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XI.

Seit Frau Salomon nicht mehr den Fuß über die Schwelle des Geschäftes setzte, ging sie jeden Tag, den Gott werden ließ, mit Frau Wachsmann im Tiergarten spazieren.

»Sie werden ja trübsinnig bei dem ewigen Im-Zimmerhocken!« hatte Pulvermacher ärgerlich zu ihr gesagt und nicht eher geruht, bis sie nachgegeben hatte.

Tante Berta fühlte sich. Sie ahnte mancherlei von den inneren Zuständen, ohne doch völlig klar zu sehen.

Auf eine raffinierte Art suchte sie nun genaue Kenntnis der Dinge zu erlangen, was bei dem verschlossenen Wesen der Schwester nicht so einfach war.

Denn Frau Salomon liebte es nicht, über die intimsten Angelegenheiten ihres Hauses zu irgend jemand, die eigene Schwester nicht ausgenommen, sich vertraulich zu äußern.

Und um allem Gefrage ein für alle Male aus dem Wege zu gehen, hatte sie beim ersten ihrer Spaziergänge kurz und bündig erklärt: »Ich habe das Geschäft bis hier herauf, habe lange genug gearbeitet, mögen sich jetzt die Jungen plagen!«

Auf dies Stichwort hatte Frau Wachsmann nur gelauert.

Unaufhörlich begann sie nun Agnes Salomons Vorzüge zu rühmen: welch ein Glück Artur gemacht hätte, und wie Salomons selig sein könnten, solch eine Schwiegertochter bekommen zu haben, arbeitswütig und dabei anspruchslos und bescheiden!

Und dann rühmte sie ihre Herzensgüte und Freigebigkeit, mit allerlei kleinen Spitzen und Stichen gegen die Schwester.

Frau Salomon stierte vor sich hin.

Sie drückt mir die Leber ab, dachte sie und hätte am liebsten aufgeschrien.

Statt dessen biß sie die Zähne zusammen.

Stillhalten, nicht mucksen, sagte sie zu sich selbst. Mögen sie auf dich loshämmern, bis sie dich kurz und klein geschlagen haben.

Als aber, durch dieses Schweigen gereizt, Tante Berta immer höhere Töne anschlug und die Rede darauf brachte, wie Agnes es verstanden habe, auch Salomons Herz zu gewinnen, der neben der Schwiegertochter überhaupt niemanden mehr gelten lasse, da riß ihre Geduld.

Mit einem unartikulierten Aufschrei packte sie die Schwester am Handgelenk.

»Hör' auf!« brachte sie mit äußerster Anstrengung hervor. Und noch einmal wiederholte sie leise: »Hör' auf, oder es ...«

Sie kam nicht weiter.

Frau Wachsmann hatte sich mit einem gewaltsamen Ruck befreit.

»Bist Du verrückt geworden?« murmelte sie. Aber unmittelbar darauf hielt sie inne. Frau Salomons Anblick erschütterte sie.

»Was hast Du denn, Renette? So sprich doch ein Wort!«

Sie nahm sie am Arm, geleitete sie mühsam zur nächsten Bank und redete mit aller erdenklichen Güte in sie hinein.

»Was ich habe?« Frau Salomons tränenlose Augen schienen in der Schwester Inneres dringen zu wollen, »Was ich habe,« sagte sie noch einmal und beugte sich an ihr Ohr, »fort muß ich, hörst Du: fort muß ich!«

Frau Wachsmann starrte sie verständnislos an. Endlich faßte sie sich.

»Bist Du von Sinnen, Renette, und willst Du Dich versündigen? Was fehlt Dir, möchte ich wissen! Nahrungssorgen habt Ihr nicht! Euer Junge ist glücklich verheiratet, und gesunde Knochen habt Ihr Gott sei Dank auch! Wo in aller Welt stecken Eure Sorgen?«

Um Frau Salomons eingefallenen Mund huschte einen Augenblick ein wehes Lächeln.

»Sei bedankt für Deine gute Meinung! Hast recht, am Hungertuche nagen wir nicht. Und, trotzdem, meine Liebe, wenn Du mich fragst, wann ich lieber krepiere, heute oder morgen, werde ich Dir die Antwort nicht schuldig bleiben. Da sitzt neben einem die eigene Schwester, stiert einen an, als ob man ihr Rätsel zu raten aufgibt, und merkt nicht, daß man am Verrecken ist ... Oder«, schrie sie plötzlich auf, »willst Du Dich über mich und mein Unglück lustig machen?«

Sie brach zusammen, und ein krampfhaftes, stoßweises Schluchzen entrang sich ihr.

