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I.

Viel früher, als es sonst in ihrer Gewohnheit lag, ging Frau Salomon aus dem Geschäft. Ihr Mann hatte längst vor ihr das Büro verlassen.

Die jungen Leute grüßten ehrerbietig die Chefin, ohne daß sie es bemerkte. Auch daß sie leise hinter ihr hertuschelten, wurde sie nicht gewahr.

Die Salomons hatten Sorgen. Nicht geschäftlicher Art, aber es gab ja auch noch andere Kümmernisse. Das ganze Personal wußte es bereits und sprach davon, ohne eine gewisse Schadenfreude zu unterdrücken.

Die Salomons waren verhältnismäßig rasch in die Höhe gekommen. Die Firma, die Leder- und Galanteriewaren führte, gehörte zu den ersten ihrer Art. Von Jahr zu Jahr hatte man vergrößert, und jetzt reichte kaum das ganze Haus, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Das Engros- und Versandgeschäft, das Herrn Salomon unterstand, hatte einen unerhörten Aufschwung genommen; aber auch der Verkauf im Laden blühte, den Frau Salomon kontrollierte. Frau Salomon sah ihren Leuten scharf auf die Finger. Sie verlangte nichts Unbilliges, aber auf äußerste Pünktlichkeit und Genauigkeit hielt sie. Und wer diese Bedingungen nicht respektierte, war die längste Zeit angestellt.

Sie hatte einen kleinen, unansehnlichen, massigen Körper, der aus den Fugen gegangen zu sein schien, und ihr Rücken war wohl niemals gerade gewesen. Aber mit ihren Luchsaugen, die förmlich stechen und einen durchbohren konnten, übersah sie alles. Sie war kurz und sachlich, und selten hörten die Angestellten ein freundliches Wort aus ihrem Munde. Man mochte sie eigentlich nicht recht. Und sie selbst schien wenig Wert darauf zu legen, sich die Liebe des Personals zu gewinnen. Sie war zeitlebens ein Arbeitstier gewesen und verlangte auch von ihren Leuten äußerste Kraftentfaltung. Tüchtigkeit betrachtete sie als etwas, das sich von selbst verstand, und in ihrer Wortkargheit machte sie nicht viel Wesens davon. Die Leute wurden angemessen bezahlt; also war gewissenhafte Arbeit die Gegenleistung, die gefordert werden durfte.

Vielleicht war Frau Salomon die Seele des Geschäfts, ihr kaufmännisches Genie wurde von niemandem geleugnet, wenn es auch freilich Menschen gab, die dunkle Andeutungen machten über die Art, wie die Salomons in die Höhe gekommen waren. Danach sollte sie in der Zeit, als ihr Mann noch bescheidener Reisender war, allerhand nicht ganz reinliche Geldgeschäfte gemacht und auf diese Weise erst den Grund zu dem späteren Wohlstand gelegt haben. Ja, es wurde sogar behauptet, daß ohne diese etwas trübe Erwerbsquelle die Salomons gar nicht in der Lage gewesen wären, sich zu etablieren.

Das konnte jedoch leeres Gerede sein. In der menschlichen Art ist es nun einmal begründet, denen, die Erfolg haben, Übles nachzureden. Denn etwas Bestimmtes, Faßbares, das den Salomons zur Unehre gereicht hätte, konnte man ihnen nicht nachweisen.

Im Personal spielte man Herrn Salomon gegen die Chefin aus. War sie eine Pfennigfuchserin, so galt er als großzügig. Aber das mochte wohl daher kommen, daß er mit dem Detailgeschäft nichts zu tun hatte und, wenn die jungen Leute um Gehaltsaufbesserung baten, bei seiner Frau jedesmal ein gutes Wort einlegte.

Sie schützte ihn bei solchen Anlässen regelmäßig vor. Und wenn sie schließlich Zugeständnisse machte, so pflegte sie zu sagen: »Bedanken Sie sich beim Chef, ich für mein Teil hätte es nicht verantwortet.« Es war überhaupt ihre Methode: je besser das Geschäft ging, um so heftiger klagte sie. Sie wollte nicht als reich gelten. Ihre zweite Eigentümlichkeit bestand darin, das Ansehen ihres Mannes bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu heben. Mann, Sohn und Erwerb waren ja das einzige, wofür sie lebte. Die Welt hätte versinken können, sie würde gleichgültig mit den Achseln gezuckt haben, wenn ihre Leute aus dieser Katastrophe nur unversehrt hervorgegangen wären.

