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Dumpf und dunkel vor sich hinbrütend, saß Adam Uhlig ohne jeden Wesenswechsel in seiner düsteren Zelle.
Längst schon hatte er mit dem Leben abgeschlossen und deshalb auch aufgehört, seinen Kopf marternd mit tausend Selbstvorwürfen über sein verfehltes Dasein zu zerfleischen.
Seine »Tat« war seinen Sinnen schon ganz entglitten. Er fühlte sie kaum noch – wie ein völlig verschwommenes Bühnengeschehnis, dem er vielleicht einmal als Zuschauer beigewohnt haben mochte, ohne davon feste Umrisse in der Erinnerung mehr erkennen zu können …
Diese alles irdische Trachten ersetzende Weltenferne hatte von seinen arg geschwächten Gehirnnerven ausschließlichen Besitz ergriffen. – Für ihn gab es nur noch einen Gedanken: den großen Tag …
»Seinen Schlußpunkt« nannte er ihn mit grimmigem Trotz in lauten Selbstgesprächen, die dann und wann elementar aus seinem Innern brachen. Mit immenser Willenskraft sammelte er ständig nichts anderes als immer nur Mut für seinen letzten Gang ins Freie.
Schwach sehen sollte ihn hierbei keiner!
All den gezwungenen Zuschauern seines Richtfestes würde er schon beweisen, wieviel Unerschrockenheit sogar ein alter Jude noch aufzubringen vermag. In jungen Jahren hatte er vor langer Zeit einmal als gesetzlich bestimmter Zeuge in Schrimm einer Hinrichtung beiwohnen müssen und dachte nun ständig an den polnischen Bauernbursch, dessen Quadratschädel dem blanken Beile des Scharfrichters zum grausen Opfer gefallen war. Als er sein Los mit dem dieses Raubmörders längere Zeit sinnend verglich, verfiel er plötzlich auf Stunden einem so blödsinnigen Lachkrampf, daß der Anstaltsarzt schon drauf und dran war, ihn ins Irrenhaus überführen zu lassen. Da aber kehrte sein verschwundener Geistesrest doch rechtzeitig wieder und schlug im letzten Augenblick der bereits ärztlich eingeleiteten Rettungsaktion noch ein schnödes Schnippchen.
Finster vermied er darum jedes wühlende Grübeln und weitschweifiges Nachdenken. Er wollte weder von einst noch jetzt etwas mehr wissen!
Am liebsten spielte er seinen Räuberskat, oder er vertrieb sich stumpfsinnig die schleichende Zeit mit Kartoffelschälen, wozu ihm aus der Küche vom Aufseher ein Tagesquantum von Erdäpfeln nicht ungern überlassen wurde.
Heute drang durch den engen Mauerspalt ein schmaler Lichtstrahl von draußen in seine trübe Haftklause, und Adam nutzte diese halbe Helle zu einem kargen Wiedersehen mit seinen letzten Freunden, den geliebten Spielkarten, aus.
Beim Mischen gewahrte sein fast taubes Ohr jedoch das bekannte laute Rasseln vor der Tür. Scheu aufhorchend, merkte er, daß der Schlüssel fest ins Schloß geschoben wurde, und ein Wärter mit drei knaxenden Drehungen die bombensichere Eisenpforte öffnete.
»Endlich Bescheid, wann's losjeht,« brummelte Adam glasigen Blicks laut vor sich hin, steckte das Kartenpasch schnell in die hintere Hosentasche und brachte den kleinen, an der Wand befestigten Klapptisch wieder in Ruhestellung, als er im grell flackernden Lichtschein einer übelriechenden Karbidlampe den Justizrat Moses vor sich stehen sah.
»Nu, Herr Uhlig, was tutt sich?« begrüßte ihn der Anwalt sehr freundlich im schmerzlichen Mitgefühle seines schweren Jammers und wollte ihm gütig die Rechte reichen.
Adam aber brauchte seine abgemagerten Hände, um sie zu besserem Auffangen der Schallwellen ans Ohr zu legen. Darum ließ er Moses' Hand unberührt und zog ihm eine zänkische Grimasse.
»Was soll sich hier tun?« schrie er, seinen runden Kopf hin und her wiegend, überlaut. »Sie sind ein fauler Kopp – und haben mir – wie jesagt – schlecht jeholfen. – Aber 's ist schon alles janz ejal. – Für wann ist also meine – Himmelfahrt festgesetzt?« fragte er dann kurzatmig weiter.
