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VIII.

Schon der dritte Besuch Ellen Uhligs beim Malersmann in der Pariser Straße zeitigte für beide Beteiligten einige Überraschungen.

Mehr aus ihrer närrischen Neugierde heraus, wie weit Udo Stettner sich als mannbar erweisen und entwickeln würde, war Ellen bereits bei der zweiten Sitzung seinen plump-zutunlichen Versuchen etwas empfänglicher begegnet und hatte damit seiner allzeit lockeren Keckheit natürlich nur Kulidienste geleistet.

Als sich Ellen nun heute nach der ermüdenden Anstrengung des dauernden Stillsitzens endlich befreit erhob, bat sie der Maler kühn zu einer Tasse Tee; ein Wagnis, das ihm als lohnenden Gewinn ihre Zusage eintrug …

Während er sie nun verbindlich unters Glasdach zu den Korbsesseln geleitete, sprach er zum ersten Male wieder von seinem der Kunstausstellung zugedachten großen Gemälde und machte auf dem Wege durch das weitläufige Atelier zaudernd davor Halt.

Ellen, der dieses werbende Umgirren ihrer Person kaum mehr unliebsam vorkam, ermunterte ihn, den dichten darüberhängenden Gazeschleier zu lüften, indem sie ihn neugierig anblickte.

»Was ist denn hier für ein geheimer Schatz verborgen?«

Udo legte sich aufs Flüstern, während er sehr behutsam die Hülle abnahm.

»Hier, gnädiges Fräulein, ist der erste Ansatz zum ›Vater Adam‹, wie ich mein Lebenswerk jetzt nennen will …«

Ellen blieb überrascht stehen und tat einen erstaunten Blick ins Paradies auf der Leinewand.

In dem noch ziemlich unfertigen Garten Eden lag auf einer Wiese überlebensgroß der erste Mensch.

Seinen klassisch-schönen Kopf hatte er etwas gehoben und an einen starkstämmigen, inmitten des Rasens stehenden Apfelbaum gelehnt, aus dessen vollem, fruchtbehangenem und weitverzweigtem Geäste eine dickbauchige Schlange von rechts her listig hervorzüngelte. Des Mannes brutales Antlitz war breit-begehrlich verzerrt und blickte wunscherfüllt seitwärts nach links, wo tief in hohem Ried versteckt ein lüsternes Weib kauerte. In ihren brünstig vorgestreckten Handtellern hielt sie den bewußten Apfel feil, zu dessen eiligem Empfang Adams Arm aber schon leicht angehoben war, während seine energische Hand gierig die festen Finger spreizte. Eva schien auf dem Bilde lediglich eine nackte Nebensache zu sein, wie andere weitere Werke der Weltschöpfung, die sich in närrischem Spieltrieb paarweise durch die wildbewachsenen Wege des paradiesischen Tierparks tummelten.

Die Zurücksetzung der Menschenmutter zu einer unbetonten Zweitfigur verdroß Ellens Weiblichkeit nicht wenig …

Udo aber glaubte durch seine reichlich fließenden Erläuterungen über alles das, was er mit dem Riesenbilde bezwecken wollte, ihren ihm nicht entgehenden Unmut zu sänftigen.

Denn da war er ›ein komischer Mensch drin‹.

»Es soll das Ganze nicht etwa eine simple Illustration zum ersten Buche Mose, drittes Kapitel, Ziffer sechs sein, gnädiges Fräulein. Es soll hier gewissermaßen allegorisch bewiesen werden, daß das Weib mit ihrer teuflischen Verführungskunst dem an sich guten Urvater der Menschheit erst alles Schlechte und Gemeine zubringt, um es dem nur durch ihre Schuld sehend Gewordenen dann gütigst zu überlassen, wie er sich – dem zürnenden Allvater gegenüber allein verantwortlich – aus der von ihr eingerührten Affäre zieht. So erscheint Adam hier als Hauptgegenstand, und Eva, das erste Weibchen, wird auch schon deshalb von mir an zweite Stelle gerückt, weil ich sie mir stets mit der griechischen Pandora auf einer gleich niedrigen Stufe stehend denke.«

»Danke!« unterbrach Ellen seinen Redestrom schnippisch und sah ihn messerscharf mit ihrem durchdringenden Blick an. »Sie haben da aus ihrem Adam zum wenigsten auch einen recht unreinen Tor gemacht, lieber Herr … Und Evas entschiedene Tat wollen Sie so zu einem biblischen Büchsenschuß herabwürdigen?«

»Tjawoll!« feixte Udo siegesgewiß. »Mit Knall, Qualm und Gestank – ach Pardon – Geruch, gnädiges Fräulein.«

»Das glaubt Ihnen kein Mensch. – Die Eva ist ja überhaupt gar nicht zu erkennen in ihrem grasgrünen Schlupfwinkel!«

»Kommt noch« widersprach er. »Die Eva soll ja überhaupt erst werden!«

Jetzt trat Ellen etwas nach links, um ihn genauer auf die gerügten Mängel hinzuweisen.