Auf den Mann war sie stolz. Und in der Tat, er hatte eine äußere Erscheinung, die sich sehen lassen konnte. Groß und breitschulterig, war er mit seinen dreiundfünfzig Jahren prächtig anzuschauen. Obwohl sein dichtes Haupthaar und sein kurzgeschnittener Vollbart frühzeitig ergraut waren, wirkte er keineswegs alt. Und dann strömte von ihm so viel Ruhe und Behagen aus. Wenn er sein tiefes Lachen von sich gab und seine pfiffigen Augen zu funkeln begannen, fühlte sie sich glücklich.

Er war ein entfernter Verwandter von ihr und als armer, verwaister Junge in ihrem Elternhause erzogen worden. Und ihre Eltern waren es gewesen, die die Partie zusammengebracht hatten. Es war ihnen gelungen, dem jungen Menschen einzureden, daß es für ihn kein größeres Glück geben könnte, als das kluge Kusinchen mit seiner kleinen Mitgift zu ehelichen.

Ihr Kindertraum war damit in Erfüllung gegangen und mehr als das. Er wurde der beste Gatte und Hausvater und ließ sie niemals spüren, daß sie doch im Grunde genommen ein von der Natur stiefmütterlich bedachtes Wesen war, dem jeder äußere Reiz fehlte. Sie gab sich keinen Selbsttäuschungen hin, aber ihm war sie für seine zarte Rücksichtnahme unendlich dankbar, obwohl es ihr nicht gegeben war, Gefühle zu äußern. Darin ähnelten sich übrigens beide. Auch er redete nichts Überflüssiges, ging mit einer Stetigkeit, die nicht zu beirren war, seinen Pflichten nach und hatte dabei für jeden bei passender Gelegenheit ein anerkennendes, gutes Wort, wie es überhaupt in seinem Wesen und nicht in vorgefaßter Absicht lag, sich überall Freunde zu schaffen.

Als sie noch in bescheidenen Verhältnissen lebten und er monatelang als Reisender unterwegs war, hatte er wohl hier und da einen kleinen Seitensprung gemacht. Sie hatte eine feine Witterung, war aber viel zu klug, jemals hinter ihm her zu spionieren, geschweige denn – selbst wenn sie infolge seiner Achtlosigkeit sichere Schuldbeweise in den Händen hatte – ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Mann bleibt ein Mann, dachte sie, und mochte er draußen über die Stränge hauen, wenn er nur daheim das Haus sauber hielt. Übrigens war es mit seinen Abenteuern auch nicht weit her.

Als sie sich dann selbständig machten, der Wohlstand kam und das Geschäft immer größer wurde, vergaß er eigentlich vor lauter Beschäftigung alle außerehelichen Zerstreuungen. Die Damen seines Personals hielt er sich vom Leibe.

Und dann war er plötzlich eine Standesperson geworden und in dieser ununterbrochenen, beständig wachsenden Arbeit, frühzeitig ergraut. Ehrenämter wurden ihm übertragen. Der einzige Junge wuchs heran, und die Jahre, in denen ein Mensch seiner Art an erotischen Dingen Geschmack findet, waren, ohne daß er es mit hellem Bewußtsein wahrgenommen hätte, gleichsam über Nacht verstrichen.

Niemand konnte dessen froher sein als Frau Salomon, nun gehörte er ihr und dem Jungen. Nun gab es nach der Richtung hin keine Sorgen mehr. Und ganz im stillen machte sie ihre Zukunftspläne. Der Junge sollte früh heiraten, aus der Bankfirma, in der er tätig war, ausscheiden und als Teilhaber in das Geschäft des Vaters eintreten. Es würde gut klingen: Salomon sen. & Sohn! Natürlich müßte es ein Mädchen aus guter jüdischer Familie sein, die die entsprechende Mitgift besaß.

