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Mit aller Welt las auch Werner Uhlig – tags zuvor von seiner Geschäftsreise heimgekehrt – des Vetters Verlobung mit Gabriele Hartstein beim Frühstück in der Zeitung.
Zuerst wußte er wirklich nicht, ob er wettern oder lächeln sollte … Soviel Scheußlichkeit auf einen Schlag hatte er sein an herben Enttäuschungen nicht einmal armes Leben lang doch noch nicht erfahren …
Ein furchtbarer Ekel vor der ganzen Menschheit erfaßte ihn, daß er sich von nun an völlig einzukapseln, sich jeder äußeren Einwirkung fest zu versagen beschloß. Keinen Augenblick dachte er über Emils Motive nach. Dessen bodenlose Gemeinheit dünkte ihm dermaßen verächtlich, daß er froh war, nichts mehr von der ganzen Sippschaft hören zu brauchen.
Da brachte der Fernsprecher mit schrillem Anschlag doch wieder den ersten Ruf von draußen, und angewidert hob Werner den Hörer, um sich zu melden. Er hatte richtig geahnt: Das Geschmeiß wollte ihn nicht in Ruhe lassen.
»Hier ist Otto Uhlig,« scholl es untertänig an sein Ohr.
»Was wollt ihr denn noch von mir?« gab er gewollt barsch zurück.
»Der Emil läßt dich nur bitten, ja nichts Übereiltes gegen ihn zu unternehmen. Er will später alles aufklären. Zunächst bietet er dir hunderttausend Mark Abstand an, falls du ihn ohne alle Gegentricks ruhig in den Hafen einlaufen läßt.«
»Bestelle Emil eins: daß er meine Nilpferdpeitsche zu spüren bekommt, falls er es je wagen sollte, sich nochmals vor mir blicken zu lassen.«
Damit hängte er wie befreit ab – und holte ganz erleichtert Luft.
Seine erste, menschlich begreifliche Schwermut um den verlorenen Freund glitt in ein schallendes Gelächter über, mit der inneren Erkenntnis, daß eine rückgratslose Quallennatur, wie Emil Uhlig, eben niemals fähig gewesen war, Freund zu sein oder so genannt zu werden. –
Fünf Minuten später – da Werner sich eben zum Fortgang ins Bureau fertig machte – schellte es vorn.
›Der Briefträger war doch längst da,‹ dachte er, als der Diener Max Frau Wollmann meldete.
»Auch das noch!« schüttelte Werner verzweifelt den Kopf, ließ sie aber dennoch hereinbitten.
»Guten Morjen, Herr Uhlig,« stürzte die alte Dame aufs höchste erregt in den Salon. »Ich bin ja meiner Sinne nicht mehr mächtig über diesen Gaunerstreich!«
»Mich wundert auf dieser Welt gar nichts mehr,« sagte sehr abgeklärt Werner.
»Was gedenken Sie zu unternehmen?« forschte sie trotzdem.
»Nichts, werte Frau … Wozu auch?« wies er ihre Anregung ab.
»Na, ich werde diesem dunklen Ehrenmanne doch die Zähne zeigen. Ich übergebe diese Schurkerei dem Ehrengerichtshof der Anwaltskammer,« begehrte sie auf.
»Lassen Sie's lieber! Sie werden damit nichts erreichen. Ich habe die betrübliche Erfahrung gemacht, daß in diesem Leben die größten Halunken immer das meiste Glück haben. – Im übrigen haben Sie selbst doch wohl auch ihre Hand dabei im Spiele gehabt!" hielt er ihr vor.
