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XX.

Von Tag zu Tag wurde Arturs Zustand besorgniserregender. Er lag erschöpft, teilnahmslos in seinen Kissen. Alle Lebensenergie war von ihm gewichen. Seine Augen wurden glanzlos und traurig. Und wenn Salomon und Agnes ihn aufzurichten suchten, so lächelte er nur trübsinnig, ohne ein Wort zu entgegnen. Er verweigerte jede Nahrung und wurde gereizt, wenn man mit Bitten in ihn drang.

Zuweilen schien es, als ob er, von einer geheimen Angst geplagt, den Wunsch hätte, sich zu erleichtern. Er machte Miene, irgend etwas zu sagen, aber nach dem ersten Ansatz, kaum daß er ein paar unverständliche Worte von sich gegeben hatte, schloß er die Lippen fest aufeinander, tastete mit der mager gewordenen Hand abwehrend durch die Luft, und kein Laut war mehr aus ihm herauszubringen.

Und plötzlich stieg das Fieber rapide, und das Bewußtsein setzte aus.

Nun geschah etwas höchst seltsames: Er begann unaufhörlich zu phantasieren, und in seinen irren Reden schien die Gegenwart wie ausgelöscht. Er war zurückgesunken in die Zeit seiner ersten Kindheit. Und mit der Stimme eines Kindes verlangte er beständig nach der Mutter. Sie solle ihn abhalten, waschen, anziehen, mit ihm spielen, spazierengehen, ihn in die Schule begleiten und vor dem Schlafengehen mit ihm beten.

Diese Ausbrüche erschütterten Salomon, er beugte sich über den kranken Sohn, legte das bärtige Gesicht auf seine Wange, als könnte er ihn solcher Art beruhigen, und stöhnte in sich hinein. Da fing Artur laut zu weinen an, richtete, sich jäh in den Kissen auf und schrie nach der Mutter.

Agnes trat dicht an Salomon heran: »Hole sie,« sagte sie leise und tonlos, »mein Anblick wird sie nicht stören.«

Er erhob sich schwerfällig, stand in gebückter Haltung vor ihr und blickte sie stumm an. In seinen Augen lag eine demütige Scheu. Wie ein großes Hundetier kam er ihr vor, das den Kummer seines Herrn spürt und in allen Gliedern leidet, weil es nicht helfen kann.

Und auf einmal wußte sie, daß Artur nicht mehr aufstehen würde, sah sie ihn mit starrem Körper unbeweglich daliegen, während sie selbst innerlich ruhig und gefaßt war.

Es fröstelte sie. Ihr Herz klopfte bis zum Halse, und bis zu den Schläfen. Er durfte nicht wissen, was in ihr vorging.

Sie mied es, ihn anzuschauen. Aber was vermochte sie gegen sich selbst? Auch in dieser Stunde konnte sie nicht lügen. Und wenn sie einen Schmerz empfand, so war es: weil Salomon sie jammerte, weil seine Not ihre Not war.

Und dann dunkelte es vor ihren Augen. Ihr Gesicht verlor sich. Sie war außerhalb jeden Zusammenhangs. War weit weg mit ihren Sinnen und ihrer Seele, hatte es nicht einmal wahrgenommen, daß Salomon geräuschlos aus dem Zimmer gegangen war.

Erst als Artur von neuem nach der Mutter rief, erwachte sie aus ihrem Dämmerzustande.

Sie nahm seine Hand: »Gleich wird sie da sein, warte nur noch ein wenig.«

Er entzog sich ihr mit einer unwirschen Bewegung.

Trotz der hereingebrochenen Dämmerung, die den Raum ausfüllte und Mensch und Ding miteinander verwob, glaubte sie zu erkennen, daß er sie mit bösen, haßerfüllten Augen anblickte, als ob er mit einem Schlage sehend geworden wäre und ihre letzten Gedanken erraten hätte.

»Ganz recht hast Du,« murmelte sie vor sich hin, »ganz recht hast Du,« und senkte den Kopf.

Sie hörte Stimmen. Hörte wie das Türschloß ging, und eilte hastig aus dem Zimmer.

Jetzt seid ihr Salomons unter euch, dachte sie, jetzt bin ich ausgeschaltet.

Eine grenzenlose Leere gähnte in ihr auf.


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