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Sonnabend nachmittag
keine Sprechstunde stand als Devise auch über der vielfältigen Praxis des Justizrats Moses. Und durch diesen freien Nachmittag nach der Last und Mühe der arbeitsreichen Woche durfte auch im Hause Moses' der alte jüdische Brauch der Sabbatehrung eine späte Auferstehung aus der Vergessenheit feiern. Als der schweigsame Mann diesen Donnerstag abend bei Bureauschluß nachdenklich zu seiner Frau ins Speisezimmer trat, machte er ihr in bezug auf das Wochenende einen Vorschlag.
»Der junge Uhlig ist nu schon volle vier Wochen im Haus. Wir müssen ihn auch einmal einladen, – zum Tee?«
»Meinetwegen,« gab Frau Rätin uninteressiert zurück, um gleich hinzuzusetzen: »Er hat zwar keinen offiziellen Besuch gemacht, weil er keine Spur von Schliff hat. – Aber wenn wir 'n trotzdem einladen, dann schon gleich die beiden Freunde mit. Den Doktor Fritz Bein und den Sohn von Simon Uhlig, den Werner. Das ist dann ein Abwaschen, Martin.«
»Nu' schön!« gab sich Moses gern zufrieden und ging zum Korridor, um Emil womöglich noch vor dem Fortgehen zu fassen.
»Herr Kollege – auf ein Wort!« rief er ihm, der gerade im Begriff war, die Klinke der Treppentür zu öffnen, zu.
»Bitte, natürlich, Herr Justizrat,« dankte der so Angerufene und trat – Hut und Stock in der Hand, die Aktentasche unter den Arm gepreßt – ins Zimmer. Dach einer eckigen Verbeugung vor der Dame des Hauses, die er seit seiner ›Aufnahmeprüfung‹ kaum dreimal flüchtig wiedergesehen hatte, nahm er, ohne seine Sachen aus der Hand zu legen, auf ihren einladenden Wink befangen Platz.
Moses nickte seiner Frau durch Heben des Hauptes zu, das Wort an Emil zu richten, was ihrerseits sofort mit gesellschaftlicher Geläufigkeit geschah.
Der junge Rechtsanwalt sah der flotten Vierzigerin dabei offen in ihr volles, üppiges Gesicht, das von reichem, noch tiefschwarzem Haar gekrönt war.
»Herr Doktor, mein Mann möchte Sie und ihre beiden Freunde zu übermorgen für einen fife o'clock tea bitten. Ich werde auch noch ein paar gute Bekannte dazuladen; hoffentlich haben Sie Zeit und Lust?«
Ihre roten Lippen hatten sich in temperamentvoller Hast bewegt, und die sammetartig-schwarzglänzenden Augen sprachen vielsagend mit ihrem regsamen Mienenspiel mit.
»Aber gerne, Frau Justizrat. Ich – für meinen Teil – werde natürlich selbstredend erscheinen und auch meinen Vetter verständigen, ebenso wie Herrn Doktor Bein. Mit beiden komme ich noch heute abend zusammen. Morgen werde ich Ihnen dann auch von seiten der Herren Bescheid sagen,« erwiderte Emil freundlich und wollte sich erheben.
Aber der Justizrat erhob seine fleischige Hand, wobei der auf seinem kleinen Finger sitzende Brillant lichtlodernd auffunkelte.
»Herr Kollege, noch eine Frage, die mir schon lange auf der Leber liegt,« warf Moses – auf einmal etwas gesprächig werdend – jetzt ein.
»Bitte, nur ja kein Blatt vor den Mund zu nehmen,« machte ihm Emil verbindlich die schwere Zunge freier. »Handelt es sich vielleicht um eine Rüge meines Bureaubetriebes, Herr Justizrat?«
»Das nicht! I wo!« schüttelte Moses den Kopf und schwieg …
»Aber legen Sie doch mal ihre Mappe aus der Hand, die Sie ja beängstigend krampfhaft festhalten,« gemahnte, ganz Güte, Frau Moses.