Moses ließ sich durch das unwirsche Wesen des mürrischen Häftlings aber nicht abschrecken.
»Hören Sie, Herr Uhlig.« Langsam druckste auch er seine Worte heraus: »Ich muß – nochmals – mit Ihnen – reden. – Sie wollten zwar zweimal nicht – aber übermorgen läuft die Revisionsfrist ab. – Soll ich sie nicht doch telegraphisch beim Reichsgericht einlegen?« mahnte er treuherzig und sah ihm mit seinem braunen Augenpaar seelenvoll ins verwitterte Gesicht.
Uhlig entzog sich einfach durch Fortsehen diesem tiefdringenden Ausforschungsversuch.
»Ausjeschlossen! – I wo! – Wozu? – Gott soll mich bewahren! Noch eine zweite Auflage dieses Affentheaters? Ich hab' von einer Portion Beinfleisch mehr als genug,« brüllte er noch fanatischer als damals in der Verhandlung.
»Vielleicht haben wir aber in Leipzig Erfolg!? Ich, jedenfalls, glaube fest daran,« hielt ihm der davon voll überzeugte Verteidiger entgegen. »jedenfalls sollte man hier nichts unversucht lassen!«
»Ich glaube jar nischt mehr! – Gott soll schützen vor jüdischen Köpfen und christlichen Händen! sagt doch ein alter Schriftdeuter; ich meine, es war Akiba. Beins jüdischer Kopf hat mich in den Abgrund reinjeritten. Jeben Sie also jetzt ruhig den christlichen Händen ihre Handlungsfreiheit. Denn die christlichen Hände sind jetzt am dransten,« wehrte er Moses' Vernunftsvorschlag böse ab.
»Herr Uhlig – denken Sie an Gott! – Ich komme heute zum letzten Male! – Lassen Sie ab von solch ruchlosen Reden!« ermahnte Moses seinen Mandanten mit tiefster Dringlichkeit.
»Gott soll mir nur weiter hübsch jestohlen bleiben. Sie wissen doch, was jener Bein jesagt hat: Ich hab' kein' Gott mehr,« verharrte der eigensinnig im tiefsten Heulton.
»Und an Ihre Söhne denken Sie gar nicht?« suchte ihn der Justizrat jetzt beim Gewissen zu packen.
»Um die soll mir auch noch bange sein?« lamentierte Adam immer lauter. »Die werden sich drüben in Dollarika schon allein durchfressen. – Peipe kann auch in Neuyork den Rechtsverdreher spielen; und Püdde ist ein heller Kopf, der niemanden braucht.«
Für einen Augenblick wurde Uhlig nun ganz pathetisch. »Püddes Jroßvater hat bei seiner Geburt immer prophezeit: Dies Kind wird werden – Aristoteles' Kopp! –« Damit brach er – stier vor sich hinglotzend – ab.
»Und wenn sie mal als tüchtige Männer zurückkommen – die Herren Söhne, um ihren alten Vater wiederzusehen?« schürte Moses den verlöschenden Funken seines Familiensinns. »Soll ich nicht doch noch telegraphieren?«
Aber der Büffel ließ sich auf nichts mehr ein.
»Verschonen Sie mich bloß mit der Revision!« wies er ihn abermals brüsk ab. – »Um meine beiden Bengels war mir nie bange. – Alles andere existiert nicht mehr für mich, ist für mich erledigt.«
Moses zögerte noch einen kurzen Moment. Aber schon drehte sich Adam trotzig fort, um sich, wie er brummte, »jegen weitere Jefühlsanzapfungen zu verschanzen«.
Da riß sich der alte Menschenfreund von Adams Schicksal gewaltsam los und schritt – von dem leuchtenden Wärter geführt –, wortlos auf Nimmerwiedersehen aus dem traurigen Raume.
Roh und selbstmörderisch spürte Adam über seinen Eigensinn keine kleinste Anwandlung von Reue.
Der Schmerz über seine Hinrichtung wurde bei ihm zum Element eines letztwilligen Genusses …
Er zog sein abgespieltes Pasch Karten aus der Hosentasche und war nur froh, nun endlich den vorhin verscheuchten Räuberskat unbehelligt auskosten zu können.
Vier Wochen später empfing Adam in seiner Abgeschiedenheit einen zweiten Besuch aus der verhaßten Außenwelt.
