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IV.

Nachdem Frau Salomon den Bericht ihres Mannes zu Ende gehört hatte, starrte sie lange trübsinnig vor sich hin. Ihre Stirn hatte sich in unendlich viele Falten gekräuselt, und sie selbst schien zusammengesunken und kleiner geworden zu sein.

Salomon saß in seinem Lehnstuhl und rührte sich nicht. Sie tat ihm so leid, und er wußte für sie keinen Trost.

Das Mädchen kam herein und meldete, daß das Essen aufgetragen sei.

Die Salomons beachteten es nicht.

Wenn sie nur reden möchte, dachte er und hatte die Hoffnung bereits aufgegeben.

Endlich raffte sie sich auf und trat an seinen Lehnstuhl.

»Du kannst Schiwe Schiwe = Schule, Synagoge; zum Gebet gehen. sitzen, Salomon,« sagte sie, »der Junge ist tot.«

Und nun brach sie zusammen und weinte in ihr Taschentuch hinein. Und nach einer Weile: »Gibst Du nun zu, Salomon, daß es gar nicht schlimmer sein konnte?«

»Nein, das gebe ich nicht zu,« antwortete er. »So viel Menschenkenntnis besitze ich auch. Es hängt lediglich von dem Jungen ab. Sobald er will, ist er frei. Das ist keine, die sich ihm an die Fersen hängt.«

Sie fing heftiger zu weinen an.

»Salomon, was bist Du für ein Kind! Ich sage Dir, es hätte nicht schlimmer kommen können. Das ist es ja gerade, was mich zur Verzweiflung bringt. Hätte sie erklärt, ich gebe ihn unter keinen Umständen frei, so wäre ein Handel möglich gewesen. Man hätte gefragt, was kostet die Geschichte und so oder so hätte man sich geeinigt. Aber was tut die Person? Sie sagt ihm ins Gesicht, daß er seiner Wege gehen kann, daß sie einen anderen liebt. Und nun läßt er nicht mehr locker. Das ist es, was ihn reizt. Lehr' Du mich Artur kennen! Siehst Du denn nicht ein, daß darin die größte Gerissenheit liegt? Sie geht aufs Ganze und läßt sich auf keine Verhandlungen ein.«

Salomon widersprach: »Hättest Du sie gesehen, Du würdest anders urteilen. Hatte sie es nötig, ihre Beziehungen zu Bobsin vor mir aufzudecken? Ich kann darin keine besondere Schlauheit erkennen. Gut, sie vertraut sich Artur an, das verstehe ich noch, aber uns gegenüber hat sie doch allen Grund zur Zurückhaltung.«

»Die pfeift auf uns! Die kümmert sich den Teufel um Dich, oder um mich. Die denkt lediglich an die große Partie.«

Und nun geriet sie außer sich und fing zu toben an.

»Was will denn dieser Bobsin? Hat er Raupen im Kopf? Ist ihm die Dame nicht gut genug? Will er sie auf Artur abschieben?«

Und auf einmal kam ihr ein Gedanke.

»Warum bist Du nicht trotz alledem zu Bobsin gegangen? Mit ihm hättest Du Tachlis Tachlis = Geschäft. reden können, und wir wären vielleicht am Ziel. Salomon, wenn Du mir eine Liebe tun willst, so gehst Du jetzt noch zu ihm hin und bringst die Sache ins reine, oder wenn Du keinen Mumm hast, schick' Michalowski. Es ist der einzige Weg, glaube es mir.«

»Laß die Hände davon, Du machst es nur schlimmer. Es gibt keine andere Möglichkeit, als daß er selbst zu Verstand kommt.«

»Und wenn er keine Vernunft annimmt, was dann, Salomon?«

»So bin ich lieber der gute als der böse Narr, und ehe ich mein eigenes Kind verliere, sage ich lieber Ja und Amen und finde mich damit ab.«

»Ich nicht, ich niemals!« erwiderte sie, und ihre Züge wurden unerbittlich hart.

Salomon faßte sie um die Taille.

