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X.

Die jungen Salomons kamen als die ersten ins Geschäft und gingen als die letzten. Und Artur machte mit, so sauer ihm das frühe Aufstehen wurde, und so sinnlos ihm dies Abrackern erschien.

»Bin ich nun ein nützliches Glied der Gesellschaft,« fragte er Agnes lachend, »weil ich Koffer und Necessaires verkaufe und Ladenstaub schlucke? Wenn Du mich totschlägst, ich sehe darin eine Kraftvergeudung. Ja, wenn es noch eine Betätigung wäre, bei der ich mit meiner Person in Aktion träte! Aber Händler, Zwischenhändler sein, ich finde es einfach scheußlich!«

Und Agnes erwiderte: »Wenn Du es so auffaßt, daß Du hinter dem Ladentisch stehst, den Glasdeckel aufhebst und zum Kunden sagst: Bitte suchen Sie sich aus, was Ihnen gefällt, dies kostet dreißig Mark und jenes siebenundzwanzig, ist die Geschichte langweilig und öde.«

»Und wie betrachtest Du die Dinge?«

»Im Zusammenhang,« entgegnete sie, »wie Dein Vater es mich gelehrt hat. Ich habe vorher nicht gewußt, was es heißt, Kaufmann zu sein. Aber wie hat Papa mir das beigebracht! Er liebt eben die Ware, mit der er handelt. Er kennt ihre Herstellung. Und Kalkulation ist für ihn nicht ein willkürliches und trockenes Rechenexempel; ja beinahe könnte man behaupten, seine Phantasie arbeitet ebenso dabei mit wie sein nüchterner Verstand. Schade, daß Du bei seiner Unterweisung Dich gedrückt hast. Zu niedlich war es, wenn er mit der Hand zärtlich ein Portemonnaie aus Saffian strich, oder mir auseinandersetzte, wie der Kunde behandelt werden müsse, und daß er nur den Laden verlassen darf mit dem Gefühl, beschenkt zu sein, und wie es ganz und gar nicht gleichgültig ist, ob Du ihm ein Portemonnaie aus Boxleder oder eines aus Krokodil verkaufst. Du lächelst, aber ich sage Dir, ich habe es begriffen, warum das bessere Publikum Leder- und Galanteriewaren gerade bei Salomon kauft. Früher habe ich so einen Katalog, ich möchte sagen, gedankenlos aufgeschlagen. Jetzt weiß ich, wie klug und gut, ja wie raffiniert er gemacht sein muß, wenn er wirken soll. Wie man es sich genau überlegen muß, ob man auf dieser Seite ein Muster abbildet, und auf jener die Preise verzeichnet. Und damit ist es noch keineswegs getan. Auf das Gruppieren kommt es an, und zwischen den teuren Dingen muß plötzlich eine Okkasion stehen, bei der vielleicht gar nichts verdient, am Ende gar zugesetzt wird, und die in ganz Berlin nur bei Salomon käuflich ist. Papa hat mir erzählt, wie sich die Fabrikanten, den Kopf zerbrechen, damit jeden Herbst solch ein Lockartikel fertig wird, auf den wir das Monopol haben, und wie man dabei reinfallen kann, wenn nicht das Richtige getroffen wird.«

»Dir macht es also Spaß?«

»Diebischen. Denn früher war ich ein Ladenmädchen, das die Auszeichnungen ablas und uninteressiert danebenstand, bis der Kunde sich entschlossen hatte. Jetzt lebe ich mit dem Gegenstand und mit dem Käufer. Vorher war ich eine Wachspuppe oder ein Schraubstock, erst bei Salomon bin ich ein richtiger Mensch geworden. Und wenn beispielsweise in meinem Beisein ein besonders schönes Reisenecessaire verkauft wird, so habe ich das Gefühl, als ob ich auf dem Bahnhof stände und ein bißchen traurig von einem guten Bekannten Abschied nähme.«

»Wie seltsam ist das! Ich bringe nicht das geringste Verständnis dafür auf, und Du wirst ordentlich romantisch. Und wenn jemand Dich belauscht hätte, könnte er denken ...«

Artur hielt inne.

»Was könnte er denken?«

»Du wärest ein leidenschaftlich bewegter Mensch.«

»Und was bin ich in Wirklichkeit?«

»Ach, Agnesel, Du bist, wenn man das nur mit ein paar Worten, ausdrücken könnte, gescheit bist Du, klug, hast einen eisernen Willen, und ein bißchen kalt bist Du, und alles in allem der geliebteste Mensch auf Gottes Erden!«

»Das ist eine anständige Zensur,« antwortete sie, »ob sie aber stimmt, ist eine andere Frage!«

Dabei blickte sie ihn mit einem rätselhaften Ausdruck an, und es schien ihm, als ob sie in leisem Spott die Mundwinkel herabzog.

Sie ging in der Tat ganz im Geschäft auf, und Salomon erklärte, daß sie ein kaufmännisches Genie sei.

Von einem Lager in das andere hatte er sie während dieser Wochen geführt und in allen Dingen unterwiesen. Und bald wußte sie besser Bescheid als irgendeiner, kannte sich mit jedem Gegenstand aus, als wenn sie von klein auf mit ihm aufgewacht und mit ihm eingeschlafen wäre; war mit der Fabrikation ebenso vertraut wie mit Einkauf und Verkauf, kannte alle geschäftlichen Korrespondenzen, verkehrte mit den Reisenden, die Ware offerierten, ebenso sachkundig wie mit jenen, die von der Firma zum Verkauf in die Provinz geschickt wurden.

Denn Salomon & Sohn, so hieß die Firma jetzt, machten einen großen und bedeutsamen Teil des Geschäftes draußen in der Provinz. Es gab Spezialitäten, für die sie im ganzen Lande berühmt waren, und worin niemand mit ihnen konkurrieren konnte.

Frau Agnes wollte ihr Gehalt redlich verdienen.

Aber mehr noch als um das Gehalt ging es ihr um Salomons Anerkennung. Ihr Ehrgeiz war erwacht, und wenn er wohlgefällig nickte und schmunzelnd sagte: »Tochter, Du hast ein jüdisches Köpfchen,« strahlte sie vor Vergnügen.

Sie kontrollierte wie eine Herrin die einzelnen Lager. Nichts entging ihren scharfen Augen.

Und nicht nur Herr Trübsand und Fräulein Traube, die Postprokura hatte, flogen, wenn sie in ihre Nähe kam, nein, das ganze Personal bis zum jüngsten Stift geriet in eine gelinde Aufregung, sobald sie sichtbar wurde.

Sie hatte dem Personal gegenüber einen sicheren Ton und wußte ausgezeichnet, Distanz zu halten, obwohl sie niemals laut und unfreundlich wurde. Und allmählich entwickelte es sich ganz von selbst, daß in allen zweifelhaften Fällen die jungen Leute sich an sie wandten, sich von ihr Order holten.