Und erst nachdem Emil Hut und Stock umständlich auf einen Stuhl, die dicke Aktentasche daneben gelegt hatte, schöpfte Moses tief Atem und sah ihn treuherzig mit seinem klugen Gesicht eine Weile an, bevor er sprach.
»Sagen Sie mal, Herr Kollege – verzeihn Sie mir den Eingriff: 's ist 'ne rein persönliche Anfrage – wozu haben Sie sich eigentlich taufen lassen?«
Emil war baff … Er wurde sichtlich noch befangener, als er es durch seine schläfrige Natur an sich schon war. Zugeknöpft schwieg jetzt er ziemlich lange, weshalb Frau Moses erläuternd einzuschreiten für dringend geboten hielt.
»Im Grunde geht es uns ja gar nichts an, Herr Doktor, aber Sie tun uns doch sehr leid. Wirklich sehr leid! Wir haben nur Ihr Bestes im Auge. Wir beschäftigen uns mit ihrem Weiterkommen. Seh'n Sie mal, jetzt werden Sie doch bald heiratsfähig. Wenn Ihre Praxis – wie mein Mann beobachtet – so weiter hochgeht, würden Sie – vielleicht – eine ganz gute Partie sein, wenn Sie nicht diesen Schönheitsfehler hätten!«
»Das ist lediglich Auffassungssache!« gab Emil nach der ersten Verblüffung widerhaarig zurück und klemmte sein Monokel, das ihm vorhin im ersten Schreck beinahe entfallen wäre, fest entschlossen in sein Schellfischauge.
»Auffassung hin – Auffassung her!« legte sich Moses erregt ins Zeug. »Ich sag' ihnen, kein jüdisches Mädchen nimmt Sie als Getauften. Und 'ne Goje können Sie doch nicht nehmen.«
»Es gibt ja auch getaufte Jüdinnen,« gab Emil beinahe gereizt zurück.
»Das sind übermütige, reich gewordene Geschwollene. Die suchen nur Rassenmischung und wollen von unsere Leut' nichts wissen. So eine Abtrünnige heiratet nicht in Ihre Familie rein; bei den jetzt obwaltenden Verhältnissen müssen Sie wohl oder übel schon ein paar Stufen zurückstecken!« zwang ihn voller Geistesgegenwart Frau Moses in große Verlegenheit.
»Aber wieso und woher wissen Sie denn überhaupt, daß ich mich verheiraten will? Vielleicht will ich es gar nicht?« wand sich Emil, in die Enge getrieben, wie ein Regenwurm.
Das brachte Moses dermaßen auf, daß er aufstand.
»E' Frage – ob er will! E' Frage!« schrie er, mit den viel zu kurzen Armen in der Luft fuchtelnd, seine voll mit ihm fühlende Gattin an und wandte sich erst dann etwas gemäßigter an seinen jungen Berufsgenossen.
»Herr Kollege, nichts für ungut. – Ich seh', Sie wollen mir meine kleine Anfrage nicht beantworten. – Nu' schön! Überlegen Sie sich den casus. Wir reden ein andermal darüber.«
Dabei wandte er sein Antlitz wieder ganz seiner Frau zu, die sich nun gleichfalls eifervoll erhob, um die Debatte zu beenden.
»Eins, Herr Doktor, will ich Ihnen aber noch sagen. Wir, mein Mann, meine Familie und ich, sind jedenfalls Juden aus Überzeugung. Und über das jüdische Herz geht nichts!«
»Das stimmt!« machte Emil ein Ende, stand damit auch sofort auf und ging, sich mit den ironischen Worten: »Also am Sonnabend mache ich mir wieder das Vergnügen. Auf Wiedersehen!« beiderseits verbeugend, aus dem Zimmer.
Moses sah seiner Frau einen Augenblick ins feuersprühende Antlitz. Dann schüttelte er bedenklich seinen großen, durch den kurzen Hals viel zu tief in den Schultern sitzenden Kopf.
