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XXII.

Es war das erste und letzte Mal, daß die alte Frau Salomon die Wohnung der Schwiegertochter betreten hatte.

Andere Gäste kamen und gingen, um Agnes zu kondolieren. Aber man hatte es mit dem Gehen eiliger als mit dem Kommen. Man erinnerte sich plötzlich an die arme Renette, die man in ihrer Herzensnot doch nicht allein lassen durfte. Und außerdem gab es so unendlich viel zu tun, ganz abgesehen davon, daß man um Gottes willen nicht lästig fallen oder gar stören wollte.

Agnes Salomon hörte diese Reden, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr wurde übel bei all dem Beileidsgestammel. Watte in die Ohren, eine Binde vor die Augen! Nichts sehen und nichts hören, dachte sie im stillen. Sie war nicht einmal überrascht, hatte es nicht anders erwartet, als daß nach Arturs Tod Verwandtschaft und Bekanntschaft langsam von ihr abbröckeln würden. Ja, diese unzweideutige Scheidung, die ja im Grunde immer bestanden hatte, entsprach ihrem Reinlichkeitsempfinden.

»Rette sich, wer kann,« sagte sie mit einem eigentümlichen Lächeln zu Tante Berta, die puterrot und verlegen wurde und partout den Sinn dieser Worte nicht verstehen wollte. Pulvermacher weinte wie ein Kind.

»Ach, Frau Salomönchen, wie schrecklich ist das Leben trotz Mazzeklößchen, Grieben und Fladen. Dazu muß man alt und grau werden! Ich weiß, er hat mich nicht mehr sehen mögen, hat mich für einen Pfuscher und Ignoranten gehalten. Soll ihm verziehen sein, hätte an seiner Stelle vielleicht ebenso gedacht! Hat sich eingebildet, der Schlemihl, gegen das Sterben sei ein Kraut gewachsen. War er nicht all sein Lebtag ein Schlemihl? Mit der Zange habe ich ihn holen müssen, und auf und davon gemacht hat er sich, noch nicht sechsundzwanzig Jahre alt.«

Pulvermacher wandte sich ab. Die Stimme versagte ihm. Und während es aus seiner Nase rührsam zu tropfen begann, knöpfte er sich den Überzieher zu und reichte dann wortlos der jungen Frau die Hand zum Abschied.

Vor der Haustür traf er Salomon. Und neben Salomon stand Michalowski, der unablässig in ihn hineinredete.

Am liebsten wäre Pulvermacher unter die Erde gekrochen, nur um Salomons Jammer nicht mit anzusehen. Der aber streckte ihm mit einer steten Gebärde die Hand entgegen. Auf seinen Zügen lag ein großer Ernst, eine düstere Entschlossenheit, mit dem Leben fertig zu werden.

Pulvermacher kam aus dem Staunen nicht heraus. Er hatte geglaubt, einen gebrochenen Menschen zu finden, statt dessen schien Salomon ungebeugt, sein Gesicht war ehern und hart.

Pulvermacher blieb das Wort im Halse stecken.

Und als Salomon jetzt mit leiser, fester Stimme, sagte: »Sehen Sie, Doktor, es kommt immer anders als man denkt. Ich hätte darauf geschworen, mein Junge würde einmal für mich Kaddisch Sterbegebet. sagen, und nun muß ich es für ihn tun,« nickte er mit äußerst verlegenem Lächeln. Er kam sich auf einmal so dumm vor. Er begriff überhaupt nichts mehr. Ein paar nichtssagende Worte stammeln und sich eilig davonmachen war eins.

»Der ist wohl ein besonderer Freund von Deiner Schwiegertochter?« meinte Michalowski.

Salomon sah ihn groß und fremd an. Irgend etwas an dem Tonfall des Vetters mißfiel ihm.

»Ich hoffe,« antwortete er kurz.