Einschneidende Veränderungen mußten entschieden im Anrollen sein; denn am nämlichen Morgen hatte man ihn in eine etwas lichtere Zelle mit bedeutend besserer Ausstattung überführt.
So war auch seit kurzem seine trübe Lethargie jener elektrischen Ladung gewichen, mit welcher der bestimmt erwartete Eintritt eines längst drohenden Ereignisses unser ganzes Sein durch den Starkstrom vollster Hochspannung aufpeitscht …
Mit wilder Gewalt stürzte sich Adam darum auf den großen, glattrasierten Herrn im grauen Gehrock, der eben unbefangen grüßend auf ihn zutrat.
»Können Sie mir vielleicht meinen Todestag verraten? Oder habt Ihr das denkwürdige Datum noch immer nicht festjesetzt?« fuhr er den Fremden wie einen Eindringling an.
Der Ankömmling stutzte, rückte verlegen seine goldene Brille zurecht und sah sich den sprungbereiten Mann mitleidig von oben bis unten an.
Adams stieres, bartumrahmtes Gesicht erfüllte ihn mit solchem Entsetzen, daß er schnell nur bejahend nickte.
»Ihr Leben endet heute in acht Tagen, Adam Uhlig, also am Freitag, den 13. März!« sprach er dann laut und langsam.
Kaum hatte der Büffel diese Worte ganz begriffen, als er sich auch schon wutentbrannt in die Höhe reckte. Die peitschende Todesangst schien selbst sein geschwächtes Gehör wieder verfeinert zu haben.
»Woher will Er denn das wissen? – Und wieso? – Wer ist denn dieser herjelaufene Kerl eigentlich?« brüllte er gereizt, mit den bekannten asthmatischen Atempausen, vor sich hin.
»Ich bin Geistlicher und seit gestern zu ihrem Seelsorger bestellt,« erwiderte der ungebetene Gast ganz schlicht.
»Wer hat hier überhaupt was zu bestellen?« grunzte Adam und fuchtelte mit den dicken Fäusten in der Luft herum. »Sie wissen doch, daß ich Dissident bin. Also brauche ich ihre Seelenversorgung nicht.« Zur deutlichen Bekräftigung seines Priesterhasses warf er sich nun unwillig auf den hier seine harte Holzpritsche bedeckenden Strohsack.
Der Prediger schüttelte bedenklich seinen Kopf und trat etwas näher zu Adam heran.
»Wir können stolpern, straucheln und stürzen. Wir können irren, fehlen und fallen. Trotz allem diesen aber bleiben wir die Söhne Sems, und sind als Menschen des Allmächtigen weisem Ratschluß unterworfen,« redete er eindringlich auf den abgekehrt Daliegenden ein.
Adam zuckte die Achseln, ohne sich auch nur umzudrehen.
»Schenken Sie sich Ihren salbadernen Schmus!« schimpfte er hämisch. »Ich bin mit Eizes versehen! Am besten machen Sie die Tür von draußen zu.«
Damit drehte er seinen gedrungenen Leib etwas um und glotzte dem Rabbi mürrisch ins Antlitz.
»Herr Uhlig, – gehen Sie in sich!« ereiferte sich der. »Nur noch eine Woche Weltenwandels ist Ihnen beschieden. Da sucht man sich doch mit Gott auszusöhnen. Hier habe ich Ihnen den Talmud mitgebracht und will gern zu Ihrer seelischen Erbauung täglich eine Stunde hier verweilen.« Dabei bot er ihm beflissen eine schäbige Ausgabe des alten Gesetzbuches an.
»Um Himmels willen!« Adam war angewidert von der Pritsche aufgeschnellt und stellte sich direkt vor den Gottesmann. »Die schofele Bibel da schenk' ich Ihnen zu Weihnachten, Herr! – hoffentlich arbeiten Sie nicht nach Stundenlohn, – sondern beziehen festen Monatsjehalt. Denn ich kann Ihnen nicht als Lückenbüßer dienen. Lassen Sie also Ihre Erbauungsstunden ruhig untern Tisch fallen. Mit meiner Seele ist nischt mehr zu machen. Ich bin Dissident, Herr, – vom reinsten Wasser, –« lachte er vergnügt und lümmelte sich auf dem Strohsack in seine alte Lage zurück.
»Also Sie wollen Ihren schweren Weg als Gottesleugner antreten?« trat der Rabbiner ganz entsetzt einen Schritt zurück.