Sie arbeitete mit Fanatismus. Das Geschäft wurde ihre Leidenschaft. Sie liebte es mit einer Intensität, daß sie geradezu darunter litt, wenn die Konkurrenz einen Artikel brachte, der beim Publikum Anklang fand.

Das Salomonsche Geschäft war auf äußerst solider Grundlage aufgebaut. Es besaß einen vorzüglichen Ruf, und es war bekannt, daß es einen großen Reingewinn abwarf.

Und dennoch war sie überrascht, als sie auf Grund ihres tieferen Einblicks gewahr wurde, welch ein Riesenumsatz jährlich erzielt wurde.

Salomon wollte in Anbetracht ihrer Leistungen ihr Gehalt erhöhen.

Sie lehnte es zu seiner Verwunderung entschieden ab.

»Ich melde mich von selbst, wenn es Zeit ist. Ich muß Dir erst beweisen, daß durch meine Arbeit das Geschäft Nutzen hat. Was ich jetzt leiste, sind Handlangerdienste, ich aber will höher hinaus.«

Salomon zog sie weidlich auf. Sie sei eine ganz Gerissene, die sich mit Kleinigkeiten nicht abgebe; und auf den großen Profit lossteuere.

»Meinst Du,« sagte er lachend, »ich wüßte nicht, daß mich Deine Bescheidenheit eines Tages eine schwere Stange Gold kosten wird?«

Sie lachte mit.

»Um so besser,« erwiderte sie, »dann wirst Du nicht auf den Rücken fallen, wenn ich meine Forderung präsentiere.«

Sie trug den Kopf hoch und setzte in aller Stille wesentliche Veränderungen durch. Dabei schob sie in vielen Fällen nach dem Muster der Schwiegermutter Artur vor, blieb diskret im Hintergrunde, zumal wenn es sich, wie man zum Schrecken der Beteiligten bald erkennen sollte, um einen durchgreifenden Wechsel im Personal handelte.

Sie hatte es sehr bald heraus, wo die Tüchtigen, und wo die Trägen standen.

Es wäre verdammt schwer gewesen, sie hinter das Licht zu führen.

Sie kannte die sogenannte Minutentüchtigkeit von früher her. Sie wußte, daß plötzlich Feuereifer gemimt wurde, wenn man sich beobachtet glaubte.

Und als Fräulein Traube im Interesse einiger junger Leute gelegentlich sich schüchtern Einwendungen erlaubte, erhielt sie eine so bündige Abfuhr, daß sie für alle Zukunft weitere Versuche aufgab.

»Es liegt im Interesse des Geschäfts, und mein Mann wünscht es,« gab sie in einem Ton zur Antwort, der jedes weitere Verhandeln ausschloß.

Das Interesse des Geschäfts!

Dies wurde eine fixe Idee bei ihr.

Am liebsten wäre sie auch am Sonntag in den Laden gegangen. Er zog sie wie ein Magnet an. Alles darin erschien ihr zauberhaft und geheimnisvoll, obwohl es doch mit ganz einfachen und natürlichen Dingen zuging.

Es strömte das Gold in die Kasse, und alle Werte waren am Abend vorhanden, vom Zehnpfennigstück bis zum Tausendmarkschein.

Und am frühen Morgen trug man den Haufen Geld zur Bank, wo er, Gott weiß wo, untertauchte.

Waren ballten sich auf und waren plötzlich verschwunden, wurden wieder ergänzt, und versanken wieder, ehe man sich's versah.

Es war ein stetes Willkommen und ein steter Abschied, und die Trennung von bestimmten Gegenständen, an die man gewissermaßen sein Herz gehängt hatte, mußte überwunden werden, auch wenn es einem zuweilen schwer wurde, und man zum mindesten manches Kostbare in andere Hände gewünscht hätte.

Kaufmann sein hieß, kaltes Blut bewahren, hieß hart sein.

Das hatte sie bald heraus. Und es war ganz gleichgültig, ob man mit Rübsamen und Öl handelte, ob man Strümpfe verkaufte, oder lederne Koffer an den Mann brachte.

Entscheidend war die Jahresbilanz. Da stellte es sich heraus, ob und in welcher Höhe der Profit auf dem Tisch des Hauses lag. »Übers Jahr wird man's gewahr,« pflegte Salomon zu sagen.

Und um der schönen Augen eines andern willen wurde kein Groschen nachgelassen.

Agnes äußerte einmal zu ihm: »Sicher seid Ihr Juden die besten Kaufleute. Was ich so fabelhaft finde, ist die scharfe Linie, die Ihr zwischen Familie und Geschäft zieht. Wer Euch hier sieht, erkennt Euch dort nicht wieder: weich wie Butter, und hart wie Stahl. Das soll Euch einer nachmachen.«

Salomon schmunzelte.

»Alte Geschichte! Von nichts ist nichts, und Tachlis Tachlis = Geschäft. und Familie stehen nicht auf demselben Brett. Aber Du, mein Kind, hast Chain, und eine bechainte Christin ist einer Jüdin zehnmal über, das habe ich an Dir gemerkt.«

In einer Sache stieß sie auf heftigen Widerstand. Sie verlangte hartnäckig, daß die Leute besser gestellt würden.

»Wenn das Geschäft nicht so viel trägt, daß das Personal zufrieden ist und sein anständiges Auskommen hat, kann es mir gestohlen werden.«

Und hundertmal erklärte sie Salomon, es müßte sein Ehrgeiz sein, darin der Konkurrenz voranzugehen.

Und wenn er kurz und bündig erwiderte: »Das ist Stuß, mein Kind!« sie ließ sich dadurch nicht im geringsten beirren.

»Nein, Papa, es ist geschäftsklug. Für einen geschliffenen Flakon kannst Du mehr fordern als für einen gepreßten. Und wenn Du hohe Gehälter zahlst, hast Du den Anspruch auf größere Leistungen.«

»Das ist eben Dein Irrtum,« widersprach Salomon. »Die Untüchtigen sind in Fülle da, wie Sand am Meer, und die Tüchtigen kannst Du an den zehn Fingern abzählen. Die letzteren wissen, wo sie bleiben, und sie bleiben nicht lange bei einem, sie etablieren sich selbst. Und die andern, mein Kind, sind in jedem Falle überzahlt. Man kann sie rausschmeißen und kriegt hundert für einen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ihr verkennt die Zeiten. Ich habe an mir selbst erfahren, wie es unter den Leuten gärt. Eines Tages werdet ihr es einsehen, und dann wird es zu spät sein. Im Geschäft braucht man in den meisten Stellen keine Genies, das ist klar. Aber es ist etwas anderes, ob die Leute mit Lust bei der Arbeit sind, oder nur mit Widerwillen ihre Pflicht und nicht einen Strich darüber tun. Ich behaupte, man kann auch eine mittelmäßige Kraft steigern, wenn man ihr größere Chancen gibt. Um eine Vakanz bei Salomon & Sohn müßte ein Gereiße sein. Das Geschäft hätte den Nutzen davon.«

Salomon war nicht überzeugt.