»Den biegste nich mehr grade, Rös'chen, den nicht. Der ist total vergallacht, total vergoit.«
»Wozu hast du dich da überhaupt in seine Sache reingemischt. Du kennst ihn doch! Lass' ihn lieber laufen,« murrte die Gattin nörgelnd. »'s ist doch sonst nicht deine Art, Martin.«
»Ich? – Ich hab' nur e' so gemeint – wegen Lea,« tat er sie – schon über ein anderes Problem grübelnd – ab.
Die Wirkung dieser zwei letzten Worte schien der sonst so klug abwägende Schweiger aber nicht vorausgesehen zu haben.
Das an sich bereits rot erregte Gesicht der Gattin entflammte jetzt zur Puterröte. In beschleunigtem Tempo hob und senkte sich ihr üppig strotzender Busen, und die Augen glitzerten in einem seltenen Glanze.
»Wegen Lea?« fauchte sie ihn an. »Mein Kind diesem blasierten Affen aus der verkommenen Familie? Meine Schwiegersöhne denke ich mir im Zuschnitt doch etwas anders … Und übrigens, das Kind ist kaum achtzehn Jahre alt. Da ist an eine Heirat noch gar nicht zu denken. Zustand!«
»Nu', nu', Rosalie! Reg' dich nicht künstlich auf! Ich war doch auch nicht aus dem Stamme Rothschild,« suchte er ihren Zorn zu dämpfen.
»Die Zeiten haben sich eben geändert, Martin … Wir müssen uns nach oben entwickeln. Wer nicht vorwärts geht, der verkommt. – Das siehste an den Uhligs … Nein, eine Zumutung von dir! Ich kann nur wiederholen: Zustand!«
»Es war ja nur so ein Gedanke. – Ich bin ja schon ganz still!« beschwichtigte er sie und schnitt damit weitere Einreden ab, um sich zum Studium der Börsenkurse in das Abendblatt der Tante Voß zu vertiefen.
Als Emil Uhlig an diesem Abend in sein Elternhaus zum Nachtmahl kam, machte er Adam am Tisch ganz nebenbei von dem mit Moses gehabten »Religionsgespräch« eine entsprechend höhnische Mitteilung.
Der Büffel war heute morgen von seiner ersten Inspektionsreise für die Primus-Aktiengesellschaft aus der Mark Brandenburg zurückgekehrt und hatte sich, noch ganz manierlich angezogen, an den Eßtisch gesetzt. Durch das Gefühl, nicht mehr ohne Verdienst zu sein, war wieder etwas Selbstbewußtsein über ihn gekommen.
So lachte er sein gemeinstes Lachen und schlug sich mit der Hand aufs Knie.
»Wenn du kein Peipe mehr bist, machst du dich an Chananjes Nachwuchs ran! Er hat selbst jenug Jeld mitbekommen, dieser Jeizhals. Wie sieht se denn aus, ich mein' das Mädel? Auch so'n Schafsjesicht wie der Vater? Der ist doch eine Ramme.«
»Was ist das – 'ne Ramme?« fragte der Jüngste.
»Eine Ramme ist ein Rotkopf, lieber Püdde. Ein von Gott Bezeichneter! – Is auch ejal, wie sie aussieht. Die Hauptsache, daß Emil endlich Jeld ranschafft, 's ist die höchste Eisenbahn,« hastete er kurzatmig zurück.
Alle am Tisch lachten, bis auf Frau Hulda und Ellen. Frau Hulda aber wagte es wirklich, ihrem Mann einmal zu widersprechen. Der schon wieder etwas aufkeimende Dünkel ihrer vornehmen Herkunft gab den Antrieb zu ihrem Protest.