»I – natürlich. In Gottes Namen!« sprang Adam großspurig schon wieder auf und blökte dem Rabbi seine Zunge hin.
»Ein Fall von sündhafter Verstocktheit, wie ich ihn angesichts des drohenden Todes doch noch in keinem Kopfe von Bildung erlebt habe,« kopfschüttelte der Geistliche schaudernd und murmelte ein kurzes Gebet.
»Kümmern Sie sich nicht um meinen Kopf, Herr!« schnauzte Uhlig barsch dazwischen; »die Hauptsache, daß ich ihn, – wenn es soweit ist – auf anständige Art verliere. – Am 13. März – also –.« Er brach sinnend ab und pfiff in seiner rüden Art vor sich hin.
»Wem nicht zu raten ist, ist nicht zu helfen,« resümierte der Rabbi schließlich und wollte sich entfernen.
Diese ganz unschuldig hingeworfenen Worte machten den Büffel aber ganz rappelköpfig.
»Kommen Sie mir bloß nicht mit Rat und Hilfe, Herr. – Von dem verlogenen Jewinsel ist mein Bedarf jedeckt! Aber vollauf. – Und nu' aber raus!« Dabei senkte er seinen steifen Nacken wie ein stoßwilliger Stier und rannte wirklich ganz rabiat auf den Rabbi los.
Der aber ließ sich absolut nicht einschüchtern. Ruhig blieb er stehen und entwaffnete Adams Wutkoller kalt durch seine Furchtlosigkeit.
»Sie scheinen Ihren Kopf aber bereits zu früh verloren zu haben, Alterchen,« gab er ihm seine geistige Überlegenheit gallig zu spüren, während er gleichzeitig dem vor der Zellentür hin und her gehenden Schließer klopfte.
Sobald er nun im offenen Türrahmen stand, blickte er kurz nochmals in Adams jetzt dumm-dreistes Angesicht und hob schelmisch den spitzen Zeigefinger.
»Also immer hübsch Haltung wahren. – Und vor allem – Kopf hoch!«
Damit wandte sich der Gottesmann zum Gehen.
Adam konnte sich jetzt aber nicht beherrschen, ohne ihm noch schlagfertig: »Quatsch! Sie können mich am – Aschermittwoch besuchen! Wenn's losjeht, Sie neunmal Weiser, heißt es längst nicht mehr ›Kopf hoch‹ – sondern ›Kopf ab‹! nachzurufen.«
Am Morgen des 12. März 1913 erhielt Adam Uhlig eine amtliche Zustellung, die er mit zitternden Fingern in Empfang nahm.
»Ein Jerichtsbrief,« wußte er sofort Bescheid, und als er das schneeweiße Schreiben umdrehte, sagte ihm die schwarze Stempelmarke auf der Rückseite, daß der Absender der erste Staatsanwalt beim Landgericht I war. Denn die Zivilgerichte brauchten – wie er sich auskannte – nur gelbes Konzeptpapier in ihrem Dienstbetrieb.
Mit seinem Zeigefinger brach Adam das Schreiben auf und überflog den Inhalt in zehn Sekunden.
Dann fiel seine Hand wie gelähmt herab. Der Muskel versagte seinem Willen plötzlich den Gehorsam …
Der Erste Staatsanwalt teilte ihm formularmäßig vorgedruckt mit, daß eine Erklärung Seiner Majestät des Königs eingelaufen sei, nach welcher dieser von seinem Kronrecht der Begnadigung in der Strafsache Uhlig keinen Gebrauch machen wolle. Gleichzeitig war weiter unten der Termin zur Vollstreckungsverhandlung seines am 10. Februar rechtskräftig gewordenen Todesurteils des Königlichen Schwurgerichts für den 13. März, frühmorgens 6 Uhr, festgesetzt.
»Wilhelm wird einen Juden begnadigen! So sieht der aus!" murmelte der Büffel bedächtig in seinen Bart und tröstete sich selbst. »Er ist auch noch nicht jestorben … Wer weiß, was für'n schwarzes Ende ihm noch einmal bevorsteht!« beruhigte er dann seinen gekränkten Stolz und steckte das Schriftstück zu sich.
»Die Einladung zum Totentanz,« lachte er roh dabei und legte sich kullernd auf seinen Strohsack.