Sie schwiegen beide eine kleine Weile. Dann hub Michalowski von neuem an: »Du weißt, Salomon, wir haben mit Arturs in Freundschaft und Frieden gelebt. Ich bin sein und seiner Frau Ratgeber gewesen. Und Deine Schwiegertochter ist bei uns aus und ein gegangen. Alles gut und schön! Aber jetzt heißt es, dem Leben ins Auge sehen, sich mit den Tatsachen abfinden.«

Salomon unterbrach ihn: »Worauf willst Du hinaus, Michalowski. Ich bin kein Freund von langem Schmusen.«

»Ich auch nicht,« entgegnete der Vetter. »Doch jedes Ding braucht seine Zeit, und mit der Tür ins Haus fallen, hat auch keinen Sinn. Ich meine also, die Toten in Ehren, aber nun ist es Zeit, sich am die Lebenden zu halten. Und da sage ich: das Gescheiteste wäre, reinen Tisch zu machen; und je eher, desto besser. Natürlich auf eine anständige und noble Art. Mit einem Wort, ich hielte es für das einzig Richtige, wenn Deine Schwiegertochter gegen eine angemessene Entschädigung aus dem Geschäft treten würde. Dann hast Du im Hause Deinen Frieden, und die arme Renette kommt auch zu ihrem Recht! Ach, Salomon, laß mich ausreden. Gewiß, ich hätte warten können, bis Dein Sohn unter der Erde ist. Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach ist jedoch keine Zeit zu verlieren. Und wenn die Operation notwendig ist, soll man auch nicht zögern. Machen wir uns nichts vor, Salomon, diese ganze Heirat ist eine verfehlte Angelegenheit gewesen und ein Unglück für Artur, Dich und Renette. Man hat um Deines Jungen willen Ja und Amen gesagt und sich in das Unvermeidliche gefügt. Nun aber, wo jede Rücksicht fortfällt, lautet die Frage: Wer steht Dir, wer steht uns allen näher, Agnes oder Renette Salomon?«

Der Vetter Michalowski schwieg und horchte auf. Statt aller Antwort vernahm er nur ein tiefes, wehes, leises Lachen.

Salomon erschien ihm plötzlich fremd und rätselhaft. Unwillkürlich mußte er an jenen Nachmittag denken, an dem Artur wie ein Spuk in sein Büro eingebrochen war und durch sein seltsames Gebaren, durch seine aufgerührte Art ihm den Atem benommen hatte. Ein jäher Verdacht stieg in ihm auf. Irgendwo hatte es bei Artur nicht gestimmt, und irgendwo stimmte es auch bei Salomon nicht. Und gerade dieses Ideenflüchtige, dieses Heraustreten aus dem Rahmen der Vernunft und Norm hatte Vater und Sohn, so verschieden sie sonst geartet sein mochten, miteinander verbunden.

Der Vetter Michalowski war äußerst stolz auf seinen psychologischen Befund. Er kam sich in dieser Minute wieder einmal verdammt gescheit vor. Er fühlte sich als Träger der bürgerlichen Ordnung, als Repräsentant des gesunden Menschenverstandes, der sich keinen Wind vormachen ließ. Und dieses Gefühl ließ ein bescheidenes Lächeln um seine Mundwinkel spielen, während er gewohnheitsgemäß die breiten Hände auf den Bauch legte.

Salomon schloß ein wenig die Augen und betrachtete ihn zwinkernd. Und in diesen Sekunden glaubte er tiefer in die menschliche Seele zu schauen als sein ganzes Leben zuvor.

So seid ihr, dachte er, und ein bitteres, feindseliges Gefühl durchdrang ihn. Um die eine zu retten, wollt ihr der anderen den Dolchstoß versetzen.

Er brach plötzlich in ein schallendes Gelächter aus, daß die Vorübergehenden sich verwundert nach ihm umdrehten, und Michalowski einen Moment sich fragte, ob Salomon irrsinnig geworden wäre.

Der aber fand im Nu seine Haltung wieder, und indem er Michalowskis Hand ergriff und fest umklammerte: sagte er: »Wenn ich Dich recht verstanden habe, ist es an der Zeit, Agnes den Stuhl vor die Tür zu setzen und durch die ganze Geschichte einen dicken Strich zu machen?«

Michalowski nickte.

»Hm«, stieß Salomon hervor und schwieg wieder.

Von neuem spürte er, wie die Menschen an ihm zogen und zerrten, wie er am liebsten einen Hammer genommen und alles um sich kurz und klein geschlagen hätte.

Statt dessen entgegnete er mit fester Stimme: »Sei bedankt, Michalowski, ich will mir Deinen guten Rat zunutze machen.«

Dann kehrte er ihm den Rücken, um schnurstracks zu Agnes Salomon hinaufzueilen.

Er traf sie in Arturs Zimmer.