»Wenn Du ihnen heute den kleinen Finger reichst, wollen sie morgen die ganze Hand, und übermorgen genügt ihnen auch die Hand nicht mehr. Das sind neumodische Ideen. Und ich bin zum Umlernen zu alt. Wenn wir einmal aus dem Geschäft gehen, und das wird früher geschehen, als Du denkst, dann reformiert, so viel ihr wollt, aber mir bleibt damit vom Leibe. Artur hast Du auch bereits damit angesteckt, denn vor ein paar Tagen hielt er mir genau dieselbe Rede. Du bist ein Racker!«

Sie überhörte scheinbar seine letzten Worte und nahm ihn unter dem Arm.

»Papa, da wir gerade vom Geschäft sprechen, ich habe noch etwas auf dem Herzen.«.

»Schütte es aus.«

»Man mag gegen das Warenhaus mancherlei einwenden, und ich für mein Teil weiß heute, was das Spezialgeschäft gegenüber dem Warenhaus bedeutet, aber, Papa, was Organisieren anlangt, könnt ihr alle von ihm lernen.«

»Na, na,« warf Salomon mit leichtem Spott ein.

»Es ist so, Papa. Der Chef eines Warenhauses hat das Ganze im Auge. Er weiß, daß das Geschäft über die Person geht, infolgedessen haben seine Leute bestimmte Positionen, jeder Ressortchef hat das Recht, zu disponieren, weitgehende Bestimmungen zu treffen. Dafür trägt er auch die Verantwortung und fliegt, wenn er Dummheiten macht. Aber in unserem Geschäft, Papa, gibt es nur Maschinen. Ihr habt alles auf Eure Augen gestellt. Und wenn, was Gott verhüten möge, Euch einmal etwas zustößt, steht der ganze Apparat still. Ihr habt keine richtigen Kräfte, denn mit Herrn Trübsand und Fräulein Traube werdet Ihr das Rennen nicht machen. Und ich weiß auch, weshalb es so bei uns ist. Ihr seid mißtrauisch. Ihr wollt nicht, daß man Euch in die Karten schaut, oder gar nachrechnet. Ihr habt Angst vor dem Neid der Menschen, möchtet nicht als reich gelten und möchtet keine Gehälter bezahlen. Und das ist grundfalsch. Es nützt Euch zudem gar nichts, im Gegenteil, es wird maßlos übertrieben, und ein zehnmal größerer Gewinn Euch nachgerechnet, als ihr ihn tatsächlich habt. Aber das erscheint mir im Grunde nebensächlich, es kommt auf etwas total anderes an. Ich sagte es bereits: das Geschäft muß über die Person gehen, muß über uns hinauswachsen. Gegen das Sterben ist kein Kraut gewachsen, weg müssen wir alle, aber die Firma Salomon & Sohn bleibt, wenn wir alle längst ins Gras gebissen haben. Und siehst Du, Papa, das ist es, was mich maßlos aufregt und mir Tag und Nacht durch den Kopf geht: Ihr habt die Firma auf die Beine gestellt, und plötzlich ist die Firma viel mehr als ihr. Ist selbstherrlich. Hat von sich aus eine Kraft. Wirkt auf eine geheimnisvolle Art. Die Fäden gehen überallhin, und weiter, als es in Euren Absichten lag. Das ist der Unterschied zwischen Artur und mir. Ich liebe das Geschäft. Nicht weil es den Riesengewinn abwirft, das ist mir im Grunde gleichgültig. Ich kann ein Beefsteak, ich kann zwei Beefsteaks verzehren, beim dritten muß ich bereits haltmachen. Mehr als sattessen kann sich niemand. Nein, das Phantastische der Geschichte lockt und reizt mich. Man ist auf einmal, ohne es zu wissen, aus dem Alltag heraus, treibt nicht mehr, wird getrieben.«

Salomon lachte herzlich.

»Das ist eine goitische nicht-jüdisch, christlich. Art, die Dinge zu sehen,« entgegnete er, »und mir könnte blümerant zumute werden, wenn ich nicht wüßte, daß Du ein jüdisches Köpfchen hast. Bei uns heißt es, für das Gewesene gibt der Jude nichts, aber noch weniger für das Zukünftige. Für alle Ewigkeiten kann ich nicht aussorgen. Und wenn Artur das Geschäft nicht übernommen und es vorgezogen hätte, von seinen Zinsen zu leben, so würde ich mich auch darein gefunden haben. Spekulationen, wie Du sie angestellt hast, liegen mir nicht. Für mich hatte das Geschäft, solange ich denken kann, einen prosaischen Hintergrund. Geld wollte ich machen, um unsere alten Tage und Arturs Zukunft zu sichern. Ob dann die Firma noch weiter Bestand hat, aufgelöst oder verkauft wird, war mir so gleichgültig, daß weder die eine noch die andere Möglichkeit mich sonderlich interessiert hat. Und weshalb sollte ich mir den Kopf zerbrechen? Man hat ohnehin sein Päckchen zu tragen, wir können beide davon ein Lied singen!«

Und Salomon sah sich plötzlich scheu um, als hätte er Furcht, belauscht und beobachtet zu werden.

»Das war ein ausgiebiger Schwatz,« meinte er dann verlegen, »mir ist ordentlich warm dabei geworden.«

»Mir auch,« versicherte die junge Frau.

»Komm, gib mir Deine Hand, man soll nicht kleinmütig und schwach werden.«

Agnes blickte ihn fröhlich an.

»Ich bürge für mich,« erwiderte sie und hielt seine Hand über Gebühr lange fest.

Er machte sich mit einer raschen Bewegung los und eilte in sein Kontor.

Eine kleine Weile stand sie wie versunken da, allerhand unruhige Gedanken schossen ihr durch das Hirn.

Sie wußte, daß Vater und Sohn unter dem Drucke von Frau Salomon standen, wußte, daß bei den Alten sich die leidenschaftlichsten Auftritte abspielten, während sie der Schwiegermutter mit einer überlegenen Heiterkeit gegenübertrat, die von Tag zu Tag wuchs, je stärker sie sich in ihrem Machtbereich fühlte.

Diese ihre gute Laune empfand die alte Frau als den größten Hohn, als die niederträchtigste, abgefeimteste Art, sich über sie lustig zu machen.

Wenn Agnes ihrem Manne einen Auftrag gab, und dies geschah vielleicht mit besonderer Vorliebe in Gegenwart der Schwiegermutter, so ergriff Frau Salomon eine ohnmächtige Wut.