»Um Gottes willen, laß ab! Emil! Laß davon ab! Das sind keine Leute, mit denen wir Flügels uns verschwägern möchten. Meine seligen Eltern würden sich im Grabe rumdrehen, wenn du mir das antätest!«
»Quatsch nich, Hulda!« knurrte der Büffel, »Jeld ist jetzt die Hauptsache. Ich pfeif' auf die Mischpoche. Die Hauptsache ist heutzutage Jeld. – Was nützt mir deine vornehme Abstammung? Dafür gibt mir kein Mensch einen Pfennig. Damit kannst du dir den Hobel ausblasen lassen!«
Ellen sah ihn angewidert an, stand vom Tische auf und ging in ihr Zimmer. Frau Hulda verhielt sich still.
Emil aber verschlang schleunigst seine von Mutterhand schon fertig belegten Stullen, goß hastig ein Glas Tee dazu in den Hals und sagte gar nichts. Er dachte lediglich an seine Lene, die ihn im Palastcafé erwartete und bei der er am besten seine Ruhe fand.
Deshalb enteilte er mit dem letzten Bissen im Munde seiner ihm immer mehr auf die Nerven gehenden Familie.
Nachdem er fort war, machte Adam einige eindeutige Bemerkungen über seinen ältesten Sprößling zu seiner Frau.
»Es wird endlich Zeit, daß der Emil seinem Frauenzimmer – dieser Lene – einen Fußtritt jibt. Damit er heiraten kann! Ich will Jeld seh'n. 's ist höchste Eisenbahn, daß ich meine Auslagen von ihm wieder bekomme.«
Frau Hulda aber, die gleichfalls um ihres Sohnes Liebesfessel, von der er ganz offen im Hause sprach, wußte, gab ihm keine Antwort. Aber den Hoffnungshalm auf eine baldige Schicksalswende hegte sie immer noch in ihrem Mutterherzen.
Am nächsten Sonnabend erwartete Frau Justizrat Rosalie Moses, geborene Tuchmann, nervös auf dem Salonsofa sitzend, ihre Teegäste. Neben sich hatte sie ihre beiden Töchter gruppiert: die achtzehnjährige Lea und die fünfzehnjährige Ruth, beide in ebensolcher Erwartung, wie Mama selbst.
Frau Moses ließ einen letzten Sorgenblick prüfend über die »Kinder« gleiten.
Lea, tizianrot, braunäugig und zierlich schlank gewachsen, war im Typ Martin Moses »in Weib«, während der Backfisch Ruth in tiefschwarzem Glatthaar und träumerisch-mandelförmigen Augen, schneeweißen Zähnen und lüstern roten Lippen ihrer noch immer schönen Mutter Ebenbild verleiblichte. – Stolz war Mama Moses aber besonders auf die Älteste, die Lea. Denn Lea schien besonders aufs Geistige gestimmt, las – ohne Blaustrumpfgewohnheiten – sehr viel; demgemäß hatte sie das Mädchengymnasium fast bis zur Reife besucht und ihr ganzes Streben von Jugend auf immer nach oben gerichtet. Künstlerische Kultur verriet zudem die eigene Art ihrer Kleidung, ohne daß sie es etwa nötig hatte, die Reformtracht zu wählen. Ihr schönes Haar machte sich entzückend in der gerade aufgekommenen Jungensfrisur.
Ruth wieder, ein noch im Werden befindlicher Backfisch, benutzte den Zoo als täglichen Tummelplatz ihrer albernen Neugierde und tauchte mit ihren schulfreien Gedanken lieber in der seichteren Oberschicht gleichgesinnter Berlin W.-Gänschen unter. Mit diesem Tändelhang machte sie der Mutter viele Sorgen, weil der Vater – schweigsam wie er war – sich überhaupt nicht um die Erziehung kümmerte, ja ihre mühsam gewahrte Autorität niemals dann und wann durch eine Anwandlung von eingreifender Energie zu stärken unternahm.
Die schlankgeschnitzte Standuhr im Speisezimmer nebenan schlug mit feinem Gongton bereits halb sechs, als endlich Sanitätsrat Rahmer, Spezialist für Lungenleiden, nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter eintrafen.