»Ich!« schnellte die alte Dame wie eine Spirale vom Stuhl auf. »Ich war bis vor vier Tagen in Salzschlirf und lese heute die ganze Bescherung im Tageblatt. Dieser Lump hat meine subalterne Hilfskraft, eine dumme Person, durch wertlose Wechsel bestochen und hinter meinem Rücken die für nur Sie reservierte Sache sich selbst zugeschanzt. Ich werde aber nicht locker lassen. Ich habe einflußreiche Freunde. Ich bringe diesen Hochstapler dahin, wo er hingehört. – An den Pranger mit solchem Abschaum der menschlichen Gesellschaft! Wissen Sie, ich bin über 60 Jahre alt; – aber so ein Ausbund von ehrloser Gesinnung ist mir doch noch nicht vor die Augen gekommen.«
Bei dem letzten Geständnis dämpfte sie ihre beispiellose Erregung selbst etwas ein, und Werner suchte ihren gerechten Zorn weiter abzulenken.
»Glauben Sie mir, daß die treibende Kraft zu diesem schuftigen Vertrauensbruch an meiner Person nur dieser erbärmliche Vater war!«
»Wie ein Raubtier sieht der Kerl ja auch aus,« hakte sie sofort einsichtig ein.
»Das vor keiner niedrigsten Schmachtat zurückscheut,« nickte er.
Frau Wollmann beruhigte sich langsam und sann bedrückt eine Weile vor sich hin.
»Ich mochte jedenfalls nicht verfehlen,« begann sie alsdann, »Ihnen nochmals mein aufrichtiges Bedauern zu dem scheußlichen Vorfall auszusprechen, mit der offenen Erklärung, daß ich vollkommen schuldlos bin. Ebenso ist es – wie ich schon telephonisch festgestellt habe – meine Unteragentin, eine ganz ungebildete Mietsfrau, die nur als bedauerliches Opfer dieser durchtriebenen Betrügerbande zu betrachten sein wird.«
Werner nickte ihr zum Einverständnis zu.
»Ich danke Ihnen, gnädige Frau … Meine Wertschätzung für Sie hat indessen in keiner Weise gelitten.« Er zog seine Tischlade auf. »Hier ist auch – ehe ich es vergesse – das mir anvertraute Lichtbild der jungen Dame.« Während er ihr den Karton überreichte, erhob er sich, um die Aussprache zu beenden. »Nehmen Sie jedenfalls meinen schönsten Dank für Ihren Besuch und Ihre im wahrsten Sinne des Wortes so vergebene Liebesmüh'.«
Damit schob er einen schnell gefüllten Briefumschlag in ihre auf dem Tisch liegende Handtasche, was Frau Wollmann recht diskret übersah.
»Herr Uhlig!« holte sie darauf zum Schlußwort aus: »Meine umsichtige Geschäftsgebarung steht Ihnen dafür, daß ich Ihnen sobald als möglich einen vollgültigen Ersatzvorschlag zu machen in der Lage sein werde. – An diesen Hartsteins scheint ja auch moralisch nicht viel dran zu sein, wenn sie eine Liaison mit derartigem Proselytenpack gutheißen.«
»Ich danke Ihnen!« winkte Werner nun ab. »Ich bedauere aber, Sie hiermit um Einstellung Ihrer Tätigkeit für meine Person bitten zu müssen. Mein Herz hat nämlich bereits gesprochen.«
»Nicht möglich!« staunte Frau Wollmann niedergeschlagen. »Also eine neue Niete!« wallte ihr Inneres dann wieder auf.
Werner drückte ihr festbleibend die Hand.
»Meine einzige Lebensgefährtin heißt – von heute ab: die Arbeit."
Sehr viel weniger Freude als jedes einzelne Familienmitglied im jahrelangen Jammer ihres heulenden Elends doch stolz vorausgehofft hatte, brachte Emils Goldfischfang dem Hause Uhlig.
Adam war der einzige, der traumberauscht in eitel Wonne schwamm, neben Emil natürlich, der sich wie eine Made im Speck fühlte.
