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XV.

Es kam eine Zeit, in der Agnes Salomon verstört und von innerer Unruhe gepeinigt ihre Tage und Nächte verbrachte. Sie sah elend aus, war nervös und gereizt.

Wenn Mann und Schwiegervater sie ängstlich anschauten, steigerte sich ihre Qual, und wenn sie drängten, daß Pulvermacher gerufen würde, um sie gründlich zu untersuchen, geriet sie in einen Zustand leidenschaftlicher Erregung.

Aber eines Tages war der Doktor plötzlich da und ließ sich trotz allem Sträuben nicht abweisen.

Artur mußte allein ins Geschäft gehen, und Pulvermacher nahm Frau Agnes' Hand und sagte väterlich: »Jetzt stört uns keine Seele, wir können uns in aller Ruhe einmal aussprechen.«

Sie lachte höhnisch auf, daß er erschreckt zusammenzuckte.

»Was haben Sie denn?« fragte er kleinlaut.

Sie trat ganz dicht an ihn heran.

»Ein Kind habe ich,« erwiderte sie trocken.

Ein paar Sekunden blieb ihm das Wort in der Kehle stecken. Dann aber begann sein Gesicht zu strahlen. Und indem er sich beständig die Hände rieb, polterte er: »Hab' ich mir doch gedacht, hab' ich mir doch gleich gedacht! So ein Frauchen, so ein Frauchen! Führt die ganze Familie aufs Glatteis! Die Salomons werden vor Freude sich nicht lassen können, Luftsprünge werden sie machen. Und Sie, freuen Sie sich denn gar nicht ein bißchen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich nicht.«

Ihre Züge schienen starr und ihre Lippen waren so fest aufeinander gepreßt, daß sie eine einzige, feine Linie bildeten.

Pulvermacher wurde tief traurig, und in sein altes Gesicht trat ein kummervoller, höchst bedenklicher Ausdruck.

»Ich werde irre an Ihnen. Wie kann man sich nur so versündigen! Ahnen Sie denn, wie süß so ein Kindchen ist, wie es im Hause erst lebendig wird, wenn sein Lachen und Weinen durch alle Wände dringt? Was machen Sie denn für eine sauertöpfische Miene! Die Brust müßte Ihnen vor Wonne springen. Statt dessen tun Sie, als wäre Ihnen ein Schiff untergegangen. Ach, Frau Salomönchen, soll denn dieses Haus ganz freudlos werden? Denken Sie denn gar nicht an Artur und Ihren Schwiegervater? Ich sollte meinen, Sie haben eine doppelte Pflicht, für neues Leben zu sorgen. Tragen Sie das Kind mit Stolz, und ist es ein Bübchen ...«

»Hören Sie auf, Pulvermacher, ich halte es nicht aus. Lassen Sie mir Zeit, mich darein zu finden! Was wissen Sie, was wißt Ihr alle, wie es in mir ausschaut! Ziehen Sie das Gesicht nicht in tausend Falten, es kleidet Sie nicht; und auf ein Haar gleichen Sie dem ewigen Juden, ich wenigstens stelle ihn mir so vor.«

Pulvermacher grinste.

»Gott sei Dank, daß Sie wieder fröhlich werden!«

»Doktor, beinahe hätte ich mich an Ihnen versehen!«

Pulvermacher atmete befreit auf.

»Wenn Sie Witze reißen, Frau Salomönchen, gefallen Sie mir tausendmal besser.«

Ihre Miene umdüsterte sich wieder. Sie nahm seine Hand.

»Sie dürfen vorläufig nichts verraten,« brachte sie gedrückt hervor, »geben Sie mir Ihr Wort darauf.«

»Bin ich ein Schuft?« fragte Pulvermacher, »nur aus Ihrem Munde dürfen Salomons es erfahren, das ist doch selbstverständlich. Aber zögern Sie nicht zu lange damit. Den beiden Männern tut eine Gemütsauffrischung wirklich not.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es jedoch rasch.