»Ach, Renettchen, man soll nie niemals sagen. Wie lange dauert das ganze Leben! Und nun komm. Es hat doch keinen Sinn, daß wir hier im Dunkeln sitzen und hungern.«

Und bei Tische fuhr er fort: »Ich werde gewiß alles tun, um ihn zur Räson zu bringen und Dir beizustehen. Aus meinem Benehmen wird er schon gemerkt haben, wie ich mich zu der Sache stelle. Aber unter vier Augen erkläre ich Dir, es gibt Schlimmeres im Leben! Und er hätte ebensogut an eine geraten können, bei der man auf den ersten Blick gewußt hätte, sie wird ihn elend machen.«

Frau Salomon war starr. Sie ließ Messer und Gabel auf den Teller fallen.

»So bist Du nun, Salomon! Nachdem Du kaum drei Worte mit der Person gewechselt hast, fällst Du um und nimmst Partei für sie, für dieses Luder, das ihn eingefangen hat. Und wenn ich nicht da wäre, würdest Du lieber heut als morgen Deinen Segen dazu geben.«

Salomon widersprach. Innerlich war er froh, sie so weit gebracht zu haben, daß überhaupt eine Auseinandersetzung möglich war.

»Davon bin ich weiter entfernt, als Du denkst,« entgegnete er. »Ich behaupte nur, so wie Du sie siehst, ist sie nicht. Auch der Turban, den Du ihr angedichtet hast, fehlt. Sie trägt das Haar glatt gescheitelt und in einen einfachen Knoten geschlungen. Unsere Damen im Geschäft gehen anders frisiert, sehen im Vergleich zu ihr wie die Modepuppen aus. Alles in allem: ich müßte lügen, wollte ich behaupten, sie machte einen schlechten Eindruck. Im Gegenteil, sie hat etwas Ruhiges und Überlegtes. Man hat das Gefühl: sie weiß, was sie will.«

Frau Salomon lachte höhnisch auf.

»Das ist das erste vernünftige Wort, das heute abend aus Deinem Munde kommt! Ja, die weiß, was sie will. Und doch hat sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Eher gehe ich aus dem Hause, als daß sie meine Schwelle betritt.«

Salomon fuhr unbeirrt fort: »Es hätte ja auch eine von der Straße sein können. Daß sie ein armes Mädel ist und bei Wertheim in Kondition steht, daran nehme ich nicht den geringsten Anstoß. Es hat ja auch einmal eine Zeit gegeben, Renette, wo wir von der Hand in den Mund gelebt haben. Und Geld ist, wie alles andere auch nur eine geliehene Angelegenheit. Mitnehmen kannst Du es nicht. Und Artur ist glücklicherweise in der Lage, nach Neigung zu heiraten. Was mir Sorge macht, steht auf einem anderen Papier. Erstens liebt sie ihn nicht und zweitens ist sie eine Goite. Und beides zusammen halte ich für das größte Unglück, das ihn treffen konnte. Und darum bin ich dagegen. Was in meiner Macht steht, ihn davon abzuhalten, werde ich tun. Stopft er sich die Ohren zu, kann ich mir auch nicht helfen. Schließlich muß er und nicht wir die Zeche bezahlen.«

»Du machst es Dir ja recht bequem, Salomon, aber für mich ist, so wahr mir Gott helfe, die Sache damit nicht abgetan. Zwischen mir und dieser Person hat er zu wählen. Das ist mein Standpunkt.«

In diesem Augenblick ging der Schlüssel. Salomons blickten sich gespannt an, und gleich darauf trat Artur in das Zimmer.

»Guten Abend,« sagte er.

Frau Salomon erwiderte den Gruß nicht, während ihr Mann stumm mit dem Kopfe nickte.

Eine kleine Weile zögerte Artur.

»Liebe Eltern,« begann er dann, »es ist für uns alle eine heikle Situation, aber es ist nicht meine Schuld, daß die Dinge so gekommen sind. Ich habe es mir anders gedacht. Nun ist es wohl das beste, wenn wir offen miteinander reden.«

Er machte eine kurze Pause, als wartete er auf ein Wort des Einverständnisses.