»Nur Schluß, nur Schluß!« Eine Unruhe ließ ihn sich doch nicht lange so herumwälzen. Bald sprang er wieder auf …
Und kurze Zeit später erschien der Strafanstaltsdirektor mit seinem Schreiber in der Zelle, um die vorgeschriebenen Anordnungen zu treffen.
Adams Henkersmahlzeit wurde für 7 Uhr abends festgelegt.
Nun wurde der Büffel ganz geschäftsmäßig nach seinem letzten Wunsche bezüglich seiner Lieblingsspeise befragt, und mit einer schamlosen Genußgier gab er diese Bestellung zu Protokoll: »Da es auf Rejimentsunkosten jeht, möcht' ich ein möglichst anständiges Menu. Erst Bouillon mit Ei. – Dann Lachs au four. – Als Fleischgang sagen wir – Putenbraten mit Pfirsichkompott. Dazu 'ne Pulle Malaga.«
»Das ist aber stark – außer Anstaltsmenage,« sagte der Direktor beim Aufnehmen dieser Speisenfolge lächelnd zum Kanzlisten, als Adam beide gewichtig unterbrach: »Hinterher muß ich aber meinen Mokka haben.«
»Aber – aber!« warnte der Beamte. »Danach können Sie die letzte Nacht ja nicht ordentlich schlafen. Und das wäre doch vom Übel.«
»Schön. – Also jut – ohne Mokka!« gab sich Adam schmollend zufrieden.
»Wenn Sie es aber vorziehen, ihre schwere Stunde im Gebet wachend zu erwarten, würde ich nach der Vorschrift nachts für Gestellung eines Geistlichen Sorge tragen müssen.«
»Nein, bitte, ach nein, Herr Rat!« wurde Adam plötzlich sogar liebenswürdig. »Lieber verzichte ich auf das ganze Essen, eh' ich mir meinen Appetit von solchem Wiederkäuer verderben lasse.«
»Auch recht!« entschied der Direktor. »Also nur Futter – keinen Geist!«
Den letzten Tag verbrachte Adam in wüstem Stimmungswechsel.
Bald lag er, sein ganzes Leben in rasender Gedankenjagd nochmals bewußt durchschnellend, auf dem Sack. Bald wieder kauerte er sich angstgehetzt in eine Zellenecke und suchte sich vor der furchtbaren, ihn verfolgenden Vision seiner eigenen Enthauptung zu verstecken.
Langsam und allmählich entwand er sich dem grausen Bilde und raffte sich schweißbedeckt auf, um zur Selbstablenkung die Karten legend zu erforschen, ob auch irgendeine dumme, Püddes Zukunft betreffende Frage in Erfüllung gehen würde.
Das alte grauschmutzige Kartenpasch blieb immer seine allerletzte Zuflucht. Mit jedem einzelnen der Bilder hatte er irgendeine Erinnerung gemein. Und die Karten, diese treuen letzten Freunde des von Gott und Menschen verlassenen Todeskandidaten, halfen ihm jetzt über alle irdische, seiner Hinrichtung vorausgehende Höllenqual auch bald etwas hinweg.
Einzelne Karten streichelte er sachte beim Hinlegen, weil er sie ganz besonders liebte … Da war zum Beispiel der gute Karo-König, den er immer mit ausnehmender Zuneigung gehegt, weil dessen spitzbärtige Gesichtszüge seinem ehemaligen Inspektor Pinkowsky in Karrewo etwas glichen. – Auch zum Pique-Buben unterhielt er tiefere seelische Beziehungen, als dem sprechenden Sinnbilde seines eigenen hämisch-unwirschen Charakters. Weniger schätzte er die Pique-Zehn, die er in den Tagen der Freiheit stets scherzhaft den »jüdischen Leichenwagen« genannt hatte, während Pique-Neun ihm nur als dessen »Deichsel« galt. Mit starkem Haß aber verfolgte er vor allen anderen Herz-Dame und Herz-Aß, wohl weil er ja irgendein Glück weder in der Liebe noch im übrigen Leben jemals erlegt hatte …
Ein niedriger Fluch fiel boshaft von seinen Lippen … Dieser ganz spontan kommende Haß machte ihn sofort etwas zerfahren, und plötzlich riß ihn eine neue Schreckenspein aus seinem stummen Freundeskreise. Da war wieder das schaurige Bild!
Richtblock und Henker zogen sein restliches Denkvermögen mit geradezu magnetischer Zugkraft zu sich heran.