Sie hatte es im Nu bemerkt.

»Sie haben noch etwas auf der Zunge, Doktor!«

»Hatte, Frau Salomon. Gott sei Dank, daß es nicht dem Gehege der Zähne entsprungen ist. Man soll nicht alles ausplappern. Und nun Kopf hoch und das Herz geöffnet, weit geöffnet. Man freue sich, man hat allen Grund dazu.«

Er erhob sich und reichte ihr die Hand.

»Wissen Sie, wer sich nicht freuen wird?«

Er zuckte die Achseln.

»Es gibt noch jemanden, der sich nicht freuen wird, glauben Sie es mir!«

Er hatte sie verstanden.

»Im Gegenteil,« erwiderte er lebhaft. »Wenn die alte Frau etwas kurieren kann, so ist es dies.«

»Warten wir es ab,« gab sie einsilbig zurück.

Das Mädchen kam herein und meldete, daß Herr Artur Salomon seine Frau zu sprechen wünsche.

»Ach, Pulvermacher, gehen Sie ans Telephon und sagen Sie ihm, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche. In einer Stunde bin ich im Geschäft.«

Pulvermacher verabschiedete sich.

Eine Weile stand sie bewegungslos da. Dann überfiel sie plötzlich eine solche Schwäche, daß sie sich nur mühsam in ihr Bett schleppen konnte.

Es war ganz still, kein Laut drang zu ihr, sie hatte das Gefühl des Zusammenhangs verloren, wie ausgeschaltet kam sie sich vor.

Erst ganz allmählich regte sie sich wieder.

Ich will kein Kind. Warum will ich kein Kind? Weshalb bin ich ohne Macht und Willen?!

Sie zog die Decke über die Schulter, sie fror.

»Was wünschen Sie?« schrie sie das Mädchen an, die zum zweitenmal die Tür öffnete.

»Der alte Herr Salomon fragt, ob Sie noch zu Hause wären. Wollen gnädige Frau selbst ...«

Sie warf rasch den Morgenrock über.

»Ja, ich bin am Telephon; Agnes Salomon!«

Und Salomon sagte mit seiner tiefen Stimme: »Gottlob, Pulvermacher hat uns völlig beruhigt. Kommst Du denn nicht ins Geschäft? Wir warten schon mit dem Frühstück auf Dich, ohne Dich schmeckt es uns nicht. Aber wenn Du Dich abgespannt fühlst ...«

»Nein, Papa, in zwanzig Minuten bin ich da. Ich riskiere ein Auto.«

Bei Salomons Stimme war Angst und Alb von ihr gewichen.

Sie klingelte dem Mädchen.

»Telephonieren Sie nach einem Auto!«

In wenigen Sekunden war sie fix und fertig.

Als sie im Wagen saß, fiel ihr ein, daß sie in ein paar Monaten nicht mehr würde ins Geschäft gehen können.

»Auch das noch!« murmelte sie vor sich hin.

Sie würde es ja nicht aushalten ohne das Geschäft.

Vater und Sohn empfingen sie mit überströmender Herzlichkeit.

»Ihr tut ja geradeso, als wenn ich vom Tode auferstanden wäre.«

Sie erschrak, daß ihr die Wendung vom Tode entschlüpft war. Vielleicht ist dies das Ende, fuhr es ihr durch den Kopf, und die alte Frau ist von mir befreit.

Salomon öffnete eine Flasche süßen Ungarweins und füllte die Gläser.

»Auf Dein Wohl, Du sollst leben, Agnes Salomon!«

Sie blinzelte ihn mißtrauisch an.

Sollte Pulvermacher doch aus der Schule geplaudert haben?

Ausgeschlossen.