Die Salomons rührten sich nicht.

Da gab er sich einen Ruck und fuhr fort: »Ich habe mich mit Fräulein Jung verlobt. Ich weiß, es ist ein großer Schmerz für Euch, für mich ist es die Erfüllung. Und gerade um Eurer Liebe willen bitte ich Euch inständig, laßt Eure Bedenken fallen, bringt mir das Opfer.«

Als er geendet hatte, war sein Gesicht leicht gerötet, und erwartungsvoll blickte er Vater und Mutter an.

Frau Salomon trat dicht an ihn heran. Ihre Züge waren wie aus Stein gemeißelt.

»Maseltow! Maseltow = Gratuliere! Und nun brauchst Du uns nur noch mitzuteilen, wann Chassene Chassene = Hochzeit. ist. Nein, mein Sohn, bei uns hast Du kein Glück damit. Und wenn Du Dir einbildest. Du könntest so mit Vater und Mutter umspringen, so hast Du Dich verrechnet, mit mir jedenfalls nicht, eher ...«

»Mutter!« unterbrach sie Artur, »sprich das nicht aus!«

Er sah sie flehentlich an und ergriff ihre Hand, die er beständig streichelte, als ob er ein krankes Kind vor sich hätte. Für einen Augenblick wurde Frau Salomon weich.

»Artur, tue mir das nicht an, mach' mich nicht unglücklich.«

Er zog seine Hand zurück und seine Miene wurde trostlos.

»Also willst Du auf meine Kosten glücklich werden? Denn, wollte ich Dir nachgeben, ich würde der elendste Mensch auf Gottes Erde. Kannst Du das wollen? Nein, Du kannst es nicht. Du kannst mein Leben nicht zerstören, das erst jetzt für mich einen Sinn erhält.«

Und er begann unaufhörlich in aufgeregten Worten von Agnes Jung zu erzählen, von ihrer Wahrhaftigkeit, ihrer Tüchtigkeit und ihrem sauberen Charakter.

»Alles gut und schön,« griff Salomon jetzt ein, »aber ich vermag mir beim besten Willen nicht vorzustellen, wie ein Mann imstande sei, eine Frau zu heiraten, die eingestandenermaßen einen andern liebt.«

Und Artur antwortete: »So hatte ich früher vielleicht auch gedacht. Nun aber ist der Fall eingetreten, und ich erlebe es am eigenen Leib, daß man darüber hinwegkommt. Liebe Eltern, beweisen lassen sich die Dinge eben nicht, man muß sie nehmen, wie sie sind.«

»Und weshalb nimmt sie Dich?« fragte Frau Salomon gereizt, »um Deines Ponims Ponim = Gesicht. oder um unseres Geldes willen? Möchtest Du mir vielleicht darauf antworten!«

»Ja, Mutter, wenn Du mich zwingst, will ich es Dir erklären. Weil ich ihr keine Ruhe gelassen habe. Weil sie nach einer großen Enttäuschung am Ende auch ihren Frieden haben will. Und selbst zugegeben, sie sagt sich im stillen, daß sie eine gute Partie macht und nicht mehr genötigt ist, ihr bißchen Dasein sich sauer zu verdienen, willst Du ihr daraus einen Strick drehen? Im übrigen weiß sie, daß sie damit nicht einmal rechnen kann, denn ich habe ihr bereits angedeutet, daß es zwischen uns zu einem Bruch kommen kann und ich dann lediglich auf meine Kraft angewiesen bin. Aber, liebe Mutter, treibt mich nicht zum Äußersten. Glaubt mir, es handelt sich nicht um ein flüchtiges Verliebtsein, nicht um einen flüchtigen Rausch. Es handelt sich einfach darum, daß ich ohne diesen Menschen nicht mehr existieren kann.« Und indem er Salomon apostrophierte: »Du hast sie gesehen, Vater. Sprich, hat sie auf Dich den Eindruck eines berechnenden Wesens gemacht? Ist sie Dir nicht mit aller Wahrhaftigkeit entgegengetreten? Ja, wenn es ihr um Geschäft und Vorteil ginge, hätte sie es dann nötig gehabt, Dich über ihre privatesten Angelegenheiten zu unterrichten?«