Was sie auf den ersten Blick mit dem satten Gefühl kindischer Eitelkeit bemerkt hatte, betrachtete sie nun Zug auf Zug, um auch jede einzelne Linie kritisch nachzuprüfen.

Nach einer kurzen Schau aber schreckte sie schon wieder von der noch farbenfrischen Leinewand zurück. Kein Zweifel mehr: Udo hatte dem ersten Weibe ihr ganzes Gesicht gegeben. Der stechende, ihr aus tausend Spiegeln wohlbekannte Blick ihrer grauen Augen verlieh dem überirdischen Frauenkopf das Düster-Dämonische, das jeden Beschauer der gar nicht etwa alltäglichen Darstellung Adams Sündenfall begreiflich und entschuldbar erscheinen lassen würde. – Das empfand sie deutlich … Sie hatte auch wohl bemerkt, daß Udo sich mit der Wiedergabe ihrer Augen keineswegs begnügt, daß er dazu auch ihr vollständiges Abbild von jener ersten Stiftskizze bis auf den letzten Pinselstrich in entsprechenden Maßen auf das Großgemälde übertragen hatte.

Nicht aber nachgebildet war ihr Leib, und dies jedem sofort erkennbare Flickwerk war es, was sie bis zum Wahnsinn wurmte, was ihren eben noch empfundenen Stolz bis ins Mark traf. Ein zweiter Schlag aber peitschte ihr erregtes Blut hastig strömend durch die gespannten Adern: An Stelle ihres feingliedrigen gertenschlanken Körpers hatte Udo den im Verhältnis viel stärkeren Leib seiner Frau, den sie aus andern Bildern fast genau kannte, sicher als unangebrachtes Modell benutzt. Diese Unsicherheit seines Geschmacks empörte sie aufs höchste.

»Rirrrirrirr!« fauchte sie ihn plötzlich – alle ihre gute Erziehung vergessend – nach Katzenart erbost an, blickte dann betroffen zu Boden und blieb stumm.

›Was hat se nur?‹ dachte Udo verdattert. ›Mit de' Weiber kennt man sich doch nie ganz aus!‹ Nach dieser Reflexion raffte er sich erst zu einer Ansprache auf.

»Haben Sie hierbei etwas auf dem Herzen, gnädiges Fräulein? Ist noch soviel an meiner künstlerischen Komposition auszusetzen? So sagen Sie es doch, was mir Ihren Tadel einträgt.«

»Alles und wieder nichts!« gab sie gereizt zurück. »Sie sind ein seelischer Lustmörder! – Sie, Jack, Sie!«

»Kannitverstan,« schüttelte er den ganz verwirrten Kopf.

Da tippte ihr spitzer feiner Finger erst auf Evas Körper.

Von dort fuhr er über das ihr so gleichende Gesicht. – Da begriff er langsam, senkte das bärtige Haupt und bedeckte seine schamlos lachenden Augen mit der grobknochigen Hand, um ihr vorzugaukeln, er weine vor sich hin.

Mit diesem Manöver wollte er sie fangen. – Aber bevor er sich's noch versehen hatte, war Ellen mit einem nochmals gegen ihn gerichteten »Rirrirrirr!« schon aus der Tür und lief, wie von Häschern verfolgt, zur Haltestelle der Straßenbahn, die sie zum neuen Hansaviertel bringen sollte.

Udo sah ihr mit hämischer Hinterlist durchs Fenster nach, platzte dazu hell heraus und dachte dann laut: »Das war ein unbewußter, dafür aber ein um so besser treffender Trick. Das nächste Mal muß sie totsicher fällig werden …«


Als Ellen nach einer Stunde die elterliche Wohnung betrat, hörte sie schon im Korridor erregtes Stimmengewirr. Am Abendbrottisch brüllte der Büffel als Hauptwortführer in seiner lauten Abart und überschrie, zu Emil gewandt, alle anderen.

»Nachdem Chananje sich mit seiner Vertretung dir gegenüber so jemein benommen hat, brauchst du keine Rücksicht mehr auf seine Person zu nehmen. Und wenn Bollusch dir's Jeld pumpt, habe ich auch nicht das jeringste dajegen einzuwenden, wenn du dir eine eigene Wohnung mietest. Bollusch ist ein ausjewitzter Kerl und behält – wie immer – auch diesmal recht!«

»Ich wer ihn fragen, ihn am ehesten,« tat Emil seinen Vater verächtlich ab. »Ich berichte lediglich vollzogene Tatsachen, Mammusch,« hielt er sich nur an die Mutter, die ihm ganz schlicht antwortete: »Wenn Werner dir so viel Geld anvertraut hat, liegt doch die Entscheidung einzig bei ihm.«

Doch der Büffel ließ sich nicht so leicht ausschalten.