Denn ihr Artur war eine glänzende Partie. Darüber war kein Wort zu verlieren. Und ein armes Mädchen war aus doppeltem Grunde ein Unglück. Es war nicht nur anspruchsvoll, es hatte in der Regel auch noch einen Schwarm von Verwandten, die man mitschleppen mußte, und Frau Salomon dachte nicht daran, noch einmal in diese Atmosphäre von Kummer und Sorgen zu treten. Dazu war man zu mühsam emporgekommen. Sie wußte, weshalb sie sich mit aller Energie dagegen gewehrt hatte, daß Artur in ihrem Geschäft seine Lehrjahre durchmachte.

Aber über diesen Punkt hatte sie sich ihrem Manne gegenüber ausgeschwiegen, und Salomon mußte schließlich kopfschüttelnd nachgeben, obwohl er es für einen kompletten Unsinn hielt, daß der Junge nicht beizeiten die Branche kennen lernte. »In ein paar Monaten holt er das bei uns nach,« hatte sie erwidert, »die Hauptsache ist, daß er zunächst eine Ahnung bekommt, was Geld eigentlich ist. Die meisten wissen es ja nicht, und darum soll er ein paar Jahre das Gold klingen und die Papiere rascheln hören.«

In dem Begriff und Wesen des Geldes lag für sie das Phantastische des Daseins. Sie konnte sich nicht von der kleinsten Münze trennen und besaß alle jene typischen Eigenschaften geiziger Menschen, die lieber die größten Strapazen auf sich nehmen, ehe sie auch nur ein Zehnpfennigstück opfern. Nur bei der Ernährung von Mann und Sohn sparte sie nicht. Salomon kannte sie zu gut, um dieser Dinge wegen sich mit ihr in Kämpfe einzulassen, die von vornherein aussichtslos gewesen wären und nur den Frieden des Hauses gestört hätten. Er hatte sich schließlich auch damit abgefunden, daß Artur in ein Bankgeschäft eintrat, obwohl er die Motive seiner Frau nicht klar zu erkennen vermochte. Ihre Ansicht war: Gelegenheit macht Diebe, und Artur sollte nicht mit den vielen Mädeln, die im Geschäft tätig waren, in Berührung kommen. Sie haßte diese Frauenzimmer, die alle hohe Türme auf den Köpfen trugen, sich herausputzten, womöglich sich gar noch puderten und den Geschäftsschluß nicht erwarten konnten, um sich mit ihren Galans zu treffen. Die morgens müde waren, weil sie abends Gott weiß was für Dinge getrieben hatten. Sie hatte eine grenzenlose Furcht, Artur könnte auf so eine hereinfallen. Nein, davor sollte er bewahrt bleiben, und was sie dazu tun konnte, sollte geschehen.

Ihre Pläne gingen weiter. Wenn Artur verheiratet war, wollten sie noch ein paar Jahre tätig sein, bis er sich in das Geschäft eingearbeitet hatte. Dann aber würde der Rest des Lebens endlich verdienter Ruhe gehören. Zuweilen begann sie doch, diese mühevollen Jahre in den Knochen zu spüren, und eine leise Angst überfiel sie, sie könnte vor ihrem Feiertag abberufen werden und um die Früchte ihrer Arbeit kommen.

Sie hielt es mit dem lieben Gott, zu dem sie überhaupt in einem höchst persönlichen Verhältnis stand. Gott war ihr gewisse Dinge schuldig. Dafür hatte sie sich geschunden und gequält. Und an Gottes Gerechtigkeit glaubte sie unbedingt.

Die Salomons waren gute Juden, keine orthodoxen. Jeden Freitag wurde der frische Barchis angeschnitten, und an Festtagen gingen sie in den Tempel; sie hatten in der dritten Reihe ihre Plätze und waren in der Gemeinde gekannt und angesehen. Ja, bei den Repräsentantenwahlen war Herr Salomon in Vorschlag gebracht worden. Er hatte dankend abgelehnt, und Frau Salomon hatte dem zugestimmt. Die Ehre war ihr zu kostspielig, man wurde ohnehin mehr als genug angeschnorrt und bei jeder Gelegenheit herangezogen. Saß man gar im Vorstand der Gemeinde, so war man gewissermaßen gezeichnet und ausgeliefert.