Und als Salomon die Antwort schuldig blieb, stand Artur aus und schloß mit den Worten: »Nun überlegt es Euch, ob Ihr wirklich Grund habt, mit mir zu brechen. Ich jedenfalls kann nicht zurück. Gute Nacht, Vater! Gute Nacht, Mutter!«

»Du tust ja, als ob Du plötzlich nicht bis drei zählen könntest,« schrie Frau Salomon ihren Mann an. »Was soll nun geschehen? So rede doch ein Wort!«

»Ich habe Dir bereits geantwortet, Renette. Nachgeben, wenn wir den Jungen nicht verlieren wollen. Ich hätte ihm übrigens so viel Courage nicht zugetraut. Aufrichtig gesprochen: das gefällt mir an ihm!«

»Es gefällt Dir!« Sie wurde bleich vor Zorn. »Dich hat er ja in einer Minute dreimal um den Finger gewickelt. So was habe ich noch nicht erlebt!«

Salomon blickte seine Frau groß und gütig an.

»Weshalb bin ich still geblieben, Renette? Weshalb? Hatte er nicht im Grunde mit jedem Worte recht? Heiraten wir, oder heiratet er? Geht es um unser Glück oder um seins? Können Eltern bis in alle Zukunft vorsorgen? Und nimm einmal den Fall an, es passierte ihm heut' etwas, er würde von Dir genommen. Müßtest Du Dir nicht zeitlebens Vorwürfe machen?«

»Komm mir nicht so! Laß die Drohungen beiseite, Salomon, das macht keinen Eindruck auf mich.«

»Doch, Renette, es macht auf Dich Eindruck. Dazu kenne ich Dich zu gut, und darum spreche ich es aus. Du würdest die Gestrafte sein. Du allein. Keine ruhige Stunde hättest Du mehr. Stell' Dir vor, der Junge trennte sich von uns, und ich bin überzeugt, daß er Ernst macht, wer würde mehr als Du darunter leiden? Von dem Gerede unter den Bekannten will ich nicht einmal sprechen, aber was wird es für ein Aufsehen im Geschäft und bei der Kundschaft machen! Dieses Köpfezusammenstecken, dieses Getuschel, und dazu noch obendrein neugierige Fragen und mitleidige Blicke. Wenn ich nur daran denke, wird mir übel.«

»Er darf es nicht tun, er darf es, nicht,« erwiderte sie hartnäckig. »Und wenn wir nicht nachgeben, wird er's sich dreimal überlegen.«

Um Salomons Mund hing ein dünnes Lächeln.

»Du willst mit dem Kopf durch die Wand. Und das geht eben nicht. Gewiß, Du hast Dich im Leben schinden müssen, Renette, aber schließlich ist Dir alles geglückt. Und nun kannst Du es nicht fassen, daß einmal etwas schief geht, und daß man sich damit abfinden muß.«

»Ich nicht, Salomon, ich nicht! Sieh zu, wie Du damit fertig wirst.«

»Komm schlafen, Renette, das Reden hat nicht viel Sinn. Und morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie zogen sich schweigend aus, und jeder von ihnen wälzte sich auf seinem Lager, ohne Schlaf zu finden.

Salomon hörte, wie seine Frau stöhnte. Sie hadert mit Gott und der Welt, dachte er, sie verflucht Artur und mir ist sie gram, weil sie meint, ich hätte ihr nicht die Stange gehalten.

Sie tat ihm leid, obwohl er selbst in tiefer Kümmernis war. Dann merkte er an ihren regelmäßigen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war. Nur hin und wieder gab sie ein Röcheln von sich.

Er lag mit weitgeöffneten Augen da, und in dem Dunkel der Nacht erschien ihm sein Dasein leer und fremd. Fremd die unansehnliche kleine Frau neben ihm und fremd der Junge, durch dessen gewaltsames Tun das Haus aus seinem ruhigen Schlaf aufgerüttelt war.