»Was bist Du für ein Gamel!« Dummkopf. fauchte sie Artur einmal an. »Und was bildet die Person sich eigentlich ein? Spielt sich auf und tut, als ob Du ihr Meschores Diener. wärst. Und Du stehst da und muckst Dich nicht. Ein Mann willst Du sein? Ein Waschlappen bist Du, ein Narr, der nach der Pfeife seiner Frau tanzt.«

Artur schwieg beharrlich. Er wußte, daß jedes Wort ihren Aufruhr steigerte und widerwärtige Szenen hervorrief, Szenen, vor denen er ein Grauen hatte, die mit einer Flut von Beschimpfungen begannen und mit dem aufgelösten Schluchzen eines zerrissenen Menschen endeten.

Er sah, wie sie mit jedem Tag mehr verfiel, fühlte, wie sie ihn und den Vater im stillen dafür verantwortlich machte.

Und dabei hatte er nur einen schwachen Begriff von der Tragödie, die sich in ihr abspielte.

Nicht nur im Hause fühlte sie sich ausgeschaltet.

Ganz allmählich hatte Agnes auch im Geschäft die Zügel an sich gerissen.

Es verging kaum ein Tag, an dem Frau Salomon sich nicht vor neue Tatsachen gestellt sah. Und bald war es an der Tagesordnung, war es so weit gediehen, daß man die Dreistigkeit besaß, über ihre Anordnungen einfach hinwegzuschreiten.

Stellte sie mit mühsamer Selbstbeherrschung das Personal zur Rede, ließ sie sich Herrn Trübsand oder Fräulein Traube kommen, so zogen diese höchst verlegene Gesichter und versicherten achselzuckend mit einem hilflosen Ausdruck im Gesicht: »Die jungen Salomons haben es so gewollt.«

Wenn sie dann zähneknirschend Salomon auf den Leib rückte, endete es gewöhnlich damit, daß er unmutig das Zimmer verließ.

»Wirf die Bestie hinaus, oder ich gehe!« hatte sie gedroht.

Salomon hatte an sich gehalten und mit äußerer Ruhe geantwortet: »Ich bin doch nicht verrückt, Renette! Und warum soll ich einen Krakeel anfangen, wenn ich sehe, daß alles, was sie anfaßt, gescheit ist und dem Geschäfte nützt. Wenn ich den Mund halte, kannst Du Dich auch fügen. Es ist das Natürlichste von der Welt, daß die jungen Leute Ehrgeiz haben und sich auf eigene Faust betätigen wollen. Anstatt sich über die Kinder zu freuen und Gott zu danken, daß sie mit ihrer Energie aus Artur einen richtiggehenden Kaufmann gemacht hat, möchtest Du ihr am liebsten die Luft, die sie atmet, wegschnappen.«

Frau Salomon war kreideweiß geworden. Und dann trat plötzlich eine hektische Röte auf ihre Backenknochen

»Meinst Du?!« brachte sie keuchend hervor. »Und wenn Du glaubst, daß ich jemals in dem Luder meine Tochter gesehen habe, dann bist Du auf dem Holzwege! Eingedrängt hat sie sich und mich auf meine alten Tage zugrundegerichtet! Und Du alter Narr stehst da, als ob Dir die Augen verbunden und die Ohren zugestopft wären, siehst nichts und hörst nichts, bis das Malheur über Dich hereingebrochen ist.«

Salomon litt. Er hätte mit der Faust auf den Tisch schlagen mögen, wenn er nicht solches Mitleid mit ihr empfunden hätte.

So würgte er seinen Ärger hinunter und sagte: »Ich sehe, daß unser einziges Kind glücklich geworden ist, sehe, daß Artur sich nichts anderes wünscht, als mit dieser Frau zusammenzuleben, daß er durch sie seine Scheu vor der Arbeit überwunden und seine kostspieligen Gewohnheiten aufgegeben hat. Ich sehe, daß sie im Geschäft mehr zuwegebringt als zehn andere, weder Aufwand treibt noch als große Dame sich aufspielt und dabei ihr Haus musterhaft in Ordnung hält. Und Du möchtest, ich soll das alles damit quittieren, daß ich ihr die Zähne zeige, die Ladentür öffne und sage: Hier hat der Zimmermann das Loch gelassen, ich habe die Ehre! Und nimm einmal an, ich könnte mich dazu verstehen. Was hättest Du erreicht? Das glatte Gegenteil von dem, was Du beabsichtigst. Denn Artur, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, würde nicht eine Sekunde schwanken. In der Wahl zwischen ihr und uns gäbe es für ihn kein Überlegen, um so weniger, als Du ihr nicht das mindeste vorwerfen kannst. Der Junge würde mit Recht sagen: Wenn meine Eltern meschugge geworden sind, ist das kein Grund, daß ich mein Haus niederreiße! Renette, nimm Verstand an. Und wenn Du für sie keine Neigung aufbringst, zur Liebe kann man niemanden zwingen, so höre mit diesem Haß auf, der uns allen das Leben sauer macht.«

»Bist Du fertig, Salomon?«

»Ja, Renette!«

Sie maß ihn mit einem bösen, höchst eigentümlichen Blick, der ihm lästig wurde und ihn reizte.

»Was hast Du denn?« fragte er ungeduldig.

Sie schwieg noch immer und hielt ihn mit ihren Augen umklammert, als wollte sie sein Innerstes ergründen. Dann schien sie einen Anlauf zu nehmen, als wäre sie entschlossen, ihre Last auf ihn abzuwälzen, ihm ins Gesicht zu schreien, was Tag und Nacht leise Stimmen ihr zuraunten.

Aber im letzten Moment gab sie es auf. Und kaum hörbar stieß sie hervor: »Salomon, Salomon, nimm Dich in acht!«

Von dieser Stunde an veränderte sich ihr äußeres Dasein von Grund auf.

Sie begann menschenscheu zu werden.

Und wenn, wie bisher jeden Freitagabend bei Salomons die Lichter in silbernen Leuchtern brannten, der schneeweiße Barches, in große Scheiben geschnitten, wie ein köstlich duftender Leckerbissen den Gästen entgegenlachte, und dann pünktlich um sieben Uhr Artur mit Agnes, Michalowskis, Wachsmanns und Sanitätsrat Pulvermacher sich zu Tische setzten, blieb sie allein in ihrem dunklen Schlafzimmer. Und kein Bitten, kein Drängen von Vater und Sohn konnte sie bewegen, ihre Einsamkeit aufzugeben.

Der Fisch wurde aufgetragen, denn es war gang und gäbe, daß jeden Freitagabend Hecht in grüner Petersilientunke serviert wurde, und Salomon präsidierte allein oben an der Tafel. Und dann wurden aus einer großen Terrine Mohnpilen gereicht, und am Schluß gab es Fladen, schwere Fladen, die vor Fett nur so trieften, und die niemand so zubereiten konnte wie Salomons alte Köchin.