Der Rechtsbeflissene Otto Uhlig, dessen noch junges Hirn die verworfene Handlungsweise des großen Bruders nicht begreifen mochte, rückte innerlich eine breite Spanne von den beiden Männern ab, die um des schnöden Mammons willen einen edelmütigen, hochherzigen Menschen ganz skrupellos ans Kreuz geschlagen hatten. In dieser seiner inneren Empfindung hatte ihn das energische Verhalten Werners am Fernsprecher heute morgen noch bedeutend bestärkt …
Besonders aber bewahrheitete sich die alte Lehre, daß in Gedankenträumen alles stets viel rosiger aussieht als in der grellen Wirklichkeit bei den zwei Frauen der Familie.
Mutter Hulda kam schon deshalb nicht dazu, sich mit ganzer Hingabe in Emils »Liebesglück« zu sonnen, weil erstens die von Hartsteins streng beobachtete Höhe jede intimere Vertraulichkeit eines verwandtschaftlichen Verkehrs ausschloß, und zweitens, weil ihr Augapfel Ellen seit jenem verhängnisvollen Tage noch nicht wieder dauernd hatte aufstehen dürfen.
Nach zehntägiger Beobachtung der Kranken hatte damals der Onkel Ignaz seine Diagnose gestellt: Es lag bei Ellen eine schwere Erkrankung des Nervensystems vor. Wenn der Arzt auch den Übergang zu eigentlicher Geisteskrankheit nicht befürchtete, war er jedoch seiner Schwägerin gegenüber offen genug gewesen, sie eindringlich auf das Gefahrvolle in Ellens Leiden hinzuweisen. Die mit Sicherheit von ihm festgestellte Hysteralgie hielt er für angeboren und fand sie durch Ellens mehr als kümmerliche Lebensweise und lieblose Erziehung zu jenen überspannten Ideen ausgewachsen, die das junge Mädchen – was sie selbst genug äußerte – aus einer ursprünglichen Frohnatur zum seltsamen Einspänner gewandelt hatten.
Dabei stellte er auch die schändliche Enttäuschung durch Paul Kurtius als schwerwiegenden Posten mit in die große Rechnung ein.
Den wahren Erreger der Krankheit kannte und ahnte der Arzt natürlich nicht; denn seine Beobachtungen mußten sich auf die flüchtigen Wahrnehmungen während seiner naturgemäß immer nur recht kurzen Besuchszeit stützen.
Die Mutter aber, die ihr Kind dauernd betreute, fühlte aus den Lach- und Weinkrämpfen, die Ellen abwechselnd und grundlos plötzlich befielen, merkte aus ihrem regelmäßigen Gähnstarren und all den im Dämmerzustand fallenden wirren Worten sehr bald, daß irgendein äußerer Anlaß diesen schroffen Wechsel in Stimmung und Charakter ihrer Tochter hervorgerufen haben mußte …
Bei Emils Rückkehr von der Heringsdorfer Brautfahrt war Ellen durch zweimonatliche Bettbehandlung endlich soweit geheilt, um wieder aufstehen zu können. Und nun erweckte bei Frau Hulda die öffentliche Verlobung mit der millionenreichen Gabriele Hartstein immerhin den guten Trost: durch Umformung ihrer Daseinsführung und Ernährung würde sie den langwierigen Heilungsverlauf bald aufbessern und beleben können!
Nach den ersten kurzen Spaziergängen in der milden Septembersonne traten jedoch Erscheinungen auf, die der bekümmerten Mutter eine bange Befürchtung, der sie sich erst sträubend verwehrte, zur harten Gewißheit werden ließ.
Ellen wurde Mutter!
Dazu aber drohte aus dunklem Hintergrunde noch als zweites furchtbares Gespenst: die Möglichkeit ihrer geistigen Umnachtung!! Frau Hulda verlor bei diesen Gedanken fast die Herrschaft über ihren eigenen Kopf.
Vor einigen Tagen hatte Ellen in Schlachtensee bei Hartsteins das offizielle Verlobungsessen schon ganz gut überstanden, obwohl die herablassende Art, mit der ihr Elternpaar von den drei neuen Verwandten behandelt wurde, eine gesteigerte Erregung und neue Reizung ihrer von früh her besonders ausgeprägten Empfindsamkeit zur Folge hatte.