So standen die Dinge, als über Salomons das große Unglück hereinbrach und alle ihre Berechnungen über den Haufen warf. Es kam natürlich von Artur. Mancherlei hatte Frau Salomon in letzter Zeit befremdet, ohne daß sie einen greifbaren Verdacht hätte fassen können. Sie war verstimmt, daß er so viel mit dem jungen Jaffé verkehrte, der Börsenmakler war und von dem alle Welt wußte, daß seine Eltern ihn nur mit Not und Mühe davon abgehalten hatten, Sänger zu werden. Nun hielt er sich eine Garçonwohnung, lebte mit einer kleinen Schauspielerin und gab Gelage, an denen junge Leute aus der guten Gesellschaft mit ihren »Frauenzimmern«, wie Frau Salomon sich ausdrückte, teilnahmen. Der junge Jaffé war bereits ein öffentliches Ärgernis geworden. Er hatte mit seinen Eltern gebrochen, weil durch ihren Widerstand, wie er behauptete, sein Dasein verpfuscht worden sei.

Und in diesem Hause ging Artur aus und ein. Sie wollte ihn deswegen immer stellen, aber Salomon war es gelungen, sie davon abzuhalten.

»Du vergißt, daß er ein erwachsener Mensch ist, den Du nicht mehr am Gängelbande führen kannst,« hatte er gesagt, »und Du forderst nur seinen Widerstand heraus, wenn Du ihn in seiner Freiheit behinderst. Im übrigen tut es nicht gut, wenn ein junger Mann zu solide ist. Laß ihn sich austoben, und laß ihn die Hörner sich abstoßen und habe Vertrauen zu ihm; er wird schon wissen, wie weit er gehen darf.«

Frau Salomon hatte sich von diesen Reden einlullen lassen und gegen ihre Überzeugung geschwiegen.

Nun war die Bescherung da.

Eines Tages war ein anonymes Schreiben eingetroffen, in dem ihnen mitgeteilt wurde, daß höchste Gefahr im Verzuge sei, daß eine gewisse Person, die sich Agnes Jung nannte und bei Wertheim als Verkäuferin angestellt war, fest entschlossen sei, Frau Salomon zu werden. Ja, die Schreiberin fügte hinzu, denn es war eine Frauenhandschrift, sie könne sich nicht dafür verbürgen, daß das Unglück noch abzuwehren sei. Es würde bereits gemunkelt, daß der junge Herr Salomon mit Agnes Jung heimlich sich habe trauen lassen. Notabene sei die besagte Person vorher schon das Verhältnis des Herrn Bobsin gewesen, der, wie Salomons ja wüßten, in demselben Bankgeschäft wie Artur konditioniere.

Dieser Brief hatte bei Salomons wie eine Bombe eingeschlagen.

Zuerst wollte ihn Herr Salomon in den Papierkorb werfen. So ein infamer, anonymer Wisch verdiente kein anderes Schicksal. Aber diesmal kam er bei seiner Frau übel an.

Ihr Gesicht wurde aschfahl, ihre Nase noch länger und spitzer, und ihre Augen bekamen den verängsteten, hilflosen Ausdruck eines aufgescheuchten Vogels. Sie vermochte kein Wort hervorzubringen und nagte in einer ohnmächtigen Wut beständig an ihrer Unterlippe, daß Herrn Salomon angst und bange wurde.

Bei seinem ersten schüchternen Versuch jedoch, sie zu beruhigen, fand sie ihre Sprache wieder. Und nun ergoß sich ein Strom beleidigender Worte über ihn, daß er seinen Ohren nicht zu trauen glaubte.

Er sei an allem schuld und trage die Verantwortung. Durch seine sträfliche Vertrauensseligkeit sei es dahin gekommen; wären sie ihrem Instinkte gefolgt, so hätte sich das Unglück rechtzeitig abwenden lassen.

Da fuhr Herr Salomon auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Und der hünenhafte, schwere Mensch, der im Alltagsleben stets seine Ruhe gewahrt, mußte in diesem Moment wohl ein furchtbares Aussehen gehabt haben, denn die alte Frau brach jählings ab und fing laut und unvermittelt zu weinen an.

Beide waren aus dem Gleichgewicht geworfen und vermochten sich nicht mehr wiederzuerkennen.

Herr Salomon faßte sich zuerst.

