeigten eine vornehme Bauart und konnten mehr als Villen bezeichnet werden, während andere in einfacherem Stil erbaute solchen Leuten zur Wohnung dienten, welche bescheidenere Ansprüche machten. Eins dieser zweistockigen Häuser hatte einen besonders hübschen Vorgarten. Es gab zwar keine ausländische Gewächse und seltene Blumen, aber die zierlich angelegten Beete, mit geschmackvollen, einheimischen Sträuchern und Blumen bekundeten, daß sorgsame Hände hier walteten, daß der Garten mit Liebe gepflegt wurde. Eine freundliche Matrone, die von der Septembersonne angelockt, ein wenig im Freien gesessen hatte, bückt sich eben nach einer verspäteten Rose und bricht sie. Es ist ihr eine besondere Freude, den Duft langsam einzuatmen, und mit dieser Rose geht sie ins Haus. Sie öffnet die Tür zur Rechten, denn links wohnt der Hausbesitzer, und betritt ein helles, freundliches Wohnzimmer, in dem ihre beiden Töchter, Minchen und Jettchen sitzen, eifrig an einem Kleide nähend. Diese beiden schon älteren Mädchen glichen sich wie ein Ei dem andern. Beide schlank und dünn, mit freundlichen, braunen Augen und angenehmen Gesichtszügen. Minchens, der älteren, Wangen waren vielleicht ein wenig mehr gerundet als Jettchens, welche letztere eher einen leidenden Eindruck machte. Auch im Wesen waren sie sich sehr ähnlich, sie waren immer einer Meinung, so daß, wenn eine den Satz anfing, die andere ihn gewöhnlich vollendete. Ein feiner Beobachter hätte herausgefunden, daß Minchen ein klein wenig den Vorrang behauptete, daß sie gewöhnlich die Rede begann, welche Jettchen schloß. Das konnte auch nicht anders sein, denn Minchen war eine ganze Viertelstunde älter als ihre Schwester, und das mußte anerkannt werden.

»Kinder, es ist köstlich draußen, es ist Unsinn, daß ihr die Zeit so verschneidert. Dies ewige Kleidermachen.«

»Liebe Mutter, wir verdienen doch so gut dabei. Wenn wir dies Kleid fertig haben, fliegen wieder zehn Mark in die Kasse,« sagte Minchen.

»Und du weißt, zu welchem Zweck wir das Geld sammeln,« fuhr Jettchen fort.

»Ich weiß nur, liebes Jettchen, daß das anhaltende Nähen gar nicht für dich taugt, du siehst blaß und elend aus.«

»Jettchen macht ja nur die Ärmel und die Röcke. Das ist nicht so anstrengend. Wir haben uns so hübsch eingearbeitet, laß uns doch, liebe Mutter,« bat Minchen. – »Und ich kann gar nichts mehr verdienen, führe ein wahres Schlaraffenleben,« seufzte die alte Frau.

»Du, Mutter? Was würde aus unsern Füßen, wenn du uns nicht die Strümpfe stricktest. Und nicht für uns allein.« – »Nicht für uns allein, auch für die Enkel strickst du.«

Es klopfte. Ein ländliches Mädchen betritt das Zimmer. »Entschuldigen Sie, Frau Forstmeister läßt fragen, ob die Damen ihr wohl mit einem Reibeisen aushelfen könnten, das ihrige ist noch verpackt.« »Von Herzen gern,« rief Minchen und eilte in die Küche, das Gewünschte zu holen. Nachdem das Mädchen gegangen war, bemerkte die Mutter: »Ein nettes, anstelliges Mädchen! Die Mädchen vom Lande gefallen mir besser als die Stadtmädchen, sie bilden sich heutzutage alle soviel ein.«