»Um Gottes willen, was ist los, Renette? Was redest Du für Stuß? Es wird einem ja angst und bange! So sprich doch endlich von der Leber weg! Vielleicht kann ich Dir helfen!«

Frau Salomon schüttelte in unsagbarer Trostlosigkeit den Kopf.

»Es gibt nichts zu raten, und es gibt nichts zu helfen. Aus ist aus! Erst hat sie mir den Jungen gestohlen, für den ich mir die Hände wund gearbeitet habe, dann hat sie mich aus dem Geschäft getrieben, das ich begründet und groß gemacht habe.«

Frau Wachsmann sah sie verständnislos an.

»Es ist so, wie ich sage: Aus dem Geschäft hat sie mich getrieben, hinter meinem Rücken hat sie konspiriert, Mann und Sohn mir aufsässig gemacht, das Personal gegen mich gehetzt, bis ich schließlich keine Luft mehr bekam, nicht mehr japsen konnte und mich davon gemacht habe, um nicht zu ersticken.«

Und als Frau Wachsmann sie beschwor, sich nicht so tolles Zeug in den Kopf zu setzen, durch, das sie selbst elend würde und elend machte, unterbrach sie sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit: »Gib Dir keine Mühe, mich zu beschwichtigen. Ich weiß, was ich weiß: Das ist das ruchloseste Geschöpf unter; Gottes Sonne! Und nicht genug an alledem, den Mann hat sie mir auch noch, genommen, das letzte, was ich besaß, hat mir die Kanaille genommen!«

Einen Augenblick dachte Frau Wachsmann, die Schwester hätte den Verstand verloren, sei von fixen Ideen besessen, redete wirres, irres Zeug und stände, am Rande eines Abgrundes, müßte in die Tiefe stürzen, ohne daß sie ihr zu helfen vermochte.

Frau Salomon schien ihre Gedanken zu erraten.

»Hältst mich für meschugge, Berta, ich sehe es Dir an. Sei ohne Sorge. Ich. habe meine fünf Sinne noch beisammen, weiß, was ich rede. Und wenn Du meinst, ich hätte Salomon ein Verhältnis mit dem Stück angedichtet, so hast Du mich gründlich mißverstanden. Gott bewahre mich davor! Dessen ist Salomon nicht fähig! Die freilich kriegte auch das noch fertig, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Und doch hat sie mir, so wahr ich vor Dir stehe, den Mann genommen. Das Aas hat es so weit gebracht, daß er mich wie einen alten Besen in die Ecke stellt und sich den Teufel darum kümmert, ob ich verkomme. Er hält es in seinen vier Wänden nicht mehr aus und lauert nur auf den Moment, wo er sich drücken und verschwinden kann. Im Geschäft hockt er den ganzen Tag bei ihr, so daß die Menschen bereits tuscheln und sich über ihn das Maul zerreißen, ohne daß er es merkt. Und nach dem Abendessen muß er auch noch einmal zu ihnen hinüber, sonst ist ihm nicht wohl. Verhext und besessen ist er und macht sich zum Narren auf seine alten Tage!«

Unaufhaltsam, von Dämonen verfolgt, keuchend, die Worte überstürzend, mit verzerrten Zügen, hatte Frau Salomon ihre Leidensgeschichte von sich gegeben.

Jetzt brach sie erschöpft zusammen.

Und wie geistesabwesend, mit erloschenem Gesichtsausdruck starrte sie vor sich hin, ein Bild vollkommenen Jammers.

In dieser Stunde fühlte sich Frau Wachsmann durch die Gemeinschaft des Blutes tief mit ihr verbunden. Alle Gegensätze waren vergessen. Sie sah mit ihren Augen, fühlte den ganzen Jammer der Schwester mit, verstummte vor ihrem Schmerz und fand keine Trostesworte mehr. Ihre Miene bekam etwas unendlich Versorgtes.

Und wie die beiden alten Frauen, von ihrem Leid versteinert, zusammengeduckt dasaßen, hatten sie, etwas Mumien- und Greisenhaftes, schienen in den Urgrund ihres Volkes hinabgetaucht zu sein, und auf einmal waren sie das Judenvolk selbst in seinem namenlosen Gram.