»Mal' den Teufel nicht an die Wand! Und mache den Schimmel nicht scheu! Meinst Du, daß ich das Gerede so ohne weiteres ernst nehme? Ein Blinder sieht doch, daß dahinter eine Gemeinheit und ein Frauenzimmer steckt! Und wenn er schon mit irgendeinem Mädel was hat, muß denn darum gleich an Heiraten gedacht werden? Oder hast Du Dir eingebildet, Dein Junge, ausgerechnet Dein Junge müsse der keusche Josef sein?«

Frau Salomon hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Aber die letzten Worte griff sie auf.

»Gar nichts habe ich mir eingebildet. Mag er tun und lassen, was ihm beliebt. Niemals habe ich freilich gedacht, er könnte uns so etwas antun und eher verleugne ich ihn, als daß ich dazu Ja und Amen sage und diesem Frauenzimmer weiche, das durch wer weiß wieviel Hände gegangen ist und den Tropf glücklich eingefangen hat.«

Und wieder begann sie zu jammern und zu schimpfen.

Salomon hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und ging mit schweren Schritten durch das Zimmer.

»Vor allem muß man den Kopf hochhalten und sich genau überlegen, was nun zu geschehen hat,« nahm er das Gespräch wieder auf. Und indem er sie gut ansah und seine große Hand auf ihre Schulter fallen ließ, setzte er hinzu: »Sei vernünftig, Renette, es ist doch sonst nicht Deine Art, zu winseln und zu stöhnen.«

Sie rang nach Fassung.

»Sage mir, Salomon,« sie pflegte ihren Mann nie anders zu nennen, »könntest Du den Gedanken ertragen, daß er Dir eine Goite ins Haus bringt? Bitte, sage mir klipp und klar, ob Du das ertragen könntest. Daran will ich gar nicht denken, daß es obendrein ein Frauenzimmer ist.«

»Weder das eine noch das andere steht fest, wo steht geschrieben, daß sie keine Jüdin ist? Nicht einmal in dem Sauwisch da.«

»Ach, Salomon, Du bist und bleibst ein großes Kind. Heißt eine Jüdin Agnes Jung? Hast Du so etwas schon gehört? Und Bobsin, ausgerechnet Bobsin würde sich mit einer armen Jüdin einlassen! Da kennst Du den Schubiak schlecht.«

Das letzte leuchtete ihm ein. Bobsin war ein Gehenkter, der unbeirrt seinen Weg ging und nicht daran dachte, sich zu verplempern.

Salomon war dafür, erst den Dingen auf den Grund zu gehen und dann mit Artur offen zu reden.

Sie wehrte heftig ab. »Wenn es damit seine Richtigkeit hat« – sie wies mit einem unsagbar verächtlichen Ausdruck auf das Schreiben – »hat er uns belogen und betrogen; dann gibt es nur ein Mittel, die Person abzufinden,« und lediglich darum handelte es sich, wie teuer der Spaß sich stellen würde. Man müßte irgendeinem Vertrauensmanne die Sache übergeben und selbst im Hintergrund bleiben. Sie dachte dabei an den Vetter Michalowski. Rechtsanwalt Michalowski war vielleicht der Geeignetste.

»Nein,« entgegnete Salomon, »das tu' ich nicht, ich tu' es partout nicht. Ich mache nicht solche Sachen hinter seinem Rücken. Eine glatte Gemeinheit wäre es.«

Er schüttelte heftig den Kopf und spuckte aus. Und nach einer kleinen Weile: »Was brauchen fremde Leute ihren Kopf in unsere Angelegenheiten zu stecken?«

»Michalowski ist doch kein Fremder.«

»Laß um Gottes willen Michalowski aus dem Spiel. Gut, er ist kein Fremder, um so schlimmer. Willst Du noch die Mischpoche hineinziehen? Ich halte es für das einzig Richtige, mit dem Jungen selber zu reden. Gott sei Dank stehen wir ja so zueinander, daß man kein Blatt vor den Mund zu nehmen braucht.«

»Tu', was Du willst, Salomon, ich rede Dir nicht hinein, aber so viel laß Dir gesagt sein: in der Sache kriegst Du mich nicht herum! Und wenn er mir das antun will ...!«

»Abwarten, Renette,« unterbrach er sie, und es war ihm selbst verwunderlich, daß er ihr gegenüber so viel Ernst und Energie aufbrachte.