»Überhaupt,« ließ Minchen sich vernehmen, »scheinen wir sehr liebenswürdige Mitbewohner bekommen zu haben, was man in den paar Tagen davon gesehen.« – »Gefällt mir alles,« fiel die alte Dame ein. »Besonders die Frau Forstmeister hat mein ganzes Herz gewonnen. Als ich im Garten war, kam sie so freundlich auf mich zu und hat lange mit mir gesprochen. Sie hat Interesse für uns, hört, für sie ist unser Vorgärtchen immer offen.«

»Sie haben hinten den großen Garten gemietet.« – »Werden aber gern vorn sitzen mögen. Es ist ja viel interessanter. Man sieht etwas von der Welt, trifft Bekannte – ich für meine Person ziehe es bei weitem vor, vorn in meinem Gärtchen zu sitzen, als hinten eingeschlossen zu sein. Aber freilich, die Leute kommen aus dem Walde, da mögen sie die Einsamkeit lieben.«

»Der Herr Forstmeister ist noch so ein stattlicher, rüstiger Herr, warum er sich wohl schon in den Ruhestand begeben hat?« »Das weiß ich alles,« sagte die Mutter wichtig. »Seine Frau hat mir erzählt, daß er einmal Unglück auf der Jagd gehabt hat, der rechte Arm ist verwundet worden. Seitdem ist der Arm steif und zum Dienst untauglich. Die Leute müssen aber wohlhabend sein, vom Ruhegehalt könnten sie kaum die große Miete bestreiten, sowie alles, was zum Leben in der großen Stadt gehört.« – »Die Kinder scheinen sehr wohl erzogen zu sein, die Knaben grüßen so höflich,« sagte Minchen, während Jettchen einfiel: »Gott gebe, daß wir einen guten Faden zusammenspinnen. Es ist doch schön, wenn die unter einem Dach Lebenden Friede und Einigkeit miteinander haben.« – Minchen begab sich nun an ihre Nähmaschine, um die angefangene Arbeit zu vollenden.

»Früher war das anders,« seufzte die Mutter. »Da saßen wir am Nachmittag gemütlich mit der Arbeit zusammen und es wurde vorgelesen. Jetzt –« »Jettchen könnte etwas lesen,« meinte Minchen, die mit dem Nähen innehielt. »Aber die Ärmel, Minchen,« klagte Jettchen leise, »sie müssen heute fertig werden.« – »Ich mache sie heute abend, wenn die Mutter schläft, wir wollen ihr nur jetzt zu Willen sein,« war die leise Erwiderung. »Jettchen, hole das schöne Buch, das uns gestern Frau Wille brachte, und lies!« Jettchen legte die Ärmel zusammen, setzte sich der Mutter gegenüber ans Fenster und begann mit ihrer sanften, wohlklingenden Stimme vorzulesen. Minchen setzte ihre Maschine wieder in Bewegung, und alles schien nun nach Wunsche zu gehen. Plötzlich rief die Mutter: »Ich verstehe kein Wort; so lange diese abscheuliche Maschine rasselt, ist alles für mich verloren.« »Dann muß ich aufhören,« sagte Minchen etwas ungeduldig, doch sie beherrschte sich schnell und meinte: »Ich kann die Knopflöcher machen, dazu brauche ich keine Maschine.« – Nun war die Harmonie vollständig hergestellt, wenigstens äußerlich. Die Mutter schien, als auch dieser Wunsch erfüllt war, von einer inneren Unruhe ergriffen zu sein. Sie sah auf das unfertige Kleid und prüfte dann Minchens Gesicht. Es war ihr offenbar leid, daß sie ihre Tochter von der Maschine vertrieben hatte. Die Knopflöcher konnte sie abends bei Licht machen, das Maschinennähen ging besser bei Tage. »Jettchen, du kannst jetzt aufhören mit Lesen, es greift mich an,« sagte sie nach einer Viertelstunde. »Und, Minchen, geh doch wieder an deine Maschine, jetzt hast du noch das Tageslicht.« Minchen ging lächelnd. Sie kannte die alte, liebe Mutter, die es im Grunde so gut meinte, es mußte nur mitunter ihren Wünschen Rechnung getragen werden. Wenn sie nur den guten Willen sah, war sie zufrieden.