Und plötzlich zog die Zeit der Jugend an Tante Berta vorbei, sie sah Renette, die von klein aus nicht geruht und gerastet hatte. Schon im Geschäft der Eltern war sie tätig gewesen, und der Vater hatte immer von ihr gesagt: »Die ist ein Arbeitstier, der ist nicht wohl, wenn sie eine Minute Atem schöpft.«

Und dann hatte Renette den Vetter Salomon geheiratet, hatte weiter geschuftet und sich von früh bis spät gequält, bis sie es endlich geschafft und die Früchte geerntet hatte.

Reich waren die Salomons geworden. Schweiß hatte es gewiß gekostet, aber nun lag auch ein sorgenfreies Alter vor ihnen, und nach all den Mühen und Plagen gab es ein Ausruhen und gemächliches Genießen.

Prosit die Mahlzeit! Da saß die Schwester neben ihr, verfallen und elend. Und sie hätte trotz ihrer engen und dürftigen Verhältnisse um keinen Preis der Welt mit ihr tauschen mögen.

Und mochte sich Renette das alles nur einbilden, und Frau Wachsmann zweifelte nicht daran, daß neben einem Körnchen Wahrheit krankhafte Vorstellungen von ihr Besitz ergriffen hatten, das Elend wurde dadurch nicht geringer. Und darum hatte es keinen Sinn, ihr mit Verstandesgründen zu kommen.

Wenn einer ernstlich krank ist, kann kein Doktor helfen.

Sie streichelte nur beständig ihre Hand, und die Tränen rannen ihr dabei über die runzligen Backen.

»Ach, Renette, ich bin Dir manchesmal gram gewesen und habe Dich darum beneidet, daß Du Dir alles leisten könntest, und jetzt gäbe ich etwas darum, wenn ich Dir helfen könnte.«

»Aus ist aus, und Zoffmachen Ende. ist das einzige, was übrigbleibt, glaube es mir!«

»Nein,« entgegnete Frau Wachsmann, »das ist der helle Wahnsinn! Und wenn Du dreimal recht in allem hättest, so müßtest Du Deine ganze Kraft und Deinen ganzen Willen zusammenraffen, um über die Misere hinwegzukommen! So etwas nur auszusprechen! Sollen die anderes den Naches Ärger. haben, wenn Du ihnen das Feld räumst? Ist das Deine Absicht?«

»Mögen sie sich kopfstellen, ich kann nicht mehr! Berta, es gibt einen Zustand, wo einem alles gleichgültig wird. Wo man nichts mehr hören und nichts mehr sehen will. Nur drei Klafter unter der Erde möchte man sein, um Ruhe zu haben. So weit haben sie mich gebracht.«

»Das sind Schmonzes Rederei, Theater., nimm es mir nicht übel, Renette! Und Salomon und Artur haben es nicht um Dich verdient. Sieh unter Dich, sieh, was andere Menschen leiden müssen.«

»Bleib' mir mit den anderen vom Leibe! Jeder muß mit sich selbst fertig werden, seinen Weg allein finden. Einsam ist man, mutterseelenallein. Und wenn es einem dreckig geht, kann einem nicht der eigene Mann und nicht das eigene Kind helfen.«

Sie reichte ihr die Hand und war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.

Tante Berta stand in sich versunken eine Weile wie gelähmt da.

Dann aber raffte sie sich entschlossen auf. Es gab nur einen Ausweg: Sofort zu Salomon zu gehen, ihm unter vier Augen die volle Wahrheit zu sagen. Er mußte erfahren, wie es um Renette stand, damit er vorbeugen konnte, ehe es zu spät war.

Während sie noch überlegte, welchen elektrischen Wagen sie benutzen sollte, um so rasch wie möglich in das Geschäft zu gelangen, zupfte sie plötzlich jemand am Ärmel.

Als sie sich erschreckt umdrehte, stand Pulvermacher vor ihr, der über das ganze Gesicht grinste.