»Werner,« schrie er, »wird schon besser wissen, wie er sein investiertes Jeld wiederkriegt … Besser als ich altes Kamel. Und Chananjen laß meinetwegen der Teufel holen, mit seiner mießen Brut zusammen. Wenn ich bedenke, wie der schofle Kerl anjefangen hat, hier, im dunkelsten Berlin. Aus Schrimm ist er vor siebzehn Jahren herjezogen und hat sich in der Alexanderstraße mit einem üblen Winkelkonsulenten assoziert, den er pro forma zu seinem Bureauvorsteher jemacht hat. Und nachdem er so vierzehn Jahre lang Riemen aus den Leuten geschnitten und jenügend Jeld zusammenjekratzt hat, war ihr plötzlich die Jegend nich mehr fein jenug … Da drängte sie, die Dame aus Danzig, nach dem Westen, nach der Potsdamer Straße.«

So brummelte er – von niemanden angefochten – Moses' ganze Großstadtentwicklung, wie ein Jahrmarktsbudenanreißer ab und zu laut grölend, vor sich hin … Indessen sprach Emil nur mit seiner Mutter, weil Ellen eben den Tisch verlassen hatte.

»Werner«, sagte er voller Wertschätzung, »ist doch noch ein ganz anderer Kerl, als der dort zugeben will« – dabei deutete er geringschätzig auf den Vater. – »Werner wird sich, was sagst du bloß, Mammusch, jedenfalls in Bälde verloben – mit der blödsinnig reichen Tochter von – Sally Hartstein.«

»Mit Sally Hartsteins einziger Tochter? Nein!« fistelte Frau Hulda und schnellte neidisch vom Tisch auf.

Aber auch Adam war im gleichen Augenblick wie von der Tarantel gestochen und vergaß vollständig die Fortsetzung seiner Notizen aus Chananjes Dasein.

»Von der großen Tuchfirma Philipp & Hartstein?« bohrte er seinen ältesten Sohn wißbegierig an.

»Natürlich! Von wem denn anders?« schüttelte der ihn unwirsch und achtlos ab.

»Nu' nein, er wird sich verloben,« zeigte Adam jetzt grinsend auf Emil. »Peipe läßt sich alles durch die Nase jehn, während der andere jerissene Rechenkopp sich ins jemachte Bett reinlegt. Ich hab' schon e' Stückchen Umbum in meinem Nachwuchs, einen schönen Peipe hab' ich groß jezogen.«

Damit lief er aufgebracht um den Tisch zum Jüngsten, den er kindisch umarmte und gewöhnlich schmatzend auf die Backe küßte.

»Du wirst das Ding dann doch ein bißchen anders deixeln, mein lieber Püdde. Du bist ja auch der einzige von meinen drei Ablegern, der teilweise wenigstens mein Blut jeerbt hat.«

»Halt schon endlich mal deinen verrückten Rand!« ranzte jetzt Emil den albern werdenden Vater an. »Leg' dich lieber in die Klappe! – Du weißt überdies ganz genau, daß ich bereits Absichten auf Chananjes eine Tochter habe … Hast du mich doch noch vor vier Wochen selbst dazu aufgebilzt. Nicht wahr? Und wenn Chananje in nächster Woche zurückkommt, will ich mit ihm deshalb deutsch reden. Hauptsächlich, damit ich dir dann dein Geld zurückgeben kann, deine mir täglich neu vorgeschmissenen Auslagen, du Musterpapa!«

Adam Uhlig hörte aber nichts mehr von Emils ihm dargelegtem Vorhaben. Er stierte nur verglast vor sich hin.

»Ich muß ihn auf eine neue Spur setzen,« brummte er dann entschlossen.

»Auf eine andere, bessere Spur! Was soll mir jetzt noch Chananjes Gepöbel!«

»Quatsch keinen Blödsinn!« herrschte Emil ihn darauf zusammengerissen an.

»Sowie der Justizrat aus Karrewo hier ist, – vielleicht in vier Tagen, geh' ich zu ihm rauf und halte um Leas Hand an. Darum will ich morgen früh gleich meinen Schreibtisch nach der Linkstraße schaffen lassen. Mein Telephon ist bereits verlegt. Alles klappte ganz gut, so daß ich dem Alten vollkommen unabhängig gegenübertreten kann.«

Frau Hulda sagte jetzt gar nichts mehr … Zwar war Emils Beginnen ihr ein Dorn im Auge, aber seelisch zermürbt fühlte sie keine Kraft mehr, sich in seine Entschlüsse einzumischen.