Sie saß an seinem Schreibtisch und schrieb mit solchem Eifer, daß sie sein Kommen nicht bemerkt hatte.

Nun fuhr sie erschreckt auf, einen Augenblick fassungslos durch sein unerwartetes Erscheinen. Aber unmittelbar darauf erhellten sich ihre Züge. Sie eilte auf ihn zu und streckte ihm die Hände entgegen.

»Ich war gerade im Begriff, Dir zu schreiben. Um so besser, daß ich es Dir mündlich sagen kann.«

Sie machte eine einladende Handbewegung, und Salomon setzte sich.

»Nämlich,« fuhr sie fort, »ich wollte dir mitteilen, daß ich mich entschlossen habe, Arturs Begräbnis fernzubleiben. Glaube mir, ich gehöre nicht dahin, möchte auch Deiner Frau den letzten Gang nicht noch saurer machen. Ich denke, Du wirst mich verstehen. Ich möchte ihr nicht im Wege sein. Sie hat das größere Anrecht auf ihn, nach ihr hat er in seiner Todesstunde verlangt. Und ich will meine Totenandacht allein halten.«

Sie hielt einen Moment inne und ließ die Hände in den Schoß sinken. Eine grenzenlose Müdigkeit lag auf ihren Zügen.

Salomon saß ihr in tiefem Schweigen gegenüber. Er fand keine Worte. Er gab ihr in allem recht, war es im stillen zufrieden, daß sie diesen geraden Ausweg gefunden hatte. Denn wer konnte dafür bürgen, daß Renette sich nicht noch am Grabe in ihrem finsteren Haß vergaß und zu einer entsetzlichen Taktlosigkeit hinreißen ließ? Die Wachsmanns und Michalowskis würden äußerst verlegene Gesichter schneiden, Herr Trübsand, Fräulein Traube sich ängstlich beiseite drücken, und Pulvermacher würde vor lauter Mitleid und Scham in die Erde sinken, wenn er, Salomon, schützend vor das arme Kind träte.

Agnes Salomon wußte, was in dieser Stunde in ihm vorging. Sie las es von seiner Miene ab. Er war der beste, gütigste, reinste Mensch auf dieser Erde. Ohne auch nur einen Augenblick zu zaudern, würde er für sie Partei ergriffen haben. Ob er freilich auch der Stärkste war, stand auf einem anderen Brett. Ach, diese armen Juden waren durch tausend und aber tausend Fesseln gebunden, unlösbar an Gott und die Familie gekettet, es gab für sie kein Loskommen. Sie fühlte es in dieser schicksalsschweren Minute.

Sie schüttelte entschlossen den Kopf, als wollte sie mit dieser Bewegung allen unfruchtbaren Grübeleien ein Ende bereiten.

Dann richtete sie sich kerzengerade auf und sagte mit ruhiger, sachlicher Stimme: »Es wird kein erbauliches Zwiegespräch zwischen mir und dem Toten sein. Warum mußte er auf mich fallen und an mir hängen bleiben trotz allen Widerständen? Und warum habe ich schließlich seinem Drängen nachgegeben, ohne meiner inneren Stimme zu folgen? Das ist die Schuld, die niemand von mir abwäscht.«

Da fing Salomon plötzlich zu schluchzen an.

»Laß dem Toten seine Ruhe und schände dich und ihn nicht. Ob Du es gewollt hast, oder nicht, durch Dich allein hat er einmal in seinem armen Dasein sich gehoben gefühlt. So eine Art von Rausch war über ihn gekommen, hatte ihn bis zum Rande angefüllt, daß das Gefäß zuletzt überlaufen mußte.«

Und Salomon hielt sich die Hände vor das Gesicht und weinte unablässig in sich hinein.

Agnes Salomon erhob sich.

Sie wollte Bekenntnis ablegen, und der alte Mann hatte ihr das Wort abgeschnitten, damit das Andenken seines Toten nicht geschmälert würde. Es war ein zu ungleicher Kampf, den sie führte.

Und plötzlich mußte sie schmerzhaft lächeln. Kam es denn überhaupt auf Wahrheit und Bekenntnis an? War es nicht wesentlicher und gütiger, ein Scheindasein zu führen?

»Ich kann es nicht, ich kann es nicht, Salomon,« brachte sie bedrückt hervor, und ein entsetzlicher, erschütternder Ausdruck trat in ihr Gesicht.


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