Salomon kam es zum Bewußtsein, daß das ganze Leben ohne Sinn war. Für Artur hatten sie sich gequält und geschunden, der war immer gegen Arbeit und Anstrengung gewesen, von der Schule angefangen bis zum Geschäft. Und nun hatte er, ohne auf Vater und Mutter die mindeste Rücksicht zu nehmen, sich auf die erste Frau gestürzt, die seine Sinne erregte. War er nicht im Rechte? Was frommte einem aller Erwerb, wenn man stumpf und alt darüber würde?

War er, Salomon, eigentlich glücklich gewesen? Wenn sein alter Hausarzt recht hatte, hing die Glückseligkeit des Menschen von drei Dingen ab. Pulvermacher pflegte zu fragen: »Haben Sie gegessen? Haben Sie verdaut? Haben Sie geschlafen?« Wenn der Patient bejahte, war die Angelegenheit für ihn erledigt.

Dennoch war er auf seine Kosten gekommen und hatte keinen Grund zur Klage. Körperlich war ihm nichts abgegangen. Weshalb grübelte er also?

Das Bild von Agnes Jung tauchte auf. Er sah sie ganz deutlich in ihrer mageren Gestalt, mit den klaren, leuchtenden Augen. Er mußte zugeben, daß Artur Geschmack bewiesen hatte. Agnes Jung gefiel ihm. Er begriff seinen Sohn. Auch Ihre Art hatte ihm Achtung abgenötigt. Ein Mädel, das auf Männer jagte, benahm sich anders. Weshalb machte man also dem Jungen das Leben sauer? Weil sie arm war? Wozu hatten sie das Geld zusammengescharrt! Oder weil sie kein Judenmädel war? Du lieber Gott, mit solchen Vorurteilen hatten die Menschen doch längst aufgeräumt.

Und nun stand es für ihn fest, daß Renette nachgeben mußte, weil sie nicht das Recht hatte, Artur elend zu machen.

Salomon träumte sich in die Rolle des zärtlichen Schwiegervaters hinein, und in seiner Phantasie sah er bereits die Enkelkinder auf seinen Knien schaukeln und hörte ihr Lachen durch das Haus tönen. Und mochte Renette noch so sehr der Schwiegertochter gram sein, die Kinder würden sie milde und versöhnlich stimmen.

Am liebsten hätte er sie geweckt und ihr dies Zukunftsbild in hellen Farben ausgemalt. Aber Renette schlief bereits den Schlaf der Gerechten und schnarchte leise.

Salomon mußte lächeln. So ist das Leben. Man glaubt es nicht tragen zu können, und dann kommt der Schlaf und bricht alle Sorgen.

Er drehte das Licht an und betrachtete sie. Wie ein zusammengeschrumpftes Bündel lag Renette da. Die dünnen Lippen hatte sie fest aufeinander gepreßt. Ihr pergamentartiges Gesicht sah zum Erbarmen aus.

Salomon seufzte und machte das Zimmer wieder dunkel. Und übermüde streckte er seinen schweren, großen Körper aus, um gleich darauf in tiefen Schlaf zu versinken.

Mitten in der Nacht weckte Frau Salomon ihren Mann auf. Sie war gelb wie eine Zitrone, fror und klagte über heftige Schmerzen. Salomon erschrak bei ihrem Anblick. Niemals war sie ihm so alt und verfallen erschienen. Der Gram der letzten Tage hatte sie völlig gebrochen.

»Renettchen, Renetterl,« wiederholte er beständig und streichelte ihr verkümmertes Gesicht, das ganz klein geworden war. Er wollte sofort Pulvermacher antelephonieren. Sie gab es jedoch um keinen Preis zu.

So saß er an ihrem Bett, hielt ihre Hand, während sie in sich hinein ächzte und wimmerte und sich zur Seite warf, damit er ihre schmerzverzerrten Züge nicht sähe. Sie wollte es mit sich allein abmachen. Niemand sollte ihr helfen.

Und plötzlich entriß sie in tiefer Bitterkeit Salomon ihre Hand.

»Leg' Dich schlafen! Ich brauche Dich nicht,« sagte sie und ihre Stimme klang hart und unfreundlich.