Als Adam sie darum ohne ein Wort des Widerspruchs scheinbar einträchtig bei Emil sitzen sah, lief er gereizt ohne irgend welchen Sondergrund vom Tisch zum Sofa, stellte sich vor sie und blökte ihr seine lange Zunge heraus.

Und da sie ihn gar keiner Antwort auf diese Ehrenbezeugung würdigte, geriet er in neue namenlose Wut und ließ folgenden Nachtgruß für sie vom Stapel: »Wenn ich dich schon endlich auf dem Kworus wüßte! Denn du bist an allem schuld. Mein Kind muß andere Leute anpumpen, weil die Schieberjesellschaft in der Frankfurter Allee ohne e Leibgedinge nischt zu beißen jehabt hätt'.«


Nach jenem so verhängnisvollen Abend hatte Lea Moses eine stille, nachdenkliche Woche …

Niemanden mochte, konnte sie sehen, selbst den nicht, mit dem sie das seligste Geheimnis und ein Gemeinsamkeitsgefühl ohnegleichen aufs engste verknüpft hatte. Darum mied sie mit Absicht in den folgenden Tagen Emils Begegnung.

Erst sollte ihr dem großen Neuen nachzitterndes Innere mit all dem jagenden Auf und Nieder einander befehdender Gedanken und Gefühle fertig werden, ehe sie wieder seelisch gefaßt vor ihn trat.

Dann aber, wenn sie – im ganzen Wesen selbst neu gefestigt – ihn endlich wiedersah, wollte sie mit möglichster Macht die Verjüngung seines Judentums in Angriff nehmen, auch ihm jene ihr täglich ins Ohr dröhnende Losung: »Zurück!« voll zu eigen machen.

Ihr heiß erglühendes Herz sah friedvolle Tage kommen, eine Zeit beglückender Einkehr, da sie ihrem geliebten Abtrünnigen Schritt für Schritt die Eingottslehre des tief in ihrer Seele verankerten Judenglaubens neu darbringen durfte …

Lichte Lebensfeiertage sollten ihr diese Wochen seiner religiösen Vorbereitung bringen, bis dann nach dem Machtspruche ihres Seelsorgers Dr. Weiße der Segen ihrer geliebten Eltern das schlichte Werk seiner Wandlung krönen würde. Vor Gott und Welt wollte sie ihm dann für immer angehören, nachdem sie ihm ihre jungfräuliche Keuschheit als Bekehrungsopfer dargebracht hatte.

Sie blätterte tagelang eifrig in der mehrbändigen Geschichte des Judentums, las manche Hauptstücke zwei- und dreimal, um sich ganz in die Taten der Väter zu vertiefen und so wohlvorbereitet an die ernsteste Arbeit ihrer, ach!, so lastbeschwerten Jugend schreiten zu können.

Denn nur als neu bekehrter, als ehrlich heimgekehrter Jude durfte ihr Emil Uhlig bleibend etwas bedeuten.

Gott will – sagte sie sich täglich fest und steif –, daß Emil – wie jeder von ihm mit einer freien Seele begabte Mensch – erst dadurch zu seinem Ebenbilde geheiligt würde, daß sein äußerer und innerer Weltenwandel ihn in Ehrfurcht, Liebe und Glauben an seine göttliche Gerechtigkeit zu einer sittlichen Vollkommenheit heranreifen lasse …

So maß sie, eben wie der Rabbiner und wohl auch Dr. Bein, Emils sichtbaren Seelenverfall nur der noch nicht gesühnten Schuld seiner Eltern und Großeltern bei, weil diese durch sträfliche Anlehnung seiner unbetreuten Kindheit an christliche Elemente leichtfertig versäumt hatten, ihrem Kinde und Enkel die erleuchtende Lehre vom Messias nach den Grundgesetzen jüdischer Überlieferung zu erschließen.