Frau Ehrlich war schon lang Witwe eines Beamten und lebte von ihrer nicht allzugroßen Pension mit ihren beiden Töchtern, schon älteren Mädchen. Eine Tochter, Emma, war verheiratet an einen früheren Landmann, welcher Verluste gehabt hatte und nun mit seiner Familie in einer ferneren Stadt wohnte, woselbst er ein kaufmännisches Geschäft übernommen hatte. Er hatte aber auch dort mit Sorgen zu kämpfen, so daß Frau Ehrlich oft gezwungen war, mit ihrem Wenigen helfend einzugreifen. Deshalb hatten sich die beiden Töchter entschlossen, mit dem Schneidern, welches sie früher gelernt, um sich ihre eigene Garderobe anzufertigen, etwas Taschengeld zu verdienen. Sie durften es nicht übertreiben, dafür sorgte schon die Mutter; besonders Jettchen, die von zarter Gesundheit war, konnte das anhaltende Sitzen nicht lange aushalten. Sie nahmen deshalb auch nicht alle und jede Kundschaft an, sondern arbeiteten für einen gewissen Kreis guter Bekannter, die ihnen gern die Arbeit vergüteten, da sie sehr geschickt waren und guten Geschmack hatten. Die beiden Mädchen hatten eine gute Schulbildung genossen und standen in der Stadt in allgemeiner Achtung. Sie hatten viele Freundinnen, die gerne bei ihnen einkehrten; die originelle, muntere Art der Mutter hatte für viele etwas Anziehendes, wenn auch manche sich durch allzu offene, ehrliche Äußerungen der alten Dame zurückgestoßen fühlten.

»Es sollte mich freuen, wenn Forstmeisters sich hübsch zu uns stellten, besonders da ich auch eine Forstmeisterstochter bin,« sagte Frau Ehrlich abends vor Schlafengehen zu ihren Töchtern. »Und, Minchen, vergiß nicht, mein Haubenband anzunähen, es liegt auf der Kommode. Aber zerknittere die Haube ja nicht dabei, nimm dich in acht.« – Nun war alles still. Minchen saß noch lange und holte das Versäumte nach, sie hatte versprochen, das Kleid bis zum nächsten Morgen fertigzustellen, und was sie versprach, das hielt sie. So, nun war der letzte Stich getan. Da ertönte aus dem Schlafzimmer die Stimme der Mutter: »Minchen, du sitzest wieder so lange, wird das Licht nicht bald gelöscht? Mein Haubenband vergißt du doch nicht?« »Nein, Mütterchen, ich bin eben dabei, nun ist's fertig, nun gehe ich auch schlafen.«

Im ersten Stock desselben Hauses, dessen untere Bewohner wir soeben kennen gelernt haben, brannte noch Licht, nachdem Minchen das ihrige gelöscht hatte. In einem gemütlich eingerichteten Eckzimmer saß der Forstmeister Binder, Magdas Vater, mit seiner Gattin in traulichem Zwiegespräch. »Morgen abend um diese Zeit ist, will's Gott, unsere Magda unter unserm Dach, wie freue ich mich, daß nun endlich der Zeitpunkt gekommen ist, da wir unser Kind nun wirklich ›unser‹ nennen können,« sagte der Forstmeister, sich vergnügt die Hände reibend. »Ich freue mich auch,« erwiderte die Gattin, »wenngleich ich mir nicht verhehlen darf, daß ich etwas Besorgnis hege, wie sich unser gegenseitiges Verhältnis gestalten wird. Magda ist zu lange fort gewesen, wir müssen darauf gefaßt sein, daß sie sich nicht so schnell heimisch fühlen wird, als wir es wünschen, zumal die Verhältnisse so ganz anders sind, als sie es gewohnt ist.« »Die Verhältnisse sind im Grunde dieselben, es ist nur der Unterschied, daß wir aus Grundsatz und zum Besten unserer Kinder einfach leben und sie zu gottesfürchtigen, tätigen Menschen erziehen wollen, während die Großmutter es liebte, sich und Magda mit Luxus zu umgeben. Darum war es auch für Magda die höchste Zeit, nach Hause zu kommen.«