Trotzdem hielt Frau Hulda sie für widerstandsfähig genug, am nächsten Morgen die schwere, Klarheit heischende Frage an sie zu richten … Und da Ellen, ganz gegen ihre sonstige schlichte Zurückhaltung im Wesen, schon seit Wochen den regen Drang fühlte, sich wichtig und interessant zu machen, erzählte sie der Mutter – zur Abrundung ihres eigenen Heiligenbildes als Märtyrerin – schrankenlos und ohne jede Mädchenscheu eine von ihrer Einbildung diktierte Leidensgeschichte:
Von ganz übertriebenen Seelenqualen, die sie um Udo Stettner gelitten, bis sie schließlich seiner sie magnetisch anziehenden Mannbarkeit erlegen sei, dichtete ihre Phantasie ganze Filmfolgen …
Lebhafte Zwangsvorstellungen, die dabei sinnestäuschend mitwirkten, ließen sie den Maler plötzlich in ihrem Zimmer weilend vermuten und ansprechen, so daß Frau Hulda vor Angst und Sorgen Blut schwitzte. Sie tat alles Menschenmögliche, um ihre Tochter in diesem Wechselzustand wilder Ideenflucht zu begütigen, und hatte doch niemanden, dem sie ihre nagende Seelenpein anvertrauen durfte. Als Ellen nach einer Woche endlich äußerlich etwas ruhig war, glaubte sie zur Verhütung von Schimpf und Schande in ihrer letzten Verzweiflung Hilfe bei einer stets bereiten Wehmutter suchen zu sollen …
In der Kirchstraße wurde ihr eine solche als Retterin von Selma, dem Dienstmädchen, genannt, die trotz ihrer Jugend schon ausgewitzt genug in allen Schlichen des Liebeslebens war und sich nur wunderte, daß »ihrer Gnädigen auf ihre alten Tage – noch so was passiert sein könnte«. –
Frau Hulda hatte keinen anderen Gedanken als den, daß doch mit Ellens Schicksal auch Emils Zukunft auf des Messers Schneide gerückt wurde.
Von einer wahnsinnigen Angst zerrissen, ihrem Sohne schon durch bloßes Plaudern in Hinsicht auf seine Heirat schaden zu können, vertraute sie sich nicht einfach ihrem Schwager an, sondern stärkte in schlaflosen Nächten nur diesen falschen, ihr aber einzig als Erlösung aus dem Zwiespalt vorschwebenden Entschluß.
Endlich schritt sie am nächsten Tage zur Tat.
Sie führte die ganz willenlose, gern mit allem einverstandene Tochter wohl in bester Hoffnung zu der verrufenen Hebamme, brachte sie aber nicht mehr nach Hause zurück.
Ellens durch langes Liegen, schlechte Kost und schwere Krankheit zu sehr geschwächter Körper erwies sich der Gewaltkur des verbrecherischen Weibes als nicht mehr gewachsen …
Eine im raschen Blutkreislauf den ganz abgezehrten Mädchenleib schnell zersetzende Vergiftung führte noch am gleichen Tage den Tod ihrer Tochter herbei; und selbst mehr leblos, denn lebend verließ Frau Hulda unter klagendem Geschrei mit wankenden Knien das Haus des Schreckens.
Ellens Leiche wurde nach Eingang des telephonischen Polizeiberichtes von der Staatsanwaltschaft sofort beschlagnahmt.
Was alles auch die unglückliche Mutter schon an Seelenmartern erlitten hatte, die bevorstehende Beichte vor ihrem Manne drohte ihr doch als bitterste Stunde ihres zerbrochenen Daseins.