Fanatisch legte ihre Liebe sich Emils Bild als das eines religiös Verkümmerten zurecht, dessen gottgewollte Genesung ihrer flammenden Mission durch geistige Kräftigung von der vertrockneten Wurzel her zu entfalten vorbehalten war! Inbrünstig machte sie sich für ihre hohe Aufgabe ein besonderes System zurecht, sichtete exakt alle aus Vaters Bücherei in großen Haufen zusammengetragenen Hilfsmittel nach der Folge ihrer Entstehung von den Soferim über die Hallacha, Haggada und Haftara zu dem von hellenisch-heidnischen Kulturströmungen deutlich befruchteten Pentateuch; so studierte sie nach Beins stichwortmäßig aufgefangenen Bemerkungen nicht etwa planlos die fast unerschöpfliche Literatur all der gelehrten Rabbis und Propheten, die aus Mischna und Gemora emsig sammelnd den weltumfassenden Talmud zusammengeschlossen haben … Vor Freude strahlend, fand sie dabei manche von Dr. Bein zuerst gehörte Namen wieder, forschte Jochanan ben Sakkais Gesetzestafeln durch und kam mit Elieser ben Hyrkanos, dem Lehrhaushüter aus Lydda, nach Bekiin zu dem weisen Gottesstreiter Josua ben Chananja … Über eine Reihe weiterer wichtiger Bibeldeuter rang sie sich lehrbeflissen zum großen Rabbi Akiba vor, dessen tiefschürfende Lehrpredigten das Fundament der Mischna darstellten. Ergriffen bewunderte sie den hohen Bekennermut, mit dem Akiba ben Joseph voller Seelenruhe seinem Märtyrertode, der ihn gerade am Versöhnungstage ereilen sollte, entgegengegangen war. Tränenden Blickes las sie mit tiefer Anteilnahme, wie Hadrians Henkersknechte die Haut von seinem siechen Körper mit eisernen Kämmen gerissen, als er – ganz in sein qualvolles Geschick ergeben – die zum Richtplatz zugelassenen Glaubensbrüder laut schluchzen hörte. Da soll der stolze Greis – so stand es im Berichte – die zitternden Hände zum hellen Himmel erhoben haben, um mit dem ruhmreichen Rufe: »Höre Israel, unser Gott ist einig – einzig!« seine schon dem Ewigen gehörige Seele auszuhauchen. Lea pries seinen Erlösertod, den er – wie tausend andere Schriftgelehrte – erlitten, nur weil sie alle dem vom Weltmachthaber erlassenen Verbote des Thorastudiums zuwidergehandelt hatten.

Im Geiste verglich sie den starren Glaubenstrotz dieser Geopferten mit der ihr unverständlichen Leichtfertigkeit Emils, sich ohne jede mahnende Warnung des Gewissens von Jehova abgewandt zu haben.

Fast fühlte sie sich allein zu schwach dazu, ihn als Überzeugten zurückzuführen, und wollte am liebsten noch Dr. Beins Mithilfe zu ihrem Rettungswerke erbitten. Aber weder wußte sie, wo der wohnte, noch fand ihr Zartsinn es schicklich, sich ihm unaufgefordert, wenn immer auch von einer großen Sache beseelt, wieder zu nähern.

Gerade mit dem sich allmählich vollziehenden Eintritt der Juden in das Staats- und Geistesleben der Länder Europas befaßt, meldete ihr das Hausmädchen, daß zwei Transportarbeiter am Vordereingang seien, um den Schreibtisch des Rechtsanwalts Uhlig abzuholen.

Im ersten Eindruck dieser Mitteilung fühlte sich Lea wie gelähmt. Langsam fand sich erst ihre Willenskraft zu einer ersten Erwiderung, die das Mädchen doch erwartete.

»Das muß ein Irrtum sein,« sagte sie völlig fassungslos. Dann schoß sie selbst – wie von Furien gepeitscht – nach vorn in die Kanzlei, wo sie durch den Bureauvorsteher ihres Vaters die gleichgiltig berichtete Bestätigung von Emils plötzlichem Rückzug zu hören bekam.

»Der Herr Doktor ist schon seit drei Tagen nicht mehr hier gewesen. Gestern wurde sein Telefong verlegt, und heute holen sie seine übrigen Klamotten ab. Gesagt hat er uns garnischt. Sein wir froh, daß wir'n wieder los sind. – Ihre Frau Mama wird sich über das freie Zimmer nur freuen, Fräulein.«

Leas Antlitz glich einem Kreidestein. Ihr Herz setzte für einige Schläge aus … Sie glaubte fest, im nächsten Augenblick unter die Erde zu sinken und meinte, daß jeder der Schreiber ihr ansehen müsse, was immer zwischen Emil und ihr vorgefallen war. Mutig biß sie die Lippen zusammen; zuckend und zitternd wandte sie sich zur Tür. Eine glühende Schamröte nahm nun von ihrem eben noch kalkigen Gesicht Besitz.

»Es ist gut! – Geben Sie den Leuten das Verlangte!« preßte sie, wieder im Korridor, mühsam die Antwort für das Dienstmädchen heraus und wankte dann wie geistesgestört in ihr Zimmer zurück.

Immer schneller jagte ihr Blut durch das Hirn, ein dumpfes Brausen erfüllte ihr Gehör, und in ihrem gemütlichen Stübchen angelangt, legte sie das erhitzte Köpfchen in die kleinen Hände und gab sich ganz einem erlösenden Schluchzen hin … Plötzlich aber befiel sie der Starrkrampf verzweifelter Angst: Die Furcht, Emil zu verlieren, ihr Bekehrungswerk nicht vollbringen zu können, schlug sie in klammernde Bande.