»Ach, Sie alter Narr Sie,« sagte sie, »können Sie denn Ihre Kindereien, nicht lassen! Mir ist nichts weniger als lächerlich zumute!«

Aber gleichzeitig erhellte sich ihre sorgenvolle Miene, und: indem sie erleichtert aufatmete, fuhr sie fort: »Und dennoch: kommen Sie mir wie gerufen. Und um mich bei der Vorrede nicht lange aufzuhalten: Es steht um Renette verdammt. schlecht und ich bin gerade im Begriff, zu Salomon zu fahren, um ihm meine Meinung zu sagen. Er hat ja keine Ahnung, wie hundsmiserabel es seiner Frau geht.«

Pulvermacher hörte aufmerksam Frau Wachsmanns Bericht an, wackelte dabei ununterbrochen mit dem Kopf, und sein Gesicht wurde immer länger und länger.

»Schlimm, schlimm,« murmelte er kaum hörbar vor sich hin. »Wenn Sie glauben, Frau Wachsmann, das ist ein einfacher Fall, irren Sie gewaltig. Man könnte es fast eine Psychose nennen.«

»Pulvermacher, reden Sie nicht so gebildet. Ich will wissen, was mit ihr los ist, und was geschehen soll!«

»Den klügsten Rat haben Sie sich bereits selbst gegeben: ein offenes Wort mit Salomon sprechen, er soll sich schleunigst mit ihr auf die Bahn setzen und sie in eine neue Umgebung bringen. Wenn sie den Mann ein paar Wochen allein hat, kommt sie vielleicht auf andere Gedanken. Das sind doch krankhafte Ideen, mit denen sie sich herumschlägt!«

Frau Wachsmann zögerte einen Moment.

»Hand aufs Herz, Pulvermacher, trauen Sie der jungen Frau Salomon über den Weg?«

Pulvermacher wurde ärgerlich.

»Sind sie auch schon infiziert? Wenn es bei Ihrer Schwester nicht pathologisch wäre, müßte man ja mit einem Donnerwetter dreinfahren. Es ist ein Skandal, wie sie sich der Schwiegertochter gegenüber benimmt. Sie behandelt sie wie das erste beste hergelaufene Frauenzimmer.«

Das stimmt ja gar nicht, sie meidet sie, geht ihr aus dem Wege, so daß von Behandlung überhaupt nicht die Rede sein kann.«

»Um so ärger! Anstatt sich mit ihr zu freuen, tut sie, als ob sie Luft wäre. Im übrigen, was brauche ich Ihnen das zu erzählen, Sie wissen ja besser Bescheid als ich. Ich mache auch keine Vorwürfe, ich sage einfach, es ist ein krankhafter Zustand, anders läßt es sich nicht erklären.«

Er zog seine Uhr.

»Auf Wiedersehen, Frau Wachsmann, ich muß noch ein paar Besuche machen. Und viel Glück auf den Weg!«

Als Tante Berta das Geschäft betrat, ging sie geraden Wegs auf Salomons Büro los, ohne sich vorher anmelden zu lassen.

Es war ihr lieb, daß sie vorher weder Agnes noch Artur begegnet war.

Sie klopfte mit fester Hand, und auf Salomons »Herein« öffnete sie.

Auf der Schwelle blieb sie, unangenehm berührt, eine Sekunde stehen. Neben Salomon stand seine Schwiegertochter.

Was hat denn die Seege Ausgekochte, durchtriebene Person. beständig hier zu suchen? dachte sie.

Salomon trat ihr herzlich entgegen.

»Das nenne ich einen unerwarteten Besuch.«

Frau Wachsmann machte ein sauersüßes Gesicht.

»Ich störe hoffentlich nicht,« sagte sie, »ich muß Dich nämlich ein paar Minuten sprechen, Schwager, es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.«

»Das klingt ja ordentlich feierlich,« entgegnete Salomon.

Agnes wandte sich zur Tür.

»Ich lasse Euch allein. Bevor Du gehst, Tante Berta, sehe ich Dich wohl noch eine Minute.«

Sie nickte ihr zu und verließ das Zimmer.

»Nimm Platz, Schwägerin. Und nun rede, wo drückt Dich der Schuh?«

Er war fest davon überzeugt, daß Wachsmanns wieder in der Klemme waren und Tante Berta wie gewöhnlich in einer Geldangelegenheit zu ihm kam.