Und dabei ahnte sie noch nicht, daß ihrer zudem eine schwere Zuchthausstrafe unheildräuend harrte … Am liebsten hätte Frau Hulda ihrem verhaßten Leben ein freiwilliges Ziel gesetzt, nur um dem Bekenntnis ihrer niederdrückenden Schuld vor dem brutalen Gatten auszuweichen. Aber es sollte ihr nichts, nichts erspart bleiben.
Adam Uhlig, dem sie in Tränen zerfließend stückweise ihre gefolterte Seele preisgab, brüllte wüst wie ein falsch gestochenes Schlachttier auf.
Er, der für Lea Moses' Verführung durch seinen Sohn nur eine gemeine Lache verfüglich gehabt hatte, mußte nun am eigenen Leibe, am letzten ihm verbliebenen Seelenrest erfahren, wie furchtbares einem Vater vom Schicksalswalten aufgebürdet werden kann. Seine Wut über Stettner war aber weit stärker, als der Schmerz um sein verlorenes Kind, das er ja seelisch nie besessen hatte …
»Ich mach' den Kerl kalt! Mit diesen Bänden hier zerreiß ich ihn, wie 'n Fisch!« schrie er blutrünstig, in der Luft herumfuchtelnd und stellte sein vertiertes Denken nur zu rasch in die Richtung dieses Racheplanes ein …
Ganze Arbeit wollte er machen!
Während seine erschütterte Frau sich – dem Wahnsinn nahe – aus dem Zimmer schleppte, holte er wild fluchend die Axt aus der Küche und packte sie mit satanischer Ruhe in Pappe ein, um sie darauf regelrecht zu verschnüren.
So gerüstet, fuhr er pfeifend nach der Pariser Straße.
Kein schlechter Schreck jagte Udo Stettner vom Guckloch fort, als er vor seiner Tür Adams verwüstetes Gesicht einlaßfordernd erkannte. Schlau suchte er sich Uhligs Kommen zu deuten. – Und er ahnte Unheil! Als aber dem Büffel draußen nicht sofort geöffnet wurde, verlangte der laut schreiend nach dem Maler, während seine benagelten Schaftstiefel, die er seit Emils Verlobung zum ersten Male, wie zum Symbol seiner Absichten, angezogen hatte, im Takte zu seinen unartikulierten Lauten den Holzboden stießen.
Nun wußte Udo Stettner völlig Bescheid und hielt es entschieden für lebenskluger, jede leibliche Begegnung mit diesem rasenden Rächer seiner Tochter jetzt besser zu vermeiden. Mit einem listigen Blick überzeugte er sich noch schnell davon, daß die Sicherheitskette fest vorgelegt war, und dann verschwand er auf unhörbaren Sohlen durch die Küche über die Hintertreppe.
Adams Geduld war aber nach einigen Minuten auch bereits erschöpft. Und so riß er seine Axt aus der Pappe und hieb mit vier weit ausholenden Schlagen die kieferne Korridortür ein.
»Der Kerl muß mir vor die Klinge!« schrie er in ekstatisch gesteigerter Raserei. »Der Lump soll mir vors Beil! Vors Beil – der Lump!«
Bald darauf stand er enttäuscht im Atelier, weil er niemand vorfand!
Mit seinen kurzen Schritten durcheilte er die Werkstatt und stöberte noch in zwei Nebenräumen nach seinem Flüchtling.
Da er den Gesuchten aber weder hier noch dort fand, ließ er seine vandalische Zerstörungswut an denjenigen Werken des Malers aus, die – wie er wahrnahm – sein verblichenes Kind mit betrafen … Ganz eingehend beschäftigte er sich mit Udos ›Meisterwerk‹, das er ohne Gnade in tausend Teilchen zerstückelte.
Und weil sich seine grausame Mordlust bei diesem Geschäft noch erhöht hatte, setzte er sich zäh auf den Diwan, um zunächst bis zum Dämmern stumpfsinnig auf seiner Tochter Schänder zu warten … Immer länger lauerte er vergebens und verließ, als es schon dunkelte, das Haus, nur um nicht mit eingeschlossen zu werden, nach neun Uhr abends.