Es hatte niemals zwischen ihnen das, was man eheliche Konflikte nennt, gegeben. Der große Mann hatte beinahe gewohnheitsmäßig in allen Dingen sich von ihr leiten lassen, ohne daß es ihm sauer gefallen wäre. Er schätzte ihre Klugheit, wußte, daß niemand es besser mit ihm meinte als sie, und er wollte seinen Frieden, seine Ruhe, seine Behaglichkeit, zumal jetzt, wo sein Körper immer schwerer wurde und Fett anzusetzen begann.

In dieser Stunde jedoch hatte er das Gefühl seiner Kraft. Und ohne sich darauf etwas zugute zu tun, dazu war er ein viel zu schlichter und einfacher Mensch, empfand er es doch als einen Segen, daß sein Wille nicht gebrochen war. Aber in dem Augenblick, wo er sich dessen dunkel bewußt wurde, kam es ihm auch schon wie eine Überheblichkeit vor, daß er ihr den Herrn hatte zeigen wollen. Und einlenkend sagte er: »Renettchen, Du tust ja gerade so, als ob der Junge unser Feind wäre. Hat er uns denn nicht von klein auf nur Freude bereitet? Denk' doch nur an alles zurück.«

Sie sah ihn groß an, und in derselben Sekunde fuhr sie mit Blitzesschnelle durch alle Stationen seiner Kindheit. Sie erinnerte sich, mit welcher Inbrunst sie ihn getragen hatte. Wie sie Tag und Nacht gebetet hatte, es möge ein Junge werden, wie sie dann die innere Gewißheit hatte, daß ihr Gebet erhört war, und nun unablässig im Dunkel der Nacht mit Gott weiter verhandelte, daß ihr Sohn Salomon an Leib und Seele gleichen möge: denn daß Salomon besser und reiner war als sie, daran hatte sie niemals gezweifelt.

Und dann kamen all die nächtlichen Qualen, die jede Frau in diesem Zustand durchmacht: würde er mit geraden Gliedern zur Welt kommen, würde er gut hören und richtig sehen?

Und erst als der Junge endlich da war, fühlte sie sich von Gott gesegnet.

Salomon hielt das Neugeborene in seinen großen, massigen Händen und stand so ungeschickt, so unglückselig da, als trüge er einen Topf mit siedendem Wasser. Dabei liefen ihm fortwährend die Tränen über die Backen. Trotz ihrer Schwäche mußte sie vor Glück laut lachen, daß es ihr bis in die Eingeweide wehetat.

Als sie aufstehen konnte, war ihr erster Gang in die Synagoge. Dunkel und schmerzhaft erinnerte sie sich ihres Gelöbnisses, tausend Mark der Gemeinde zu stiften.

Nein, das konnte Gott von ihr nicht fordern. Gott war gerecht und wußte, wie sie sich das Geld vom Munde abgespart hatte. In einem raschen Entschluß strich sie die letzte Null. Hundert Mark bedeuteten ja auch noch ein Vermögen für sie.

Als sie nach langem Dankgebet die Synagoge verließ, war sie von Gott erleuchtet. Wenn sie in ihren Verhältnissen zehn Mark opferte, dann hätte Rothschild es im gleichen Falle nicht unter hunderttausend machen dürfen. Wo aber stand geschrieben, daß Rothschild in Wirklichkeit jedesmal hunderttausend hergegeben hatte? Und hätte er Millionen zusammengerafft, wenn er derartig mit dem Gelde geaast hätte?!

Und so beschloß Frau Salomon, die letzte Null zu streichen, dafür aber dem ersten Bettler, der ihr auf dem Heimwege begegnen würde, die noch übriggebliebene Mark in die Hand zu drücken.

Aber was tat Gott in seiner Güte? Keine Seele begegnete Frau Salomon, und so war die Geschichte erledigt. Denn gegen Gottes Willen soll sich der Mensch nicht auflehnen.

Eine tiefe Rührung überkam sie. Sie hatte das Gefühl, daß ihr reinstes Wollen, ihre redlichste Absicht an einem höheren Gesetz gescheitert waren.

Der kleine Artur wuchs zu ihrer Freude heran. Was gaben die Salomons an, als er sich zum erstenmal in seinem Bettchen aufrichtete, als er dann auf der Erde zu krabbeln begann, den ersten Zahn bekam und eines Tages gar aufrecht dastand und von einem Ende der Stube zum anderen dem Vater in die Arme lief! Die ersten Laute, die er hervorbrachte, wurden von Vater und Mutter wie Offenbarungen empfunden, und Frau Salomon hatte wie jede Mutter auf einmal das Gefühl des Gottbegnadetseins. Sie war vollkommen in ihrem Recht, wenn sie ihr Kind für ein Genie hielt.