Artur stieß mit ihr an und küßte sie, und dann nahm Salomon sie zärtlich in die Arme und sagte nichts weiter als: »Mein geliebtes Kind!«

Ihr Körper gab nach, und eine Sekunde ließ sie ihre ganze Last auf ihm ruhen. Dann ging sie mit einer entschlossenen Bewegung auf Artur zu.

»Warum seid Ihr denn so gerührt, ich geniere mich ja ordentlich.«

»Ach, Agnesel, Du ahnst ja nicht, in was für Sorge wir um Dich gewesen sind. Und als Pulvermachers Untersuchung gar kein Ende nehmen wollte, bildeten wir uns das Schlimmste ein.«

Soll ich es ihnen sagen? schoß es ihr plötzlich durch den Kopf, erfahren müssen sie es doch einmal.

Sie packte Artur bei den Schultern und führte ihren Mund an sein Ohr.

Er taumelte zurück. Einen Moment waren seine Züge unentwirrbar, er schien die Größe seines Glückes nicht fassen zu können. Sein Auge bekam etwas Starres.

Dann aber kam ein Rausch über ihn.

Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Und während er sich beugte, um ihre Hand zu küssen, weinte er unhörbar.

Da hatte Salomon begriffen.

Auch in ihm ging etwas Ungewöhnliches vor. Sein breiter Brustkasten hob und senkte sich, und sein Atem hatte etwas Mächtiges. – – –

Am liebsten hätten die beiden Salomons Agnes sofort in Watte gepackt und ins Bett gesteckt, um sie bis zu ihrer schweren Stunde vor jedem Schritt und Tritt zu bewahren.

Agnes hatte alle Mühe, sich vor dieser Übersorge zu schützen.

»Ihr werdet aus Euch und mir noch lächerliche Figuren machen, nehmt Euch doch ein bißchen zusammen.«

Und wenn Pulvermacher nicht energisch Einspruch erhoben hätte, so würde Artur darauf bestanden haben, daß sie nur noch im Wagen führe, oder von der Wohnungstür bis zum Geschäft in einer Sänfte getragen würde.

Er war tatsächlich wie aus dem Häuschen.

Jedem, der es hören wollte, flüsterte er es unter dem Siegel des Geheimnisses vertraulich ins Ohr.

Dabei hatte er eine bedeutsame, selbstbewußte Haltung angenommen, und seine Miene hatte etwas Feierliches.

»Wenn der einen Jungen kriegt, schnappt er über,« hatte Trübsand erklärt. Und Fräulein Traube, die Agnes nicht mehr riechen konnte, wollte jede Wette machen, daß es ein Mädchen würde.

Artur hatte sich auch mit Pulvermacher in Verbindung gesetzt und von ihm genaue Vorschriften erbeten, wie er sich von nun ab in dem ehelichen Zusammenleben zu verhalten habe.

Pulvermacher hatte über den guten Jungen lächeln müssen.

»Stellen Sie die Dinge nicht auf den Kopf, Artur, Sie tun ja gerade so, als ob das Kindermachen seit gestern erfunden sei. Ich kann Ihnen versichern, es ist eine ziemlich alte Angelegenheit.«

Diese Antwort kränkte ihn tief, und aus dieser Stimmung heraus äußerte er zu seinem Vater, er habe das Empfinden, daß Pulvermacher doch schon ein bißchen veraltet sei, und ob man nicht der Vorsicht halber noch einen jüngeren Arzt heranziehen solle.

Salomon riet dringend ab.

Mit einer Geduld ohnegleichen hörte er Arturs Klagen und Besorgnisse an, die von Tag zu Tag ins Ungeheuerliche wuchsen.

Kein Mensch hätte sich in seiner Gegenwart auch nur versteckt über ihn lustig machen dürfen. Für jede Regung Arturs hatte Salomon ein Begreifen, für jede Unbegreiflichkeit von ihm ein nachsichtiges Verstehen.