In unbefriedigter Rachgier wußte er nicht, was er jetzt anfangen sollte. Erst wollte er dem Maler die ganze Nacht hindurch vor dem Hause aufpassen, entschied sich dann aber, besser morgen wiederzukommen.
Damit wandte er sich zu Fuß nach Haus.
Am Bahnhof Zoo hörte er im wimmelnden Menschentreiben einen Straßenhändler den Inhalt seines Skandalblättchens mit dröhnender Stimme ausposaunen: »Das Verbrechen in der Kirchstraße!« – »Aus der Praxis einer weisen Frau!« hallte es abwechselnd im Anreißerton durch das Getümmel.
Angsterfüllt kaufte Adam sich eine Nummer. Eine Ausgabe, die er sich in seinem kargen Leben noch nie geleistet hatte!
Damit stellte er sich schweißgebadet an einen Laternenpfahl, um zu lesen.
Schon nach den ersten Sätzen sah er das Schicksal seiner ganzen Familie vernichtet – versinken.
Sein Name und der seiner toten Tochter war in dem für lüsterne Lebeleute nach dem Polizeibericht zurechtgeschliffenen Artikel schonungslos abgedruckt, ja sogar seine Adresse hatte der Schmierfink ganz genau genannt … –
Adam konnte nur noch beobachten, wie das Revolverblatt nach allen Seiten hin reißenden Absatz fand. Es war das Ende auch für ihn! Das wußte er … Eine maßlose Menschenscheu befiel ihn. Er dachte plötzlich an sein friedloses Haus, an seine Frau. Sie war zweifellos die Urheberin des ganzen Unglücks. Ja, sie hatte alles durch ihre grenzenlose Dummheit verschuldet. Sie ganz allein! Seinen Wutkrampf lenkte er nun gegen Hulda ab. Hatte sie nicht mutterwitzig bis nach der Hochzeit warten können? Statt unüberlegt alles zu zerstören?
Aber dafür sollte sie ihm furchtbar büßen!
Rachelechzend richtete er seine kurzen Schritte zum Bahnschalter.
Herr Sally Hartstein, »le vieux trotteur« – wie er sich so gern im Klub von 80 nennen hörte – brachte von seiner Autofahrt über die Linden gleichfalls ein Druckexemplar der »Weißen Weste«, jenes Schandblättchens, in seine Villa nach Schlachtensee.
Ohne erst seinen schweren Wagenmantel abzulegen, trat er kopfschüttelnd vor seine Gattin und hielt es ihr mit einem nicht einmal unzufriedenen Lächeln vor die spitze Nase. Sicher war er gar nicht ungehalten, seinem stets alles nach ihrem selbstischen Ermessen einrichtenden Frauchen auch wieder einmal eine Lehre geben zu können. An Gabrieles Geschick dachte er dabei erst in letzter Linie.
»Lies dir mal durch, Liebste!« forderte er sie hämisch auf. »Mit was für einer Pöbelbande du das Kind da versippen willst. Schauderbar! Doch ganze drei Wochen, und schon wäre es zu spät gewesen!« witzelte er weiter.
Frau Hartstein starrte ihn erst blöde an, las dann fassungslos und fiel aus einer Ohnmacht in die zweite und dritte.
Schließlich und endlich raffte sie sich etwas zusammen.
»Gott, wie unangenehm!« sagte sie furchtbar enttäuscht, um gleich weltklug hinzuzufügen: »Besser – man zerreißt Papier – als Pergament!«
»Das denke ich auch!« schloß sich ihr der Gatte in seltener Einmütigkeit an und wollte zum Telephonzimmer.
Als er die schallsicher ausgepolsterte Tür öffnete, wankte ihm »ganz gebrochen« Gabriele entgegen.
Das Taschentuch vor den Augen, wollte sie am Vater vorbei.