Als mit zunehmendem Alter sich dann herausstellte, daß Artur gewiß kein großes Kirchenlicht war, atmete sie befreit auf. Denn vor seiner Gottähnlichkeit war ihr angst und bange geworden. Und wenn Salomon sich Sorgen machte, weil der Junge in der Schule so mühselig sich durchschleppte, lachte sie ihn aus.

»Gott sei Dank, daß er kein Genie ist. Ein guter Mensch soll er werden und uns keinen Kummer bereiten. Ich pfeife auf die Genies, die nur dazu da sind, die Welt in Verwirrung zu bringen.«

Salomon schüttelte den Kopf. Aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Stelle Dir vor, Salomon, Napoleon wäre Dein Sohn, und Du hättest die ganzen Zores miterlebt. Hand aufs Herz: wärst Du da nicht meschugge geworden? Ich für mein Teil weiß, daß ich den Verstand darüber verloren und in der Maison de santé geendet hätte.«

Dieser Beweisführung gegenüber war Salomon ohnmächtig, und da er von galantem Humor war, entgegnete er nur: »Renette, mit Dir werden nicht zehn Rabbiner fertig, geschweige denn ich.«

Im übrigen hatte auch er, trotzdem es mit Artur bedenklich in der Schule haperte, seine helle Freude an dem Jungen, der mit seinem Lachen das ganze Haus ansteckte, zärtlich und anschmiegsam war, und in dessen Seele das Böse keinen Raum hatte.

Einmal sagte Salomon zu seiner Frau: »Es stimmt nicht, daß die Kinder von den Eltern lernen; das Gegenteil ist der Fall: wir müssen durch die Kinder wieder gerade werden. Uns hat das Leben verunstaltet, das Rückgrat gebrochen, daß wir krumm und schief geworden sind und ein schauerliches Aussehen haben. Durch das Beispiel der Kinder müssen wir uns wieder auf uns selbst besinnen, einfältig und von Herzen gut werden.«

»Ach, Salomon,« hatte sie ihm erwidert, »niemand kann so schmusen wie Du. Aber mit solchem Zeug darfst Du mir nicht kommen, sonst kriege ich es mit der Angst und sorge mich. Du schnappst mir eines Tages über.«

War das Gespräch auf diesen Punkt gekommen, dann brach Salomon ab. Er wußte, daß weiteres Reden überflüssig war. Denn wenn in ihm irgendwo verborgen etwas Anonymes schlummerte und er zuweilen fühlte, daß Rückerinnerungen in ihm auftauchten, daß neben seiner wirklichen, sich betätigenden Existenz noch eine andere, freilich unterdrückte, lief, die abseits von Geschäft und Tageserwerb lag, und die er mit allen seinen dunkeln Kräften zu finden trachtete, schien ihr Sinn nur auf das Gegenwärtige und Reale gerichtet zu sein.

Und während er es zuweilen unheimlich und seltsam finden konnte, daß Renette seine Frau und Artur sein Sohn war, daß er selbst Handel trieb und Geschäfte machte, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der er mit anderen Frauen geschlafen hatte, während ihm das ganze Dasein unwirklich vorkam, ebenso gut Zufall sein konnte wie Notwendigkeit, an die er geschmiedet war, befand sich Frau Salomon mitten im Strom des Lebens. Sie spekulierte, rechnete und sparte. Und was an seelischem Gefühl in ihr war, wurde voll befriedigt durch die Liebe, die sie Mann und Sohn gab und ebenso von ihnen fordern zu dürfen glaubte.

Und weil sie im Geschäft und in der Neigung zu den Ihrigen von dem gleichen Fanatismus war und mit beiden Füßen auf der Erde stand, hatte sie weder Zeit noch Lust, sich wie ihr Mann Grübeleien hinzugeben.

Träumte Salomon möglicherweise davon, daß sein Leben auch einen anderen Lauf hätte nehmen können, ohne daß jedesmal daraus ein greifbarer Konflikt für ihn erwachsen wäre, hatte sich für sie das Schicksal unbedingt erfüllt. Ihr Dasein stimmte wie ihre Bücher. Nirgends ließ sich ein Fehler aufweisen ...