Und da sie mit der Sprache nicht herauswollte, machte er ihr Mut: »Es wird ja nicht so gefährlich sein, also schieß los. Was hat Simon wieder angestellt?«

»Ach, Salomon, diesmal komme ich nicht Simons wegen, und dabei ist mir schwerer ums Herz als je. Es handelt sich mit einem Wort um Renette. Und wenn ich nicht die fürchterliche Angst hätte, sie könnte, ehe wir es uns versehen, sich ein Leid antun, ich hätte mir den Gang zu Dir erspart. Denn es ist und bleibt ein undankbares Geschäft, seine Finger in anderer Leute Angelegenheit zu stecken!«

Salomon fuhr auf.

»Mach' keinen so langen Schmus, Berta, das vertrage ich nicht. Kurz und bündig: Was ist mit Renette los, was ist geschehen?«

Und als Frau Wachsmann alles berichtet hatte und mit den Worten schloß: »Salomon! Niemals habe ich sie in solchem Zustand gesehen. Und wenn ich Dir einen Rat geben darf: Beuge beizeiten vor, damit Du Dir später nicht einmal Gewissensbisse machen mußt,« lag auf seinem Gesicht ein solcher Ausdruck von Pein und mühsam verhaltenem Zorn, daß es sie gereute, den Mund aufgetan zu haben.

»Was hast Du denn, Salomon?« fragte sie eingeschüchtert.

»Bist Du fertig, Schwägerin?«

Sie nickte.

»Nun denn, so laß Dir gesagt sein, daß mir Renette ein Buch mit sieben Siegeln ist. Ich habe weiß Gott genug Zores Kummer. durch sie. Aber was ich jetzt von Dir gehört habe, macht das Maß voll. Ich kann so nicht weiterleben, verstehst Du, das ist ein Zustand, der ein Ende nehmen muß!«

Und Salomon schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, außerstande, sich länger zu beherrschen.

Frau Wachsmann verfärbte sich.

»Um des Himmels willen, Salomon, nimm Dich zusammen!«

Er schlug eine gellende Lache an.

»Komm mir nicht mit solchen faulen Redensarten! Sich zusammennehmen, begreifen, Nachsicht üben, es hat alles seine Grenzen! Entweder ist sie meschugge geworden, und dann kann ich ihr nicht helfen, oder aber, und ich neige fast dazu, das letztere zu glauben, ich habe Renette mein Lebtag nicht gekannt. Siebenundzwanzig Jahre habe ich mit ihr zusammengelebt, Gutes und Böses mit ihr geteilt. Und heute ist sie fähig«, er holte einen Augenblick tief Atem, »eine solche Schweinerei zu begehen! Fahre mir nicht in die Höhe, Berta, es ist eine Schweinerei. Reden wir aufrichtig miteinander, und machen wir uns beide nichts vor, wenigstens in dieser Stunde nicht. Die ganzen Jahre habt Ihr gegenseitig auf einander geschimpft, und Euch nicht ausstehen mögen, und jetzt steckt sie sich hinter meinem Rücken mit Dir zusammen, legt großartige Beichten ab und tut, als ob ich ihr Todfeind wäre! Meinst Du, ich merke nicht, worauf es hinausläuft? Mir will sie alle Schuld aufladen, mich zum Verbrecher stempeln. Laß mich ausreden, Schwägerin, es passiert sonst etwas.«

Und wieder brach er in ein unvermitteltes, jähes Lachen aus.