Der aber hielt sie fest und gab ihr einen tröstenden Kuß auf die Stirn.
»Emil hat mir eben alles Entsetzliche erzählt. Ich bin total kaputt … Und da wollte er noch versuchen, mich in solchem Zustand zu einer heimlichen Flucht nach England zu verleiten!« schnatterte sie wie eine Ente durch die Nase, weil sich in Momenten der Erregung ihr kleiner Sprachfehler immer etwas stärker geltend machte.
Ein lautes höhnisches Lachen leitete die schneidende Antwort des Alten ein.
»Du hast doch gleich die Konsequenzen gezogen?« nahm er sie bei der Ehre.
»Natürlich, Papa!« nuschelte sie. »O, was ich durchmachen muß! Ich bin ja ganz zerschlagen, total kaputt!«
»Nun, das ist heutzutage nicht halb so schlimm, Gabi! Verlobt ist noch nicht verheiratet!« tätschelte der Alte sie gutmütig. »Dein geliebtes Mammullek wird schon wieder einen Mann für dich ausfindig machen. So was hat sie raus!«
»Aber diese Blamage vor allen Bekannten!« empörte Gabriele sich endlich.
»Geld deckt alles zu, mein Leben! – Und was können denn wir dafür, daß diese Uhligs dermaßen abwegiges Gesindel sind,« beruhigte er sie. »Solange wir noch unser tägliches Huhn im Topf haben, mein gutes Kind, solange kann uns niemand an die Karre!«
Spät nachts erst kam der Büffel wutstrotzend nach Hause.
Stundenlang war er vom Bahnhof Tiergarten im Waldesdunkel herumgeirrt und rang in der freien Natur nach einem neuen Lebensinhalt, ohne ihn aber zu finden.
Den ganzen Weg über befestigte und beherrschte ihn nur der eine Gedanke, in Ermangelung des Malers die zweite Schuldige an seiner Schmach zu strafen.
In der »bornierten Schandtat« seiner Frau erblickte er ein so unverzeihliches Verbrechen, daß er heute für sie – nachdem der Maler seiner Rache entronnen war – keine Neigung zur Milde mehr erübrigte.
Hatte sie nicht den letzten Hauch von Selbstachtung aus seinem verwahrlosten Gehirn vertrieben, als sie die eigene Mutter zu seiner Enterbung mit anstiftete?
War sie nicht die diebische Erfinderin des Leibgedinges für seinen Schwager?
Hatte sie ferner nicht, nachdem allein seine Klugheit dem Sohne die Krone des Glückes fast zugewandt, durch diese ihre Ausgeburt des Wahnsinns noch im letzten Augenblick seinen großen Wurf abgefangen und alle Ihren damit dem Verderben überantwortet?
Jeden Gedanken an die Möglichkeiten der Zukunft schob er widerwillig fort; er dachte nur mehr an die erbärmliche Gegenwart, die seine Frau aus lichtestem Heil in düsteres Unheil verwandelt hatte.
Mit ihr mußte er abrechnen, und zwar summarisch über all die Missetaten, mit denen er sie in sechsunddreißigjähriger Ehe belastet hatte.
»Hulda!« schrie er, während er die Korridortür krachend ins Schloß warf.
Keine Antwort wurde ihm.
Schon fürchtete er, daß auch sie sich durch Flucht seinem wildernden Rachedurst entzogen habe …
»Hulda!« brüllte er abermals, von einem neuen Wutkrampf gepackt. So lief er durch die ganze Vierzimmerwohnung, deren sämtliche Gasflammen er rasch zum Brennen brachte …
Alles war leer.
Ellen lag vielleicht im Leichenschauhaus … Er, als Vater, wußte es nicht einmal, wo!
Emil schlief ja jetzt in seinem Eigenheim. Wie lange noch?
Und Otto war noch nicht von seinem Bummel durch Berlin zurück. Oder vielleicht mied er bereits angeekelt sein Elternhaus?