Erst nach Stunden legte sich langsam die entsetzliche Körperstarre, die mit knebelnder Gewalt alle Bewegung und jedes Gefühl ausgeschaltet hatte … Nun erst wurde sie sich Emils grenzenloser Unwürde ganz bewußt. In vollem Umfange ersah sie aus seiner schurkisch-gemeinen Tat seinen persönlichen Unwert und erwachte vollends aus dem traurigen Traum gehegter Hoffnungen zu einer ihr Wesen zersetzenden Wirklichkeit.

Dumpf stöhnte ihr junges Herz auf …

Und ihre Seele schrie vor dem großen Weh, nun gerade niemanden zu haben, mit dem sie ihr unsägliches Leid teilen konnte.

Die Mutter, ihre verständigste Freundin, war nicht da.

Und den Gedanken, ihr schonungslos alles Geschehene anzuvertrauen, verwarf ihre Mädchenscheu sofort als absurd …

Da rief sie das kleine Schwesterchen mit neugierigem Augenaufschlag zum Fernsprecher an Vaters Schreibtisch.

»Wer ist es?« fragte Lea in dumpfer Apathie.

»Eine Herrenstimme; Inhaber unbekannt!« kicherte Ruth munter, und wie ein elektrischer Funke ergriff die Ältere eine heilsame Beschleunigung ihrer Pulse …

Leichtfüßig konnte sich Lea plötzlich erheben und nach vorn eilen.

Hundert Wünsche und Warnungen verwirrten in wirbelndem Wechsel ihre Gedanken auf dem Wege zum Apparat, in den sie dann ein doch verängstigtes »Hallo!« flüsterte.

»Bist du dort, Lea?« tönte Emils schläfriges Organ flötend zurück, das sie aber wie eine berauschende Jubelmarschmusik erbeben ließ.

»Ja, ich bin's, ich – Lea,« raffte sie sich nach einer Weile ungetrübter Glückshingabe auf. »Endlich läßt du etwas hören. Ich hielt dich schon für verschollen!« wagte sie noch einen harmlosen Vorwurf.

»Ich will alles aufklären,« rief er bestimmt zurück. »Komm bitte jetzt gleich zu einer Aussprache in Café Austria rüber.«

»Aber ich darf doch abends unmöglich allein fort,« wandte sie schüchtern ein. »Komm du doch hier rauf!«

»Nein, das möchte ich doch nicht mehr tun,« wurde er widerhaarig.

Jetzt lenkte Lea sofort ein, um ihn auf jeden Fall zu sehen …

»Also, ich komme in einer Viertelstunde dahin.«

Mit einem: »Gut, ich erwarte dich,« hing er befriedigt den Hörer ab.


Die kleine Ruth Moses wunderte sich nicht wenig über die augenscheinliche Veränderung im Wesen der Schwester, die plötzlich, wie umgewandelt, rasch und leise trällernd vom Fernsprecher zurückkehrte, um sich dann behend zum Fortgehen fertig zu machen.

»Rendez-vous!« neckte sie Lea auf naseweise Backfischart, als sie bald mit festem Schritt die Wohnung verließ, und lief der Schwester in kindhafter Neugierde bis zum Vorplatz nach. Die aber war in ihren Gedanken nur im Caféhaus …

Über die stark belebte Straße flog sie in einem steten Schwanken der Gefühle.

Bald glaubte sie hoffnungsbeseelt, alles werde jetzt wieder gut.

Dann wieder krochen ihr beißende Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit auf, die sich vornehmlich durch seinen grundlosen Wegzug verstärkten, den sie sich überhaupt nicht erklären konnte.

Plötzlich erschrak sie bis in die Fußspitzen.

Ein eleganter Herr hatte sie frech auf die Schulter getippt.

Sie blieb wie angewurzelt stehen.

»Na, Kleine, willst auf ein Stündchen mit zu mir? Ich wohne um die Ecke in der Steglitzer,« schlug er ihr mit einem herausfordernden Lächeln vor.

Ein unsagbarer Ekel löste Leas ersten Schreck ab.

»Unverschämter Lümmel!« stieß sie angewidert heraus und eilte stracks ihre Straße weiter.

»Was ich alles um diesen Mann durchmachen muß!« bedauerte sie sich selbst, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte.

Bei Betreten des Cafés schlug ihr schon in der vierteiligen Glastür ein dichter Tabaksqualm entgegen, der ihr fast den Atem benahm.