»Du kennst doch die Geschichte vom kleinen Moritz: Geschieht meinem Vater ganz recht, daß ich mir die Hände erfriere, warum kauft er mir keine Handschuh. So ist es mit Renette, an Gewissensbissen soll ich zugrundegehen, weil sie sich in einen Wahnsinn verstiegen hat. Ich darf mich nicht auf meine alten Tage am Glücke der Kinder freuen, weil es ihr gegen den Strich geht. Sie betritt Arturs Haus nicht, und ist erbost, daß ich es tue. Aus der Schwiegertochter, der kein Mensch was Böses nachsagen kann, macht sie ein durchtriebenes Frauenzimmer. Und weil ich da nicht mittue, bin ich ein Schuft. Agnes dreht sie einen Strick daraus, daß sie als erste ins Geschäft kommt und als letzte geht. Und daß sie zehnmal mehr Grips in ihrem Schädel hat als das ganze Personal zusammen, ist für sie wieder ein Grund zum Hasse. Und nun hat dieser Mensch noch obendrein die Chutzbe Frechheit. gehabt, ihren Jungen glücklich zu machen, das schlägt dem Fasse den Boden aus. Nun sitzt sie, zusammengekauert, das feuerrote Gesicht in tausend Falten gezogen, den ganzen Tag auf dem Sofa und nimmt übel. Sieht aus, daß bei ihrem Anblick einem schlecht werden kann! Mit welchem Recht starrt sie mich, sobald ich in ihre Nähe komme, so böse und drohend an, als ob ich der gemeinste Wicht auf Gottes Erde wäre?! Und versuche ich es immer wieder, ihr mit Güte beizukommen, ihr die Augen zu öffnen, so schneidet sie mir das Wort ab und wird tobsüchtig. Muß ich mir das bieten lassen? Das Haus macht sie mir zur Hölle, so daß ich aufatme, wenn ich die Tür hinter mir zuschlage. Und nun will ich Dir etwas sagen, Berta, ich halte es nicht lange mehr aus. Es kann plötzlich kommen, daß ich Schluß mache und bei meinem Jungen um einen Unterschlupf bitte. So weit bin ich. Manchmal denke ich, das ganze Leben hat sie dir eine Komödie vorgespielt, hat getan, als ob sie mit allen ihren Fasern an dir hinge, und jetzt auf einmal enthüllt sie sich, will aus mir einen Schubiak machen, damit sie selber recht behält! Und wenn sie sich auf den Kopf stellt, ich lasse mit mir nicht Schindluder treiben!«

Die letzten Worte hatte Salomon in leidenschaftlichem Zorn hervorgestoßen. Sein Gesicht, aus dem die Augen beängstigend hervorquollen, hatte eine blaurote Farbe angenommen.

Frau Wachsmann überlief es. Niemals hatte sie ihn so außer Rand und Band gesehen. Der ganze Mensch war in Aufruhr. Und lange aufgespeicherter Gram hatte sich plötzlich entzündet und brannte lichterloh.

Sie fühlte, ein einziger Hauch des Widerspruchs könnte ihn in dieser Stunde zum Äußersten treiben.

Sie erhob sich mühsam. Ganz zerbrochen kam sie sich vor.

»Salomon,« sagte sie leise, und von grauenhafter Furcht geschüttelt: »Es tut mir entsetzlich leid, daß ich gekommen bin.«

Er schien sie nicht mehr zu sehen und zu hören.

Und so schlich sie aus dem Zimmer und wagte erst Atem zu schöpfen, als sie draußen auf der Straße war.

Einige Minuten blieb sie wie angewurzelt auf dem Trottoir stehen, dann fing sie plötzlich unaufhaltsam zu weinen an.

Sie konnte sich später nicht erinnern, wie lange dieser Zustand angehalten hatte.

Es schoß ihr auf einmal durch das Hirn: Am Ende läßt er sich von Renette scheiden!

Und dieser Gedanke hatte für sie etwas ungemein Verführerisches, Erregendes und Beklemmendes zugleich.

Was würde Wachsmann, was würde die Mischpoche dazu sagen!

Und es verdichtete sich bei ihr fast zur Gewißheit, daß Salomon seine Frau verlassen würde.

So rasch sie die Füße tragen konnten, eilte sie zur Haltestelle, um nach Hause zu fahren und Wachsmann die große Neuigkeit an den Kopf zu werfen.

Der wird Augen, Mund und Nase aufsperren, dachte sie.

Dann wieder wurde sie ganz klein in ihrem Innern. Die Tränen liefen von neuem über ihre Backen, Renette fiel ihr ein, und auch mit sich selber hatte sie Mitleid.

War es für Jainkef Jacob., oder mit anderen Worten, war es für die Wachsmanns gut, wenn sich die Salomons wirklich scheiden ließen?

Simon Wachsmann war von der Sache nichts weniger als erbaut.

»Was hast Du Dich dazwischen zu stecken!« äußerte er verstimmt. »Von der Geschichte werden wir allein den Ärger haben. Salomons werden sich versöhnen, und uns werden sie die Tür weisen. Das kommt von dem ewigen Schnattern. Ich habe es Dir immer gesagt: Du bist und bleibst eine Gake!«

»Nun aber hör' auf, Simon! Jetzt ist es genug! Und wer von uns beiden das größere Mundwerk hat, darüber wollen wir uns lieber nicht unterhalten. Ich habe andere Sorgen im Kopf. Ich frage mich, wen ich mehr bedauern soll, Salomon oder Renette. Leid tun sie mir beide.«


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