Siedend durchbrandete Adams gallgemischtes böses Blut seinen von kalten Schauern geschüttelten Leib und strömte in jagendem Aufdrang nach seinem verkalkten Gehirn … Ein mitlaufendes Blutgerinsel schloß für Augenblicke verstopfend die eine Arterie … Er war weg! Und ein wohltätiger Bewußtseinsverlust umnachtete seine zerklüftete Seele für etliche Stunden mit todesähnlichem Schlummer.
Als er sich aus dem Nebelmeer seines Nirwana wieder zurückfand, stand das Tischlein-deck-dich schon in der Zelle, und Adam fühlte sich schnell in die eitlen Wonnen irdischer Genüsse ein.
Jedes sich irgendwie meldende neue Grauen scheuchte er mit brutal durchbrechender Eßgier fort und stürzte seinen monatelang gezüchteten Heißhunger auf das lüstern lockende Liebesmahl.
Jeden Schluck der eiversetzten Fleischbrühe schlürfte er mit schnalzendem behagen, jeden rosigen Bissen des gerösteten Rheinlachs' ließ er absichtlich zögernd auf der Zunge zergehen, und schließlich genoß er langsam kauend das zart-weiße Brustfleisch des delikaten Putenbratens. –
Ebenso eifrig sprach er dem Weine zu, der auf besonderen Befehl von oben mit einer leichten Dosis Morphium vermischt war, um dem Schächer zu einem tiefen letzten Schlaf zu verhelfen, bevor er anderen Tages dem ewigen Schlummer verfiel …
Beim Essen der vortrefflich mundenden Speisen dachte Adam oft genug an Emils Assessorschmaus und so gezwungenermaßen auch an Werner, der damals zum Gastmahl noch schönere Weine hatte reichen lassen.
Und verstockt mochte er seinem fast verlorenen Gewissen noch immer nicht die große Gemeinheit zugeben, die er acht Wochen später an dem gütigen Gastgeber verübt hatte.
»Prost, Bollusch!« schrie er trotzdem fidel auf. »Prost – Tod! Ich hab' Wein und komm' dir einen halben!« lästerte er weiter und hob das Glas.
Ja, Werner! Sein verwestes Innere gab ihm im Gegenteil sogar noch recht: Weshalb sollte denn Werner Uhlig allein stets auf der Sonnenseite des Lebens lustwandeln? Warum wurde auch seinem Emil das helle Licht nicht ebenfalls beschieden? – Und er trank trotzig weiter …
Bleiern wurden da seine schweren Glieder –. Er torkelte müde auf den Strohsack. Und der Bruder des Todes nahm ihn mildtätig in seinen bergenden Arm.
Um 5 Uhr 30 wurde der traumlose Schläfer vom Wärter rüttelnd geweckt.
Die Eisenfessel vom linken Fuß zur rechten Hand beendete heute seinen schnell vollzogenen Anzug, bei dem ihm das Anlegen eines Stehkragens verboten wurde.
Dann nahmen ihn zwei hünenhafte Gesellen zum letzten Schritt ins Freie in ihre mächtige Mitte.
Über drei enge steinerne Treppen gelangte Adam kurz vor sechs Uhr durch eine Eisentür auf den klein abgegrenzten von hohen Mauern umgebenen Gefängnishof …
Frühling, nichts als Frühling empfing ihn mit linder lauer Luft, die er lechzend in seine durch die dauernde Zellenhaft verschmachtete Lunge einsog.
Ein letztes Lebensleuchten schimmerte im gespenstischen Dämmerblau von der Silbersichel am wolkenlosen Firmament auf das gelbe Kiesquadrat.
An der Tür wurde der Todeskandidat von seinen Trabanten zunächst festgehalten und zum Stehenbleiben gezwungen.
Adam schaute lebensbang zu den Sternen auf.
Keine Sonne schien ihm fürder … Sein letzter Lichtbringer war der Mond, der traute Geselle und Zuschauer so mancher schlaflos nächtlich erduldeten Not.
»Es ist aus!« faßte er sich laut brummend und bohrte seinen bitterbösen Blick ins Blaue …
Hier in dieser grausamen Hofesenge grünte kein Baum, kein Busch; aber trotzdem wußte, fühlte Adam, daß er mitten im Frühling stand …
Und der brennende Wunsch, nur schnell über den schwersten Augenblick hinwegzukommen, ließ ihn jetzt das erste Mal als Mann die Hände falten. Ein geheimer Zwang faßte ihn. Klirrend klang die Schellenkette dabei mit.