Um die kleinen runden Marmortische saßen ausnahmslos sonderbar anmutende Menschen, denen sie auf den ersten Blick das Überwiegend-Geistige schon an der Haartracht ansah. Kurze Pfeifen oder Zigaretten paffend, waren sie teils in ausländische Zeitungen vertieft oder unterhielten sich rege plaudernd mit begleitenden Gesten … Andere wieder hatten sich über das Schachbrett gebückt und tüftelten aufgestützten Hauptes den nächsten Meisterzug aus, der den guten Gegner sicher mattsetzen müßte. Einige Kämpfer befanden sich in weiblicher, nun und nimmer als hold anzusprechender Begleitung, die sich – gleichfalls kräftig dampfend – mit kurzgeschorenen Titusköpfen als Typus Mannweib gebärdeten.

Lea suchte, befangen durch die besetzten Tischreihen schreitend, von manchem Herrenauge geil angeglotzt, von manchem prüfenden Frauenblick neidisch gemessen, ihren blonden Freund, der sich eben lächelnd an einem runden hinteren Ecktisch erhoben hatte und ihr dann freundlich etwas entgegenschritt.

Damit streckte er ihr seine Hand zu, die sie vor innerer Erregung kaum zu berühren imstande war.

»Weshalb bist du fortgezogen?« ging sie ihn gleich dringend an, ohne die sie erfüllende Schwäche länger bemänteln zu können.

Emil erfaßte ein leises Mitleid mit ihrer übernervösen Natur und wollte sie ablenken.

»Zunächst setz' dich einmal hin, mein gutes Kind, und zieh dich aus,« drückte er sie jovial-väterlich auf einen Rohrstuhl, ohne zu berücksichtigen, daß man einer Dame erst aus den Kleidern hilft, um sie dann zum Sitzen zu nötigen.

»Danke, ich muß bald wieder zurück,« lehnte sie dann auch seinen tölpelhaften Versuch, ihr die Jacke im Sitzen auszuziehen, ab. »Ich will nur das eine wissen, weshalb du von uns weg bist!?«

Emil blickte ihr einen Moment in das zitternde Gesicht, dessen Lippen zuckend bebten, dessen dauerndes Augenlidflattern ihm genug über ihren Seelenzustand sagten. Da er sich aber in ihrem Urteil eine besondere Prägung als Mann von Ehre geben wollte, kniff er das unvermeidliche Einglas fester ins Schellfischauge und steckte sehr selbstbewußt seine rechte Hand in die Hosentasche, bevor er genau überlegt antwortete:

»Nach dem Ereignis der letzten Woche war es ein Gebot meiner inneren Moral, mich sofort auf eigene Füße zu stellen, um deinem Vater völlig unabhängig als Brautwerber gegenübertreten zu können. Übrigens habe ich die ersten vier Tage der vorigen Woche verschiedentlich vergeblich versucht, dich zu sprechen. – Du bliebst aber einfach unsichtbar! Fast war ich schon an deiner Liebe für mich irre, Lea! Inzwischen nahmen mich die Begleitumstände der Neueinrichtung meiner Wohnung sehr stark in Anspruch, so daß ich keine Minute freie Zeit für dich erübrigen konnte, mein lieber kleiner Schatz.«

Lea strahlte unter Freudentränen …

Sein Bekenntnis hatte sie ebenso enttäuscht wie entwaffnet, und in ihrer Selbstbetörung machte sie sich insgeheim die häßlichsten Vorwürfe, ihn – wenn auch nur in Gedanken – verdächtigt und so tief erniedrigt zu haben. Mit einem seligen, allverzeihenden Lächeln streichelte sie impulsiv seine jetzt stolz auf der kalten Tischplatte ruhende Rechte und nippte dann leicht an dem warmen Teeglase, das der Ober auf Emils Wink eben vor sie hinstellte.

»Und wann willst du mit den Eltern sprechen?« fragte sie vorsichtig in zögerndem Zweifel.

»Sobald dein Vater zurück ist, melde ich mich telephonisch zwecks Rücksprache bei ihm an. Mit deiner Frau Mutter möcht' ich erst nach Erhalt seines Jawortes die Fühlung aufnehmen,« sprach er in seinem Juristendeutsch und zündete sich eine Zigarette an.

»Soll ich die Eltern schon darauf vorbereiten?« wurde sie übermütig und schmauchte voll Frohsinn aus seiner ihr dargebotenen Zigarette einige Züge.

»Das halte ich entschieden für falsch und verfrüht. Laß mich erst mal mit dem alten Herrn einig sein. Dann kommt dein plauderhaftes Plappermündchen noch zeitig genug zu seinem Recht!« gab er ganz sachlich zurück.

Füglich schickte sich das Mädchen in seine Entscheidung.

Dann aber drückte sie verlegen an irgendeinem Schweren, was nicht gleich glatt von den Lippen kommen mochte.