Die Gäste ließen es sich schmecken. Und wenn anfangs noch gefragt wurde: »Wo steckt eigentlich Renette?« so hörte dies allmählich auf, als man merkte, daß derlei Erkundungen unliebsam aufgenommen würden.

Nichts hatte Salomon unversucht gelassen, um ihren Eigensinn zu brechen. Vergebens! Auf alles gütige Zureden hatte sie nur die eine Antwort: »Ich kann sie nicht sehen.« Erschien er an diesen Freitagabenden zuerst übellaunig und verdrossen, so dauerte es nicht lange, bis Agnes ihn aus seiner Trübseligkeit gerissen hatte.

Er hing, wie Artur, an ihrem Munde, wenn sie frisch von der Leber zu erzählen begann, über die Kunden sich lustig machte oder das altjüngferliche Fräulein Traube in ihrer ganzen Zimperlichkeit zu kopieren begann.

Die Stunden flogen, niemand fragte mehr nach Frau Salomon.

Und Wachsmanns und Michalowskis mußten zugestehen, daß Agnes zu repräsentieren verstand und mit einer erstaunlichen Sicherheit sich zu benehmen wußte.

Aber auch an den übrigen Abenden pflegte der alte Salomon kurz nach dem Essen lautlos zu verschwinden.

Es war ja nur ein Katzensprung von der Genthiner Straße nach der Derfflinger-Straße.

Und zu Hause war es so trostlos und einsam.

Bei den Kindern begann er erst aufzuleben.

Die Schwiegertochter verstand es, Gemütlichkeit um sich zu verbreiten.

Salomon bekam den bequemsten Stuhl, und Agnes brachte Kissen auf Kissen angeschleppt, damit er nur ja gut und angenehm säße und sich heimisch fühlte.

Und Salomon saß da, schlürfte den Tee, rauchte seine Zigarre und mußte Stück auf Stück von dem Kuchen essen, den Agnes eigens für ihn gebacken hatte.

Und zuweilen war auch Jaffé da, und man sprach über das Geschäft im allgemeinen oder die Börse im besonderen.

Am schönsten aber war es, wenn Salomon auf Agnes' Drängen die ältesten jüdischen Witze erzählte, an denen sie sich nicht satt hören konnte.

Sie stand dann hinter seinem Stuhl, legte ihren Arm um seine Schulter und lachte in dem gleichen Tonfall, in dem er lachte.

In dieses Lachen hatte sie sich verliebt, hatte es ihm abgelauscht, wenn sie auch nicht bis zu seiner Tiefe drang.

Salomons Lachen konnte sich aber auch hören lassen. Es hatte in seiner purzelnden, rollenden Art und zuletzt in seinem Fall etwas Musikalisches, mit einem Worte, es hatte Melodie. Und Agnes war glücklich, daß sie es um ein Haar so bringen konnte wie er.

Aber Salomon gönnte ihr den Triumph nicht. Plötzlich kreierte er einen neuen, noch nicht dagewesenen Tonfall, der sie völlig irritierte und aus der Balance brachte.

Wenn der Schwiegervater aufbrechen wollte, bat sie so lange, bis er immer wieder ein Viertelstündchen zugab.

Kam er dann spät nach Hause, so zog er sich im Korridor die Stiefel aus, schlich auf den Fußspitzen ins Schlafzimmer und entkleidete sich im Dunkeln, um Renette nicht zu stören.

Er merkte es nicht, oder wollte es vielleicht nicht merken, daß sie trotz der festgeschlossenen Lider kein Auge zugetan hatte.

Und wenn Salomon längst in tiefen Schlaf gesunken war, lag sie noch wachend da, die mageren Hände über die flache Brust gekreuzt, und schlug sich mit ihren Gedanken herum.

Und diese Gedanken jagten hinter ihr her und ließen sie Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen.

Warum hatte Gott ihr das angetan?!

Und wenn er diese Prüfung ihr auferlegte, so mußte er die Qual auch von ihr nehmen können.

Menschen, die gestern noch vor Gesundheit strotzten, fielen plötzlich wie die Fliegen hin, um nicht mehr aufzustehen.

Niemand begriff es, und doch war es so.

Gott mußte sie von ihrer Pein befreien.

Ein Ziegel konnte vom Dache fallen und der Schwiegertochter die Hirnschale zertrümmern, oder der verhaßte Mensch konnte unter die Räder geraten und tödliche Verletzung davontragen.

Ach, Gott hatte so unendlich viel Möglichkeiten, konnte mit Krankheit und Seuche schlagen, konnte aus diesem Labyrinth des Irrsals und Unglücks ihr den Weg ins Freie weisen.

Und wenn Gott sich allen Gebeten verschloß, wenn ihre Wunsch- und Bittkraft versagten, so gab es nur noch zwei Ziele.

Auf beide lenkte sie den Blick. Aber vor dem einen wie vor dem anderen graute ihr.

Wohin gerät ein Mensch in seiner Verzweiflung! Und wer sieht in die Abgründe eines gefolterten Herzens?!

Das Problem des Daseins begann für Frau Salomon sich äußerst einfach zu gestalten.

Für beide war kein Raum. Entweder mußte sie Platz machen oder die andere.

Und es gab Stunden, in denen sie hart und kalt und ruhig die Möglichkeit zu Ende dachte, den Menschen, der ihr den Sohn, den Mann und das Geschäft gestohlen hatte, lautlos zu beseitigen.

Sie stellte sachlich fest, daß nichts in ihrem Gefühl dagegen revoltierte, und daß sie, ohne mit der Wimper zu zucken, oder von Gewissensbissen gepeinigt zu werden, das Unaussprechbare begehen könnte.

Aber dann sah sie Arturs weitgeöffnete Augen, schon als Kind konnte er die Augen so schreckhaft aufreißen, daß es sie geschüttelt hatte, und all ihr Mut schwand.

Der Junge war von diesem Teufel besessen.

Das Blut hatte sie ihm vergiftet; diese verdammte Goite.

Was würde geschehen, wenn er ohne die Person nicht leben könnte und dahinsiechte?

Und wer würde zu ihr halten, wenn irgend ein Zufall die unselige Tat ans Licht brachte?

Und so rangen in ihr der Haß und der Durst nach Vergeltung mit der Angst vor Artur.

Vor Welt und Gericht bangte ihr nicht.

Was war ihr der weltliche Richter?!

Sie hätte ihm ins Gesicht geschrien: Was wißt ihr von meinem Leiden, von meinen Notwendigkeiten?!

Und Rechenschaft hatte jeder nur sich selbst zu geben, es war eine lächerliche Anmaßung fremder Menschen, das Richtamt zu üben.