Salomon kannte diese Art an ihr. Sie war leicht verletzbar und konnte sich beleidigt und gekränkt fühlen, ohne daß man erriet, was sie eigentlich in Aufruhr gebracht hatte. Sie war dann tagelang mit ihm und Artur brauges brauges sein = böse sein, es bedurfte der größten Mühe, um sie wieder zu versöhnen. Sie verlangte, ohne es auszusprechen, daß man sie umwarb und mit Fragen bestürmte. Und tat man es, verweigerte sie die Antwort und war verstockter als das eigensinnigste Kind.

Sie war liebebedürftig und konnte es nicht zeigen. Sie war innerlich weich und nach außen stachelig und beständig gereizt. Niemand wußte das besser als Salomon. Und niemand konnte mehr Rücksicht darauf nehmen als er.

Sie war ihm im Herzen dafür dankbar und überzeugt, daß er der beste, gütigste und zarteste Mensch auf Gottes Erde war. Und in seltenen, feierlichen Augenblicken sprach sie es auch aus. Salomon wehrte dann ärgerlich ab und erklärte mit Nachdruck, daß sie eine miserable Menschenkennerin sei und keine Ahnung hätte, wie es eigentlich in seinem Innern aussähe.

Auch in dieser Nacht wandte er seine alte, bewährte Methode an, nahm die Hand wieder, die sie ihm entzogen hatte, und versuchte unablässig, ihr mit Güte beizukommen. Es war alles umsonst. Ja, mit einer gewissen Genugtuung empfand sie ihren körperlichen Schmerz, für den sie Artur, aber auch Salomon verantwortlich machte, und steigerte sich in einen immer leidenschaftlicheren Zorn hinein.

Die Nacht dehnte sich zum Gotterbarmen. Und als der Morgen graute, hatte er zerschlagene Glieder und atmete doch erleichtert auf, nachdem Pulvermacher fest zugesagt hatte, sich sofort auf die Beine zu machen.

Pulvermacher hielt Wort. Er war dünn und schmächtig, hatte große, abstehende Ohren, die sich beständig bewegten, und kleine, funkelnde Augen. Er war wahnsinnig neugierig und trotzdem in allen Häusern, in denen er behandelte, ungemein beliebt. Das lag an mancherlei. Wenn er auf die Schwelle trat, packte er den neuesten jüdischen Witz aus. Und alle Welt war sich darin einig: Niemand konnte so glänzend jüdische Witze erzählen wie er.

Und dann hatte er eine Eigenschaft, die man ihm hoch anrechnete: Er zeigte dem Patienten immer eine fröhliche Miene, und mochte der Fall noch so verzweifelt liegen, Pulvermacher schwor bei Abraham, Isaak und Jakob, daß die Sache nichts auf sich habe. Und wenn er genau wußte, daß der Kranke die Nacht nicht überleben würde, pflegte er noch zu sagen: »Kopf hoch, Freundchen, morgen verlassen wir das Bett und haben es überstanden.«

Und Pulvermacher behielt recht. Der Kranke verließ das Bett und hatte es überstanden und so gründlich, daß er in dieser Zeitlichkeit keinen Doktor mehr nötig hatte.

Und witzig war er. Einmal hatte Frau Salomon, die jede Woche an einer neuen Krankheit litt, ihn mit den alarmierenden Worten empfangen: »Pulvermacher, ich habe Krebs!« worauf er prompt fragte: »Zu Mittag, Frau Salomon?« und mit diesen Worten hatte er die tödliche Krankheit ein für allemal erledigt.

Die Salomons, die er seit ihrer Verheiratung behandelte, liebten ihn, obwohl sie von ihm behaupteten, es gäbe in der ganzen Stadt kein gefährlicheres Klatschmaul und keinen größeren Schmuser als ihn. Salomon hatte ihm direkt ins Gesicht gesagt: »Pulvermacher, machen Sie sich nicht beständig zum Schauten, dazu sind Sie nachgerade zu alt geworden!« Denn Sechzig hatte er gut und gern auf seinem Rücken.