»Na, was gibt's also noch?« ermunterte sie Emil darum.

»Du, noch eins,« senkte sie errötend den verschämten Blick. »Wenn du mit dem Vater sprichst –, bitte nichts verraten!! – Du verstehst mich?!«

Ganz kindlich hatte sie ihn angefleht, so daß er voller Ernst erwiderte: »Keinen Ton, Kind! – Ausgeschlossen! – Ich bin doch noch nicht ganz verrückt!«

Sein überzeugender Brustton gab ihr den Mut zu einer weiteren Frage, die vor allem anderen ihr Herz beschwerte.

»Und deine geistige Rückkehr zur Religion?«

Jetzt änderte Emil seinen Gesichtsausdruck und wurde merklich kühl.

»Hm, dein Rabbinergesimpel! Das kommt doch erst in zweiter Linie. Erst muß ich mit deinem Vater einig sein, bevor ich mich darauf einlasse.«

Bedächtig blies er drei blaue Ringe in die qualmgeschwängerte Luft und lachte sie überlegen an.

Lea wurde von seiner scherzhaften Auffassung der ihr höchst ernst gewesenen Gewissensfrage sehr verstimmt. Weil sie aber keinen neuen Zündstoff für Meinungsstreite liefern mochte, zwang sie sich zu einem politischen Schweigen.

Und da Emils Sprechfaulheit und Geistesarmut eine größere Redepause entstehen ließ, lagerte sich eine peinliche Stille über den Tisch …

Sie zu enden, erhob sich Lea.

Emil ließ es sich nicht nehmen, sie jetzt bis an die Haustür zu geleiten, nachdem sie ihm, während er zahlte, die vorherige Belästigung schamhaft erzählt hatte.

Schweigsam, jeder seinen eigenwilligen Gedanken hingeneigt, schritten sie über die Potsdamer Straße.

Lea wollte über seine laxe Glaubensmoral innerlich nicht mehr ruhig werden.

Emil rechnete sich indessen im Geiste pfiffig aus, wieviel Chananje ihm als bare Mitgift zu zahlen, erstens wohl freiwillig bereit, zweitens aber im Höchstfall unter entsprechender Druckpunktnahme in der unglücklichen Lage sein würde …

Vor der Haustür trennten sich die wortkargen Brautleute, indem Emil ihr einen flüchtigen Kuß aufdrückte, den Lea aus Angst, gesehen zu werden, nicht erwiderte.

Dann sagte Emil banal, während er sie lustvoll betrachtete: »Ich wohne jetzt also Linkstraße 69 und würde mich freuen, dir morgen früh unser Heim einmal zeigen zu können.«

»Das geht doch vorläufig nicht!« wehrte sie sich.

»Aber warum denn nicht? Wir sind doch keine Kinder mehr,« neckte er, sie dabei leicht in die Backe kneifend. »Merke dir jedenfalls die Nummer 69. Man kann nie wissen!«

»Unverbesserlicher Mann!« schalt sie, schloß schnell die Tür auf und schlüpfte schleunigst ins Haus.


Frau Justizrat Moses wußte zuerst vor Erstaunen nicht, wie sie sich zu Emils sonderbarem und ihr unverständlichem Verhalten stellen sollte, als ihr der Gatte gleich nach der Heimkehr die vom Bureaubericht kommende Neuigkeit scherzend unter der Überschrift: »Auszug der Kinder Israel aus Mizrajim« beigebracht hatte.

Nach einem kleinlichen Gedankenärger tat sie den ihr unscheinbaren Verlust achselzuckend mit einem wegwerfenden »Nu schön!« ab.

Als ihr jedoch eine halbe Stunde später von der darob entrüsteten Bonne gemeldet worden war, daß aus dem fest verschlossen gewesenen Kleiderschranke in Emils Zimmer eine neue seidene Bluse abhanden gekommen sei, wurde ihre Gleichgültigkeit gegen Emil in eine nicht gelinde Wut umgesetzt und löste sich in folgendem Selbstgespräch, also in einer echten Gardinenpredigt aus. »Die Bluse hat sicher dieses Diebsgesicht, die Neufeld, mitgehen lassen! Ich bin nur froh, daß wir das ganze Gesindel los sind. Jedenfalls werd' ich mir den Herrn Rechtsanwalt gehörig vorknöpfen … Die Miete für Juli hat er mir auch noch nicht bezahlt. – Er soll mir nur unter die Augen kommen!«

Als Moses nun die Nebentür öffnete und sie heiter lächelnd mit einem sanften »Pscht – pscht, Röschen!« beruhigen wollte, warf sie ihm einen ihrer bösesten Blicke zu und keifte: »Dieser Uhlig soll mir bloß noch einmal unter die Augen kommen!«


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