Ganz langsam entwickelte sich in ihr ein merkwürdiger Prozeß.

Bis zu dem Grade wuchs und wucherte in ihr eine Menschenverachtung, daß bürgerliches Recht und bürgerliche Ordnung sie zu lächern begannen. Sie bekam auf einmal Verständnis für jene Gewaltnaturen, die außerhalb des Rahmens sich stellten und ihre Sache auf eigene Faust führten.

Denn wer von den Menschen half einem in seiner Einsamkeit und Schmerzhaftigkeit?

Gott- und menschenverlassen war sie, Gott und die Menschen hörten ihre Stimme nicht.

Und wenn es über ihre Kraft ging, Hand an fremdes Wesen zu legen, und sie sich heftig um ihrer Feigheit willen schalt, obwohl alles in ihr schrie: Auge um Auge, Zahn um Zahn! so gab es eben nur den anderen Weg: selbst abseits zu treten und Platz zu machen.

Pulvermacher mußte helfen.

Unter irgend einem Vorwand mußte sie sich von ihm die ausreichende Dosis Morphium verschaffen, die den ewigen Schlaf brachte.

Dann war sie die gute Seele, und die andere mochte sich getrost ins Fäustchen lachen, daß sie auf so bequeme Art von ihr befreit war.

Ihr wurde übel, wenn sie Agnes Salomon nur sah. Sie konnte die Vorstellung nicht los werden, sie müßte sie im Schlafe überfallen und ihr die Kehle zudrücken. Im Traume verfolgte sie dieser Gedanke, und dann schrie sie vor Wollust auf, wenn es ihr gelungen war, ihr Opfer, bevor es sich noch rühren konnte, zu erwürgen.

Und während sie es im gesättigten Gefühl der Rache betrachtete, gab sie leise, tierische Freudenlaute von sich und fühlte sich nach all den Martern wieder Mensch.

Nein, ein Judenmädel würde ihr das nicht angetan, würde nicht Vater und Sohn ihr abwendig gemacht haben, hätte einen Weg zu ihr gefunden.

Denn es gab einen Weg zu ihr, wenn man sie zu nehmen wußte. Sie war in ihrem Innern weich, und nur in ihrer unglückseligen Natur lag es, auf ihr Recht zu pochen, um jeden Preis sich durchzusetzen.

Und wenn Salomon ihre Hand streichelte und mit seiner tiefen Stimme sagte: »Sei gut, Renette, das sind doch alles Narreteien, in ein paar Jahren ist alles vorbei, und über uns wächst das Gras, wozu also der unnütze Verbrauch an Kraft und Nerven!« so hätte sie am liebsten mit einem Ja und Amen geantwortet und wäre seinen Worten gefolgt. Sie konnte es einfach nicht.

Es war etwas Dämonisches in ihr, das sie trieb, aufzubegehren und seine Güte mit Heftigkeit und Jähzorn zu erwidern.

War es verwunderlich, wenn Salomon allmählich müde wurde und den Kampf mit ihr aufgab, wenn er zu Hause fror und es vorzog, seine Abende bei den Kindern zu verbringen?!

Sie war ihm gram, daß er so leichten Herzens sie fallen ließ, und wenn sie ihn zehnmal zurückwies, er hätte wiederkommen müssen. Das wäre er ihr schuldig gewesen.

Sie vergaß, daß Salomon es immer und immer wieder versucht, und nur in dem Punkt Schwiegertochter, um den für sie sich alles drehte, nicht nachgegeben hatte.

Er ließ sich nicht gegen Agnes aufwiegeln, darin blieb er unerschütterlich fest.

Sie konnte das Getue nicht mit ansehen, konnte es nicht ertragen, wie die Person um die beiden Männer herumscharwenzelte.

Und wenn sie gar die drei zusammen lachen hörte, stieg ihr die Galle auf.

Die haben obendrein noch ihren Spaß und machen sich über mich lustig, begutsen sich gütlich tun. sich auf meine Kosten, und ich muß beiseite stehen! Wo gäbe es Salomon & Sohn, wenn ich mich nicht geschunden und geplagt, meine sauer erarbeiteten Groschen ins Geschäft gesteckt hätte?!

Frau Salomon zog die letzte Konsequenz.

Zur Verwunderung aller erschien sie eines Tages nicht mehr im Laden, und auch am nächsten und nächstfolgenden Tage ließ sie sich nicht blicken.

Niemand kam, um sie zu holen.

Ein ganz neues Leben begann.

Aus allen Ecken und Winkeln des Geschäfts fing es plötzlich zu kichern und zu lachen an, als ob ein schwerer Druck mit einem Schlage von den Menschen genommen worden wäre.

Und nun war Agnes die unumschränkte Herrin.

Alles fügte sich ihr widerspruchslos.

Mit einem Wink der Augen dirigierte sie, ihr Wort galt.

Salomon & Sohn ließen sie schalten und walten, ließen sie mit den Reisenden verhandeln und mit den Fabrikanten Abschlüsse machen.

In den Lagern wurde das Unterste zuoberst gekehrt: Die einzelnen Ressorts erfuhren eine völlige Neuordnung. Alles wurde anders, erhielt ein verändertes Gesicht.

Und wie verstand sie sich auf das Befehlen!

Die dunkeln Räume schienen hell zu werden, so oft ihre Stimme erklang.

Und wenn die alte Frau Salomon beim Kommen und Gehen gleichsam dunkle Kreise hinter sich her gezogen hatte und man murrend und widerwillig ihren Weisungen gefolgt war, so war das Gehorchen jetzt eine Freude.

Die junge Chefin hatte ein Talent, jeden zur Mitarbeit heranzuziehen und das Selbstbewußtsein des einzelnen zu steigern.

Es wurde auf eine total andere Art als früher bedient. Haltung und Würde forderte sie von dem Verkäufer. Sie verlangte, daß das Personal aufmerksam dem Kunden zuhörte, möglichst wenig und leise spräche. Es war die Parole ausgegeben, sachgemäße Auskunft zu erteilen, aber jedes überflüssige Wort zu vermeiden.

Das nannte Frau Agnes Erziehung des Publikums.

Obwohl der alte Salomon bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, waren die Gehälter gesteigert worden. Trotz der dadurch entstandenen Mehrausgaben hatte sich der Verdienst nicht verringert.

Das war der höchste Trumpf, den Agnes Salomon auszuspielen vermochte.

Über ihre Tätigkeit im Geschäft vergaß sie es nicht, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu pflegen. Sie wußte: der Schwiegervater legte Wert darauf. Vielleicht in ihrem eigenen Interesse.

Und niemand konnte aufmerksamer zu Wachsmanns und Michalowskis sein als Frau Agnes.