Und nun kam der Junge und wollte diese ganze Rechnung über den Haufen werfen.

Mochte Salomon, um sie zu beruhigen, zehnmal behaupten, alles in diesem Wisch sei erlogen, ihr sagte ein untrügliches Gefühl, daß ihr Haus lichterloh brannte, und daß die Wahrheit noch viel Schlimmeres zutage fördern würde.

So standen die Dinge, als sie in tiefer Unruhe den Nachhauseweg antrat.

Würde der Mann schon zurück sein? Und welches Resultat würde seine Unterredung mit Bobsin gehabt haben?

Sie hatten sich dahin geeinigt, erst eine klare Situation zu schaffen, bevor weitere Schritte unternommen werden sollten. Und darum hatte Salomon den schweren Gang zu Bobsin angetreten.

Denn wer konnte, falls die Dinge wirklich auf Wahrheit beruhten, bessere Auskunft geben als gerade Bobsin.

Ein paarmal blieb Frau Salomon stehen, um ihrer Erregung Herr zu werden. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Alles konnte gut werden, falls das eine noch nicht geschehen war, wovor ihr bangte. Wenn er heimlich, in aller Stille dies Frauenzimmer geheiratet hatte, war das Spiel verloren und ihre Wege schieden sich für immer. Darüber würde sie niemals hinwegkommen, es ihm niemals verzeihen.

Nein, das hatte er nicht getan, hatte es nicht tun können, weil er zu sehr an Vater und Mutter hing, von zu weicher Sinnesart war.

Es würde eine harte Auseinandersetzung geben. Sie würde ihn vor die Wahl stellen: entweder sie oder diese hergelaufene Person. Sie würde es ihm haarscharf beweisen, daß er wie ein Gimpel auf den Leim gegangen war.

Und schließlich würde Artur nachgeben, wie er immer nachgegeben hatte. Denn sie war die Stärkere.

Und hatte sie nicht noch andere Trümpfe in der Hand?

Wenn man Artur bewies, daß vor ihm andere in dem Garten spazieren gegangen waren, mußte er ein Einsehen haben.

Und gleichzeitig konnte mit der Dame verhandelt werden. Man würde tief ins Portemonnaie greifen müssen, darüber war sie sich klar.

Sie stöhnte leise. Dazu hatte man sich geplagt, um so einer die Scheine hinzuwerfen!

Sie fühlte, wie sie kampf- und sprungbereit war. Und wenn der Vetter Michalowski etwa auf ihre Kosten den Großkootzen machen wollte, weil Fräulein Jung, sie hieß ja wohl Agnes Jung, die Absicht hatte, sie hochzunehmen, so würden sich beide in ihr getäuscht haben.

Trotzdem zitterte sie. Sie wagte nicht, die Höhe der Abstandssumme zu bemessen. Und doch kreisten alle ihre Gedanken um diesen Punkt: Wieviel konnte jene fordern und mit wieviel Prozent würde sie akkordieren?

Ganz klar, daß die Person über ihre Verhältnisse genau unterrichtet war. Die Firma Salomon war ja stadtbekannt. Wenn der Spaß mit Zehntausend zu erledigen war, konnte sie wohl noch ihrem Herrgott danken.

Zehntausend! Für nichts und wieder nichts!

Eine ohnmächtige Wut überkam sie. Dann wurde sie plötzlich unruhig. Ihr Gelöbnis vor Arturs Geburt fiel ihr ein. Es war ein Handel mit Gott gewesen. Gewissermaßen ein Abkommen auf Treu und Glauben. Und sie hatte den Vertrag nicht gehalten.

Sollte Gott ... aber das war ja heller Unsinn! Hätte Gott sonst das Geschäft gesegnet, Kummer und Sorgen von ihnen ferngehalten?

Endlich war sie vor ihrem Hause angelangt. Sie eilte die Treppe hinauf und klingelte heftig.

Das Mädchen öffnete.

»Ist der Herr schon zu Hause?«

»Nein!«

»Und der junge Herr?«

»Ebenfalls nicht!«

»Gut, gut! Sie können gehen!«

Beklommen nahm sie ihren Hut ab und strich mit der Hand über die heißen Schläfen.


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