»Ich will sie so lieb haben, wie meine eigenen Kinder, wenn sie mir nur mit Vertrauen entgegenkommt,« sagte die Forstmeisterin. »Das wird sie ohne Zweifel,« erwiderte der Forstmeister und sah seiner Gattin in die klaren, braunen Augen. »Wer sollte dich sehen und nicht gleich Liebe und Vertrauen zu dir haben.« Die Gattin errötete und sagte: »Ich fürchte, die Großmutter, die sich so unfreundlich zu mir stellte, die sich nicht die Mühe nehmen wollte, mich kennen zu lernen, wird Magda gegen mich eingenommen haben. Ich habe noch eine Bitte. Laß Magda nicht wissen, daß wir reich sind.« – »Daß du reich bist. Nein, so wenig die andern Kinder etwas gemerkt haben, daß du durch den Tod deiner Eltern eine reiche Frau geworden bist, braucht auch Magda nichts davon zu wissen, wenn es dein Wunsch ist.« »Ich möchte gern, daß Magda mich um meiner selbst willen lieb gewönne, und nicht um des Geldes willen. Und nun sage nicht wieder, lieber Mann, daß ich reich bin. Was mein ist, ist dein,« sagte die Forstmeisterin und erhob sich, um schlafen zu gehen.

Sie war eine hübsche, angenehme Erscheinung, das feingeschnittene Gesicht mit den geistvollen, dunklen Augen hatte etwas Anziehendes, doch konnten die Züge etwas Festes, Strenges annehmen, wo es sich um Recht und Wahrheit handelte. Sie war eine treue Gattin, eine sorgsame Mutter, eine tüchtige Hausfrau. Ein eigenes, zehnjähriges Töchterchen, Luise, machte ihrer Erziehung alle Ehre; ihre beiden Knaben, acht- und neunjährig, berechtigten zu den schönsten Hoffnungen. Der Forstmeister war ein vielseitig begabter Mann, durch sein biederes, treues Wesen überall gern gesehen, um seiner Tüchtigkeit willen sehr geschätzt. Es wurde allgemein bedauert, daß er durch den Unfall seine Stelle aufgeben mußte, er selbst hatte sich schwer darein ergeben. Er wollte nun der Erziehung seiner Kinder leben und hatte deshalb diese größere Stadt zu seinem Wohnsitz erwählt, auch darum, weil die Lage eine besonders schöne war. Luft und Natur waren ihm unentbehrlich zum Leben; die Vorstadt mit den schönen grünen Bäumen erinnerte etwas an den heimatlichen Wald; die getrennte Lage der Häuser ließ ihn nicht das Beengende des Stadtlebens empfinden. Allerdings mußten sie sich an das Zusammenleben mit den Hausgenossen gewöhnen; doch das Haus hatte nur zwei Stockwerke außer dem Erdgeschoß. Mit den freundlichen Damen unten war schon oberflächliche Bekanntschaft angeknüpft: der Wirt und die Wirtin, welche die andere Seite des Erdgeschosses bewohnten, waren gefällige, gute Leute, die Frau Radke hatte beim Einzug zur Forstmeisterin gesagt: »Ich lege keinem Menschen auch nur einen Strohhalm in den Weg, und wenn ich einen liegen sehe, dann bücke ich mich, um ihn aufzuheben.« Mehr war nicht zu verlangen. Wer das zweite Stockwerk bewohnte, war vorderhand nicht zu erfahren, doch das würde ja mit der Zeit alles offenbar werden.

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