Niemand sah das besser und schärfer als Agnes, die Salomon bis in die Wurzeln seines Wesens zu erkennen, seine Beweggründe zu spüren glaubte.

Und wenn sie das Übermaß von Arturs täppischer Vaterfreude wortlos, fast stumm über sich ergehen ließ, so kostete sie Salomons ritterliche, behutsame und dabei humorige Art, sie zu behandeln, um so intensiver aus.

Auf die alte Frau Salomon hatte die Kunde von dem zu erwartenden Familienereignis wie ein neuer Schlag gewirkt. Sie sprach mit niemanden darüber, nur zu Tante Berta hatte sie geäußert: »Im vierten Monat läßt sie sich großartige Anstandskleider machen, damit nur ja alle Welt merkt, was los ist!«

Frau Wachsmann hatte geschwiegen, sie verspürte keine Lust, sich ein zweites Mal den Mund zu verbrennen und es mit den jungen Salomons zu verderben. Sie wußte jetzt, aus welcher Richtung der Wind pfiff.

Es sollte sich übrigens noch ein Vorfall ereignen, aus dem sie erkannte, bis zu welchem Grade Zurückhaltung geboten war, wollte man mit beiden Parteien auf leidlichem Fuße stehen.

Unglücklicherweise begegnete ihr und Renette auf dem Vormittagsspaziergang eines Tages Agnes Salomon, ein Ausweichen war unmöglich, und nun geschah es, daß die junge Frau sich einen Ruck gab und auf die Schwiegermutter zutrat.

Sie dachte an ihren Mann und dachte an Salomon. Und vielleicht war es ein von Gott gewollter Zufall, eine letzte Möglichkeit, um den unseligen Riß zu kitten.

»Ich wollte längst zu Ihnen,« sagte sie, »und habe es immer wieder verschoben aus Gründen, die Sie verstehen müssen, jetzt aber ...«

Sie kam nicht weiter.

»Ersparen Sie sich die Mühe,« unterbrach sie die alte Frau, »wir beide, denke ich, haben nichts miteinander zu schaffen.«

Agnes Salomon verfärbte sich, und Tante Berta stand in tödlicher Verlegenheit zwischen den beiden feindlichen Parteien.

»Danke,« brachte Frau Agnes mühsam hervor. »Adieu, Tante Berta.«

Sie reichte Frau Wachsmann die Hand, die in den Boden hätte versinken mögen, und eilte davon.

»Renette, was hast Du angerichtet! Wie konntest Du sie, und noch dazu in diesem Zustande, so behandeln?«

»Glaubst Du, daß es gesessen hat?« stieß die alte Frau hervor, und eine wilde Freude funkelte aus ihren Augen.

»Ob es gesessen hat? Die größte Angst habe ich, daß ihr die Aufregung schaden wird. Und was wird Dein Mann, und was wird Artur dazu sagen, wenn sie davon hören?«

»Laß das meine Sorge sein, zerbrich Dir den Kopf deswegen nicht. Haben die gefragt, wie mir zumute war?«

Nachdem Frau Wachsmann sich von ihrer Schwester getrennt hatte, ging sie, ohne sich zu besinnen, in die erste beste Konditorei und rief Agnes Salomon an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Die junge Frau schien sich über ihre Teilnahme aufrichtig zu freuen.

Nichts sei ihr passiert, sie habe sie auch gerade anrufen und bitten wollen, reinen Mund zu halten. Wozu die Männer in die fatale Angelegenheit hineinziehen!

Tante Berta war sehr gerührt und versprach es feierlich. Und sehr gehoben trat sie den Heimweg an.

Diesmal würde Simon gewiß nicht schimpfen, die dumme Geschichte von damals hatte sie wettgemacht.

Sie begeisterte sich von neuem für Agnes Salomon.

Tadellos hatte die sich benommen.

Und daß die arme Renette ihren Klapps weg hatte, daran zweifelte sie nicht mehr.


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