Rasend eilte er hinter ins eheliche Schlafzimmer.
Da kauerte, unaufhörlich schluchzend, nur ihrem demütigen Schmerz hingegeben, das verzweifelte Weib. Eine seltsame Genugtuung, ihrer habhaft zu sein, durchzuckte ihn …
»Komm herein!« herrschte er sie hart an.
Als sie in der Abkehr ihres Geistes gar nicht antwortete, riß er sie brutal an den Armen empor und zerrte die Wehrlose ins Speisezimmer, nach dem gewohnten Raum seiner wüsten Ausbrüche.
»Hör' auf zu flennen!« schrie er – vor Wut in seinen eigenen Worten fast erstickend. »Ich will heute eine Bilanz ziehen. Antworte mir, was ich dich frage! erstens: Warum hast du das Jeld deiner Mutter an den Positiven abjetrieben?«
Frau Hulda blickte ihn durch ihren Tränenschleier verständnislos an, ohne Worte zu finden.
»Zweitens!« brüllte er jetzt. »Wozu hast du mir die Herzen der Kinder entfremdet? Daß ich nie anders wie ein Idiot von ihnen jeachtet worden bin?«
Die Bemitleidenswerte blieb weiter starr und stumm, weil all ihr Trachten zur Leiche ihrer Tochter strebte.
Dieser scheinbare Trotz steigerte Adams Wutkoller ins Übermögliche …
Er packte sie um den Hals, rüttelte sie wild hin und her und wußte nicht mehr, was er wollte, als er die dritte und letzte Frage an sie richtete: »Warum hast du mir zu allem Bösen noch diesen schwarzen Tag heute verschafft? Hättste nich abwarten können mit deiner Oberklugheit, bis Emil jelandet war?«
Da wurde ihm seine Frau plötzlich doppelt schwer in den Händen, daß er sie verdutzt losließ – und ihr Leib mit dumpfem Aufschlag zu Boden sank.
Sofort empfand er, was er getan hatte! Und ein hoher Stolz über seine Tat erfaßte ihn …
Verglasten Blickes setzte er sich befriedigt aufs Sofa und erwartete in sinnlosem Brüten den neuen Tag, Mörder und Totenwächter in einer Person …
Als in früher Morgenstunde der königliche Untersuchungsrichter persönlich mit dem Beschluß erschien, um die dringend der Beihilfe zu § 218 des »Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich« verdächtige Frau Hulda Uhlig, geborene Flügel, zu verhaften, sagte ihm Adam mit stieren Augen, daß er einen Tag zu spät käme.
Er selbst hatte, wie er sich brummig ausdrückte, »kurzen Prozeß jemacht und die Beschuldigte dem irdischen Jericht entzogen«.
Kalten Blutes gestand er dem Vertreter der Staatsgewalt die ganze Vorgeschichte seines Rachewerkes ein, unterschrieb sorgfältig das mit ihm aufgenommene Protokoll und ließ sich mit geradezu teuflischer Wollust ins Gefängnis abführen, wo ihn nach einer halben Stunde der für seine Frau bestimmt gewesene Wagen einlieferte.
Hier bat er gleich sehr geschäftig um Schreibpapier …
Und da er zu seinem eigenen Sohne wenig Zutrauen aufbrachte, erblickte er absolut keine Zumutung darin, dem besten Kenner seiner verworrenen Verhältnisse die Erfüllung des einzigen Wunsches, nur von ihm verteidigt zu werden, anzusinnen.
Auf seine kriecherische Art flehte er den Justizrat Moses an, nun doch alles begraben und vergessen sein zu lassen und ihm in der schwersten Stunde seines Lebens als edler Menschenfreund beizustehen.
Diesen mit vollen Sinnen geschriebenen Brief übergab er in der Zelle dem Gefangenenwärter zur Weiterbeförderung.
Von irgendwelcher Reue über seine Tat war auch nicht die geringste Regung zu spüren!