Adam aber murmelte auf Hebräisch das alte Heilige Stoßgebet: »Gelobt seist du, Ewiger! Unser Gott ist einig und einzig!«
Er war nun – seinem Aberwitz abtrünnig – noch in der Todesminute zu Gott heimgekehrt.
Und dies befreiende Bewußtsein allein lieh ihm alle nun nötigen, übermenschlichen Nervenkräfte.
Mondsüchtig sah er nach oben und dachte nur noch an den allmächtigen Erlöser.
Der Himmel strahlte auch sein mildestes Mondlicht für diesen, einen herrlichen Tag verheißenden Märzmorgen herab.
Den sämtlich im schwarzen Rockanzug und Zylinder erschienenen Teilnehmern der Hinrichtungsfeierlichkeit wurden vom Obersekretär der Staatsanwaltschaft ihre Plätze genau angewiesen.
An einer Seite gruppierten sich die zwölf zum Vollstreckungsakte zugezogenen unbescholtenen Zeugen, während die aus Adams drei Richtern bestehende Strafkammer sich an einen schmalen Tisch setzte, an dessen Ende Assessor Dr. Bein mit seinem Gerichtsschreiber Aufstellung nahm.
Fremde Zuschauer des schaurigen Schauspieles hatte der Erste Staatsanwalt nur in geringem Maße zugelassen.
In lautloser Stille schlug die Turmuhr die verhängnisvolle Stunde.
Adam Uhlig wurde nun von der Eisenschwelle in die Runde der Harrenden hereingeführt.
Der erste Blick seines sich kalkweiß verfärbenden Gesichtes fiel auf Dr. Bein. Von da schweifte sein plötzlich scharfsichtiges Schellfischauge auf den in einiger Entfernung rechts erhöht stehenden Richtblock, den es – seines schwarzen Behanges zum Trotz – sofort blitzartig auskundschaftete.
Kaum war der letzte Klang verhallt, als das winzige Stimmchen der Armsünderglocke kläglich zu wimmern, begann, um den Verurteilten auf seinem schweren Gange zu begleiten.
Am Schlottern seiner Beine sahen aller Augen sofort, daß dem alten Manne dieser Weg sehr sauer wurde. Aber Adam biß sich auf die Lippen und riß robust seine gottgestärkten letzten Gewalten zusammen.
Von den zwei Riesen geführt, mußte sich Uhlig jetzt – den Richtblock im Rücken – vor dem Tisch des Staatsanwalts aufstellen.
Assessor Bein verlas mit lauter Stimme zuerst die Formel des Schwurgerichtsurteils und hierauf die königliche Urkunde, welch letztere er dann pflichtschuldig dem Todeskandidaten zur persönlichen Nachprüfung vorlegte.
Als Adam sich nun ernst aufrichtete und ihm das kaiserliche Schreiben – ohne es nur beachtet zu haben – wieder zurückgab, fragte der Assessor: »Sie sind Adam Uhlig, geboren am 23. Juni 1853 zu Schrimm?«
Beschämt senkte Adam das bärtige Haupt, durch dessen dichte Haarschicht seine kreideweiße Haut grell hindurchschimmerte.
»Sind Sie von der Echtheit des eigenhändigen Namenszuges Seiner Majestät des Kaisers und Königs hier überzeugt?« war die zweite Pflichtfrage des die Vollstreckungsbehörde vertretenden Assessors.
Wieder nickte der Befragte stummen Mundes.
Auf diese bejahende Antwort Adam Uhligs wandte sich Doktor Bein zu einem schlanken, von Frack, Zylinder und weißen Handschuhen bekleideten Herrn im Hintergrund, der sofort geschmeidig auf den Anruf nach vorn neben Adam sprang.
»Herr Nachrichter! Ich übergebe ihnen den Mann zur Vollstreckung!«
Schon während Bein diesen inhaltsschweren Worten ihren gesetzlichen Ausdruck gab, hatten sich zwei herkulische Gestalten, die Hilfsgesellen des Scharfrichters Duske, von hinten an Adam herangeschlichen.
Jetzt packten ihn die tigerhaft kauernden Henkersknechte mit je einer Tatze an Wade und Hinterkeule und hoben ihn mit einem einzigen schleudernden Schlußruck auf den schnell enthüllten Richtblock, so daß sein Kopf genau in der dafür geformten Maske Platz fand, sein Körper aber von der Riesenwucht der fast auf ihm liegenden Mordskerle niedergehalten wurde.