Er war für das Diminutivum. Sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit wurde dadurch gedeckt. Er pflegte etwa zu fragen: »Tut das Brustchen weh?« Oder: »Sind vielleicht die Nierchen nicht in Ordnung? Woll'n gleich mal das Urinchen untersuchen.« Es gab für ihn nur ein Näschen, ein Mündchen, ein Händchen, ein Beinchen, ein Füßchen. Daran mußte man sich gewöhnen. Und man nahm diese kleinen Eigentümlichkeiten mit in den Kauf, weil er der gutmütigste und aufopferndste Mensch war.

Bevor Salomon ihn an Renettes Krankenbett führte, hatte er eine lange Aussprache mit ihm. Und Pulvermacher riß die kleinen Augen weit auf, so daß er ungeheuer komisch aussah.

»Nicht möglich! Das Arturchen! Wer hätte das gedacht? Sieh einmal an! Das Arturchen! Und Agnes Jung heißt sie?« Er schnalzte kaum hörbar mit der Zunge. »Ein hübsches Nämchen! Da kommen einem ja ordentlich Frühlingsgefühle! Und bei Wertheim ist sie? Wie interessant! Noch heute vormittag mache ich Bekanntschaft mit ihr. In welcher Abteilung ist sie, Salomönchen? Bei den Juponchen? Bei den Hemdchen und den Unterhöschen? Oder verkauft sie wohlriechende Wässerchen?«

»Nun ist's aber genug, Pulvermacher,« unterbrach ihn Herr Salomon. »Ich erzähle Ihnen von meiner kranken Frau und erwähne diese Dinge, damit Sie genau unterrichtet sind, und Sie halten es vor Neugier wieder einmal nicht aus und hören kaum zu.«

»Ach, Salomönchen, das Leberchen Ihrer Frau revoltiert ein wenig. Fast hätte ich gesagt, Fräulein Jung ist ihr auf die Leber gefallen. Das gibt sich, das hat nichts auf sich, das bringen wir schon wieder in die Reihe. Aber die andere Sache,« er spitzte den Mund, »die von Arturchen, ist doch höchst interessant! Wer hätte ihm das zugetraut? So ein Kerlchen!«

Salomon wurde ungeduldig.

»Hören Sie, warum ich Sie bitte, Sie sollen meiner Frau gut zureden, daß sie die ganze Geschichte nicht so tragisch nimmt. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie das zustandebrächten. Ich möchte wieder meinen Frieden haben. Und wenn der Junge von der Idee nicht abzubringen ist, so soll er sie ...«

»Unbesorgt, Salomönchen, verlassen Sie sich auf mich. Mach ich alles bestens! Ist ein harter Bissen für das Renettchen! Tut nichts, sie muß ihn schlucken. Und nun in Gottes Namen.«

Er rieb sich aufgeregt die Hände und begab sich zu Frau Salomon. Er traf sie in einem völlig apathischen Zustand.

»Was machen wir denn für Geschichten? Und wo ist denn das Wehchen?« Er tätschelte ihre Hand und fühlte ihren Puls ab. »Und nun einmal das Züngelchen heraus! Hat gar nichts auf sich. Wir bleiben bis Mittag hübsch im Bettchen und lassen Geschäft Geschäft sein. Nachmittags stehen wir dann auf ein Stündchen auf. – Eine kleine Gelbsucht, die in achtundvierzig Stunden behoben ist. Und wie geht's uns sonst? Was gibt es Neues, Frau Salomönchen?«

Sie blickte ihn verdutzt an.

»Hat Ihnen denn mein Mann nichts erzählt?«

Pulvermacher stellte sich dumm.

»Nichts hat er mir gesagt. Ist denn was passiert?«

Und er riß dabei seine neugierigen Augen so weit auf, daß Frau Salomon sich täuschen ließ.

»Dann ist es wohl besser, wenn ich ebenfalls den Mund halte,« meinte sie.