Kein Geburtstag wurde vergessen, und abgesehen von regelmäßigen Einladungen wurden zumal Wachsmanns bei jeder Gelegenheit auf zartfühlende Weise überrascht.

Tante Wachsmann begriff nicht, was Renette an dieser Schwiegertochter auszusetzen fand, und Onkel Wachsmann schien in Agnes geradezu vernarrt zu sein.

Mit niemandem sprach er lieber über seine großen Beziehungen und phantastischen Geschäfte als mit ihr. Sie hörte mit einer wahren Engelsgeduld seine Aufschneidereien mit an, amüsierte sich im Stillen über seine Renommistereien königlich und tat, als ob sie ihm aufs Wort glaubte.

Onkel Wachsmann log das Blaue vom Himmel herunter: heute saß er mit Bleichröders Prokuristen im Romanischen Café zusammen und beriet mit ihnen eine neue Transaktion, morgen verkaufte er eine epochemachende Erfindung an das Ausland, und übermorgen war es ein ganzer Häuserkomplex, für den er eine neugegründete Aktiengesellschaft interessiert hatte.

Simon Wachsmann ließ sich nicht lumpen. Mit Bagatellen gab er sich nicht ab. Es waren immer Riesengeschäfte, die der kleine Mann in seiner Phantasie entrierte.

Niemals verließ Agnes die Wachsmanns, ohne der Tante diskret ein Kuvert in die Hand zu drücken.

Beide Salomons konnten sich vor Lachen schütteln, wenn sie nach Hause kam und mit ernsthafter Miene von Onkel Wachsmanns Emissionen berichtete.

»Er war ein Schwätzer und Projektenmacher von Jugend auf,« sagte Salomon, »und ein Besserwisser obendrein. Auf seine alten Tage ist er ein kompletter Narr geworden. Aber was hilft's, die Mischpoche muß man nehmen, wie sie ist.« Michalowski war von ganz anderem Kaliber. Aber auch mit ihm hatte sie leichtes Spiel.

Wenn das Geschäft einen Prozeß hatte, suchte sie ihn persönlich in seinem Büro auf, und brachte den halben Schriftsatz in der Regel gleich mit. Michalowski kniff sie dann regelmäßig in die Backe und meinte: »Schade um Dein Köpfchen, ein Advokat ist an Dir verloren gegangen!«

Und dann begab sie sich in die Privatwohnung, die auf demselben Flur lag, und packte die feinsten Süßigkeiten aus, denn die alte Frau Michalowski war ein Naschmaul und konnte nicht genug von dem Zeug schlecken.

Agnes ödete sich bei der alten Dame eine geschlagene halbe Stunde und hörte mit der größten Ruhe ihre Dienstbotengeschichten an.

Der Schwiegervater wollte es, also war sie mit diesen Leuten gut Freund.

Und ihren Privatspaß hatte sie noch nebenbei, denn die alte Frau Salomon ging in die Lüfte, sobald sie davon hörte.

Mit kleinen Geschenken erhält man sich die Freundschaft, sagte sich Agnes und stopfte den Leuten den Mund, während Frau Salomon gegen das Schenken zeitlebens eine angeborene Abneigung empfunden hatte.

Daß Pulvermacher bei dem jungen Ehepaar aus und ein ging und als Hausarzt bedeutend besser honoriert wurde als bei den alten Salomons war selbstverständlich.

Er war Vertrauensperson bei Artur und bei Frau Agnes.

Artur klagte ihm vertraulich seine Not.

Alles war gut und schön, nur konnte er es nicht verwinden, daß in seiner Ehe der Kindersegen ausblieb. Hätte er aus natürlichen Gründen auf Vaterfreuden verzichten müssen, in Gottes Namen würde er sich damit abgefunden haben. Aber wenn er in allen Dingen ihr nachgab, hier wollte er nicht weichen. Dazu liebte er sie zu sehr, und dazu war er auch viel zu sehr Familienmensch. Ganz abgesehen davon, daß er sich in seiner Manneseitelkeit gekränkt fühlte.

Und Pulvermacher nahm Agnes vertraulich in eine Ecke, um über den heiklen Punkt mit ihr zu reden.

»Frauchen, eine Ehe stimmt irgendwo nicht, wenn keine Kinder da sind. Und eine Frau, die nicht geboren hat, bringt sich um das größte Wunder Gottes, um das tiefste Erlebnis, das ihr blühen kann. Es ist schon etwas Wahres daran: eine Frau ist erst gesegnet, wenn sie ein Kind trägt. Was weiß sie vorher von dem Geheimnis ihres Körpers, von seiner schöpferischen Kraft!«

Agnes Salomon lächelte auf ihre eigene Weise.

»Pulvermacherchen, Sie sind ein halber Rabbiner, und alles, was Sie sagen, klingt nicht nur wunderschön, es stimmt auch im tiefsten Kerne. Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen. Und was versäumen wir denn? Wir sind ja beide noch so jung, Arturchen soll sich gedulden und nicht drängeln.«

Pulvermacher zog wie ein begossener Pudel ab. Sie hatte eine so selbstsichere und kühle Art, die Dinge zu betrachten, verstand es so überlegen abzulehnen, daß jeder Widerstand nutzlos war.

Es gab überhaupt nur einen Menschen, der auf sie wirklich Einfluß hatte, dem sie gefallen wollte, und das war Salomon.

Nicht als ob sie, um dies zu erreichen, irgendeine falsche Rolle gespielt hätte, aber ihr Wesen, das darauf gestellt war, tüchtig zu sein, kraftvoll zuzupacken, und jeden ihrer Untergebenen mit Heiterkeit und Arbeitslust zu erfüllen, wurde durch ihn gesteigert.

Salomon wohlgefällig zu sein, ging ihr über alles.

Punkt elf wurde im Kontor gefrühstückt, und diese halbe Stunde war die schönste vom Tage.

Agnes machte die Wirtin, setzte ihren Herren ausgesuchte Leckerbissen vor und hätte niemals geduldet, daß das Personal durch eine Frage oder Anliegen diese Ruhepause verkürzt hätte.

Sie hätte nicht erklären können, wodurch eigentlich der Schwiegervater auf sie wirkte, weshalb er ihr ein so grenzenloses Vertrauen einflößte.

Wenn er sie väterlich-zärtlich in seine Arme nahm, sein Gesicht an das ihrige drückte, so waren es nicht nur schwiegertöchterliche Empfindungen, die in ihr ausgelöst wurden.

Von Salomon strömte eine geheimnisvolle Urkraft aus, die sich ihr mitteilte. Und wenn die Menschen sonst mit den Jahren welk und alt und saftlos werden, eintrocknen und verfallen, so war er jung geblieben mit seinen weißen Haaren. Sein Körper strotzte vor Kraft, und die Jahre standen ihm gut zu Gesicht.