Scharfrichter Duske drückte auf den seitlich an der Guillotine befindlichen Knopf, die Maschinerie funktionierte, und sausend trennte das haarscharfe Henkersbeil Adam Uhligs Kopf von Adam Uhligs Leibe …
Alles Geschehen war das Werk weniger Sekunden!
Scharfrichter Duske beugte sich zur Erde, hob Adams blutsickernden Kopf mit der weiß behandschuhten Faust in die Höhe, trat ganz nahe zum Assessor Bein heran und meldete vorschriftsmäßig: »Herr Erster Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt.«
»So schließe ich hiermit die Verhandlung!« sagte tonlos dienstlich der Doktor Bein, und ein ergreifender Schauder schüttelte ihn, wie wohl alle Zeugen des grausigen Aktes.
Des Toten Leib und Kopf packten indessen die rüden Scharfgesellen schnell in eine schwarze Holzkiste und karrten diese gleichgültig aus dem Sehkreis aller Anwesenden. –
Das Drama eines völlig verwilderten Menschen hatte sich in seiner ganzen Gesetzmäßigkeit erfüllt …
Mit einem letzten Blick auf den dicken Blutfleck im Sande riß sich der Assessor endlich los …
Kurz nach 6 Uhr 15 Minuten traten die Teilnehmer des forensischen Schauspiels schon wieder auf die Straße.
Lea Moses erwartete ihren Verlobten, einen Efeukranz mit weißen Rosen in der Rechten, in namenloser Spannung … Aber keine Frage über den Verlauf der Hinrichtung kam über ihre Lippen. Doch von den Nachwehen seines Erlebnisses verfolgt, drückte ihr Doktor Bein erst stumm die liebe Hand. Endlich fand er auch Worte.
»Für deinen Kranz ist hier keine Verwendung, Lea. Da der Hingerichtete hierorts keine Angehörigen hat, gehört sein Körper dem Staat. – Die Leiche wird schon längst zur Anatomie abgerollt sein.« –
»Schauervoll! Das Schicksal dieses armen Schächers!« stöhnte Lea mitleidig.
»Still davon, Liebling! Der Name Uhlig sei nun erloschen. Sprechen wir ihn niemals mehr aus.«
Doktor Bein faßte seine Braut damit unter den Arm und führte sie – sich selbst gewaltsam ablenkend – schnell aus dem Umkreis der Gefängnismauern zur nächsten Droschkenecke.
»In den Tiergarten!« wies er den Kutscher an und half seiner Braut in den offenen Wagen der sich langsam durch das noch menschenleere Moabit in Bewegung setzte.
»Lieber, du! Hast heute so Schauriges durchmachen müssen!« wurde sie weich, streichelte und hätschelte ihn inniger Weibheit voll …
»Still, Lea! Nichts mehr davon!« schloß er ihr männlich ernst den Mund.
»Was machen wir nur mit dem Totenkranze?« fragte sie aber nach einer kleinen Weile.
»Den wollen wir gleich am neuen Mendelssohn-Denkmal niederlegen, das ja dieser Tage enthüllt wurde!« gab er schnell gefaßt zurück.
»Der arme Tote will mir nicht aus dem Sinne,« seufzte sie – seinem Gebote zuwider – nochmals tief auf.
Da reckte sich der Assessor straff aus der Wagenlehne hoch.
»Du kennst doch Hillels letzten und größten Grundsatz, Lea?« fragte er streng.
»Aber natürlich!« antwortete sie halb gekränkt: »Was du nicht willst, das man dir tue, füge auch deinem Nächsten nie zu!«
Da riß er sie herzlich an seine Brust … Und nach einem kurzen Kusse sprach er: »Ich will dir auch heute die hübsche Geschichte von Hillel und den drei Proselyten erzählen.«
»Ach ja, bitte, Fritz!« schmeichelte sie, wieder ganz versöhnt und erfreut.
Dr. Bein setzte sich erst den losen Kneifer fester und legte seinen schweren Zylinderhut auf den freien Rücksitz. Dann lehnte er sich – wie erlöst – im Wagen zurück.
Und Lea hörte ihm jetzt versonnen zu, während sie glücklich in den lachenden Frühling fuhren.
»Es wettete jemand in Jerusalem mit seinem Freunde um vierhundert Suß –« begann er in seiner klugen, abgeklärten Art.