Aber da wurde Pulvermacher böse und erklärte, die erste Pflicht des Patienten sei es, sich dem Arzte anzuvertrauen, es müsse ihr doch bekannt sein, daß die meisten körperlichen Leiden im Seelischen ihren Ursprung hätten. Und dazu habe er über fünfundzwanzig Jahre in ihrem Hause behandelt, um das zu erleben?

Frau Salomon hielt sich die Ohren zu.

»Hören Sie auf, Pulvermacher. Sie reden einen ja mewulve mewulve = außer sich..« Aber da sie selbst das Bedürfnis hatte, sich auszusprechen, ließ sie sich nicht länger bitten, und so erfuhr er zum zweiten Male das große Unglück des Salomonschen Hauses.

Er setzte eine tiefernste Miene auf und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Schlimm, schlimm,« sagte er ganz leise.

Da glaubte Frau Salomon einen Bundesgenossen in ihm gefunden zu haben und beschwor ihn, ihr zu helfen. Pulvermacher wurde trübselig und wehrte zugleich heftig ab.

»Nein, da rate ich nicht, da sei Gott vor, daß ich da meine Finger hineinstecke.«

Und er zählte treuherzig hundert Fälle für einen auf, in denen junge Menschen sich aus Liebesgram um die Ecke gebracht hatten. Nein, zum Mitschuldigen könne er sich nicht machen, und das dürfe sie bei aller Freundschaft ihm nicht übelnehmen.

Frau Salomons gelbe Farbe wurde um einen Ton blasser.

»So was täte Artur niemals,« erwiderte sie unmutig.

Pulvermacher zuckte die Achseln.

»Ich möchte meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Arturchen hat von klein auf höchst reizbare Nerven gehabt und zu Extravaganzen immer ein bißchen hingeneigt. Erinnern Sie sich nur, Frau Salomönchen, wie aufgeregt er nach den Masern war.«

Sie richtete sich in ihrem Kissen auf und sah ihn gespannt an.

»Auf Ehre und Gewissen, was würden Sie Herr Sanitätsrat, an meiner Stelle tun?«

Er ließ den kleinen runden Kopf auf die Schulter sinken und überlegte.

»Wissen Sie,« erwiderte er langsam, »da stellen Sie mich vor eine äußerst schwierige Frage. Als Arzt bin ich entschieden für Mischung der Rassen. Unser altes jüdisches Blut kann eine Auffrischung gut vertragen, und als Jude, mein Gott, als Jude hätte ich mein Kind zu lieb, um es ins Unglück zu treiben. Als Junggeselle freilich bin ich gegen das Heiraten. Ich habe immer gefunden, beim Heiraten kommt in der Regel nichts Gutes heraus – Ihre Musterehe natürlich ausgenommen, Frau Salomon! Aber das ist ein rein persönlicher Standpunkt!«

»Ich danke Ihnen, Doktor, nun bin ich ebenso gescheit wie vorher!«

Pulvermacher war verblüfft. Auf diese Antwort war er denn doch nicht gefaßt gewesen.

»Kommt Zeit, kommt Rat,« meinte er und erhob sich.

In der Tür wandte er sich noch einmal um: »Ich würde mir an Ihrer Stelle das Mädchen erst einmal ordentlich ansehen. So wie ich Arturchen taxiere, hat er keinen üblen Geschmack. Und am Ende sind Sie noch heilsfroh über die Wahl, die er getroffen hat.«

Frau Salomon stieß ein grelles Lachen aus.

»Sie sind geradeso leichtsinnig wie Salomon,« entgegnete sie. »Ich weiß am besten, was mir blüht.« Und mit tiefem Gram fügte sie hinzu: »An der Geschichte gehe ich zugrunde, erinnern Sie sich an die Worte, wenn Sie mir den Totenschein ausstellen.«

»Hundert Jahre werden Sie alt, Frau Salomönchen, hundert Jahre und darüber, glauben Sie mir!«

Und damit verließ er das Zimmer in der Gewißheit, die Schlacht gewonnen zu haben.

Auf dem Flur traf er Salomon. Und indem er ihm die Hand zärtlich drückte, sagte er: »Zur Verlobung werde ich eingeladen, das bitte ich mir aus!«


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