Artur erfüllte es mit Genugtuung, daß der Vater in Agnes ein bißchen verliebt war, und sie sich anderseits zu ihm hingezogen fühlte. Es schien ihm das ein gerechter Ausgleich gegenüber dem feindlichen Verhalten der Mutter.

Einmal sagte er scherzhaft: »Auf wen von Euch beiden soll ich eigentlich eifersüchtig sein? Vater nimmt mir die Frau fort, und die Frau stiehlt mir den Vater.«

Und dabei lachte er fröhlich und Salomon stimmte den gleichen Ton an.

Auch Agnes tat mit, aber ihr Lachen klang anders, klang fremd in das der Salomons hinein.

Und plötzlich umarmte sie ihren Mann, und als müßte sie sich entladen, als müßte sie klar aussprechen, was in ihr vorging, sagte sie: »Ach, Artur! Du hast, was mich angeht, recht und hast nicht recht. Ich kann Euch beide nicht trennen und habe nie ein Hehl daraus gemacht.«

Sie hielt einen Moment inne und kämpfte mit sich, ob sie ihrem Wahrheitsdrange folgen sollte.

Er ließ sie nicht zu Ende kommen.

»Ich weiß, daß ich durch Vater erst bei Dir im Wert gestiegen bin, und Du mich sozusagen mit in den Kauf genommen hast. Tut nichts! Ich bin ein Teil von ihm. Und liebst Du ihn, so liebst Du mich!«

Salomon wurde ärgerlich.

»Was ist das für ein Stuß! Wie die Kinder führt Ihr Euch auf. Und wenn ein Dritter es mitanhörte.«

»Es hört ja kein Dritter,« unterbrach sie ihn. »Und wenn es ein Kinderspiel ist, führen wir es vor Dir auf, Vater, der unsere Herzen kennt und uns versteht, und den wir nicht belügen wollen.«

»Du redest wie der Talmud.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. Er dachte an Renette, und alle Lebensfreude wurde im Keime erstickt. In welchen Aufruhr würde sie geraten sein, wenn sie zufällig Zeugin dieses Gespräches gewesen wäre.

Er litt unter ihrem Leiden. Er wollte gut zu ihr sein, und sie duldete es nicht. Alles oder nichts, lautete ihre Forderung, und ihn hatte sie zu den Halben, zu den Lauen geworfen, weil er sich zu der Schwiegertochter bekannte, Tatkraft und Energie der jungen Frau bewunderte. Er vermochte nichts Ungerades, nichts Unehrliches an ihr zu entdecken; obwohl er beide Augen offen hielt.

Salomon gestand sich ohne weiteres, daß sie ihm gefiel, aber so, wie einem verliebten Vater seine Tochter gefällt. Ihr Frauenhaftes zog ihn an. Ihre Blondheit stach ihm ins Auge.

Gewiß, sie kam aus einer andern Region, war sachlich bis zur Kälte und kannte keine Gefühlsseligkeit. Ihr Gutsein leuchtete ihm deshalb so ein, weil es in der Vernunft und in der Erkenntnis wurzelte.

Und was sonst fremd an ihrem Wesen war, aus ihrer Christlichkeit und ihrer Rasse sich erklärte, hatte einen Reiz für ihn.

Er begriff Artur. Verstand, daß ihr Körper ihn erregte, denn ihre herbe Fraulichkeit übte auch auf ihn einen Zauber aus.

Und es gab Stunden, in denen ihre Nähe ihn unruhig machte. Aber dann lachte Salomon über sich selbst, weshalb sollte er sich nicht an ihr freuen? Wer stand ihm, außer seinem Jungen, näher?

Kindeskinder wünschte sich Salomon, um seine aufgespeicherte Kraft los zu werden, um sein Alter vor Kahlheit und Einsamkeit zu bewahren.

Und als einmal die Frühstückspause ihr Ende hatte, hielt er die junge Frau zurück.

»Laß mich ein paar Minuten mit ihr allein,« sagte er zu Artur, »ich schicke sie Dir gleich.«

Er legte seine Hände auf ihren Scheitel.

Es kostete ihn einige Selbstüberwindung und dauerte eine geraume Weile, ehe er das richtige Wort, fand.

»Man soll sich nicht zwischen Eheleuten drängen,« begann er langsam, »tue ich auch nicht. Ich frage Dich nur: was ist das für ein Schinderdasein, wenn man arbeitet und arbeitet, sich plagt und quält, ohne zu wissen, für wen? Und bist Du uns den Stammhalter nicht schuldig? Nun gut, ich habe keine Lust, mich davonzumachen, bevor ich nicht sehe, was ihr zustandegebracht habt. Was ist denn unsere Unsterblichkeit? Die Kinder sind's, die vom Vater und vom Großvater erzählen, in denen Vater und Mutter wieder aufleben. Man liegt unter der Erde, fault und modert, und ist doch noch lebendig. Wie oft fallen mir, wenn ich nachts nicht schlafen kann, der Vater und die Mutter ein. Und die Großeltern tauchen plötzlich auf. Ich sehe sie deutlich vor mir. In jeder ihrer Bewegungen! In der Art, wie sie sich trugen, wie sie gingen, und ich höre nicht nur ihre Worte, auch ihr Tonfall klingt in meinen Ohren. Und je älter ich werde, je näher das Sterben auf mich zukommt, um so häufiger sind meine Toten bei mir, um so inniger und ehrfürchtiger fühle ich mich ihnen verbunden. Menschen sind dazu da Kinder in die Welt zu setzen, und das ist eine faule Ehe, die keine Früchte trägt. Ein Mensch, der nicht zu den Auserwählten zählt, nicht die Spuren seines Wesens hinterläßt, lebt, solange seine Kinder und Kindeskinder leben, ist tot, wenn sein Geschlecht ausgestorben ist. Sorge dafür, daß die Salomons nicht sobald abtreten. Dies, Frau Salomon, ist alles, was ich zu sagen habe,« schloß er scherzhaft. »Ich könnte allenfalls noch hinzufügen: Es ist die Pflicht eines anständigen Menschen, B zu sagen, wenn er einmal A gesagt hat! Ach, gib mir keine Antwort und mache keine Ausflüchte. In Wahrheit ist nichts dagegen einzuwenden.«

Er küßte sie auf die Stirn, schob sie zur Tür hinaus und ging mit verschränkten Armen etliche Male in dem kleinen Zimmer auf und nieder.

Ein Kind müßte im Hause sein, dann wäre der Bann gebrochen. Das stand für ihn fest.

Er hätte sehen mögen, ob Renette den Enkel im Arm, es über sich gebracht hätte, diesen unseligen Zustand noch aufrechtzuerhalten.

Und Salomon war vergnügt, daß et es sich von der Leber geredet hatte.

Wie von einem Druck befreit fühlte er sich.


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