Jetzt gab die Justizrätin ihrer Jüngsten den Auftrag, den Vater aus dem Sprechzimmer herbeizuholen, was ihrerseits wieselschnell vollzogen wurde.
Rahmer, ein kleiner Mann von untersetzter Figur, überreichte Frau Moses freundlich grüßend einige gelbe Astern, von denen er eben noch eiligst das Seidenpapier entfernte. Bei jeder Kopfbewegung zeigten sich an seiner rechten Halsseite mehrere häßlich vernarbte Brandwunden, die seine Erscheinung aufs Ungünstigste verunstalteten; auch ein dichter Graubart vermochte die rotbraunen Brandmale nicht ganz zu decken, weil dem buschigen Bartwuchs aus dem versengten Haarboden keinerlei Zuwachs nachsproß.
Rahmers graublau leuchtenden Luchsäugelchen verrieten große Schläue, und jeder Satz, den er sprach, kam wohlüberlegt und von scharfem Verstand diktiert heraus, während seine Ehefrau – wie man alsbald wahrnehmen konnte – davon desto weniger weg hatte. Außerdem war Frau Rahmer von einer so empörenden Dicke der Figur und des Gesichts, daß sie sich nur wie eine Mastente watschelnd fortbewegte und es nicht einmal ermöglichen konnte, ihren goldenen Kneifer auf der breiten Fettnase dauernd seßhaft zu machen.
Beider Tochter Hanna verkörperte eine Mischung des elterlichen Blutes. Ebenso klein – aber noch nicht ganz so dick wie Mama – machte sie mit ihren vierundzwanzig Jahren doch unweigerlich schon den Eindruck einer verblühten Butterblume. Die Augen hatte sie vom Vater, auch das negerlich geringelte Kraushaar schien von ihm ererbt. Wie Hanna sonst rein äußerlich mehr der Mutter ähnelte, war sie auch riesig geschwätzig und kannte ihres Erachtens alle Lebewesen aus W.W. und zwar besser, als diese sich selbst. Zu ihrer allen lästigen Redseligkeit gesellte sich ein Quäntchen Vaterwitz, weil die Mutter – traurigerweise eine geistige Null – ihr eben nichts davon hatte mitgeben können.
Dach den drei Rahmers kam Moritz Falk, ein alter Rentier aus der Margarethenstraße, weißbärtig, aber noch blitzenden Blicks. Er besaß eine ziffernmäßig riesengroße Gemäldegalerie, die nach seiner Ansicht einen gewaltigen Geldwert darstellte, was er jedem neuen Bekannten bald auf die Seele band. Doch erzählte Hanna Rahmer gerade seit drei Wochen von Salon zu Salon der Berliner Gesellschaft von diesem Sammelsonderling eine niedliche Geschichte: Als der Direktor der Nationalgalerie nach vielen vergeblichen Gesuchen Falks doch kürzlich einmal in sein Haus kam, um seinen Besitz zu besichtigen, sollte er bei Beendigung des Rundgangs – vom Eigentümer neugierig nach dem Wert der Sammlung befragt – diesem als gestrenges Endurteil gesagt haben: »In ihrem ganzen Hause sind Sie selbst das einzige Original!« – Natürlich wußte zuerst Hanna Rahmer die ebenso gut erfundene wie böse Verunglimpfung von Falks Bilderreichtum, der meist aus Bibelillustrationen in Öl bestand, und hatte mit schonungsloser Energie eine reiche Vervielfältigung des netten Histörchens besorgt.
Lea Moses, zu der sich Hanna nach einer allgemeinen Begrüßung gleich aufdringlich aufs Sofa setzte, um auch sie die neuesten Ereignisse des jüngsten W.W.-Klatsches wissen zu lassen, hatte stets einen starken Widerwillen zu überwinden, dem sich förmlich jagenden Tagesbericht schutzlos preisgegeben zu sein.
Auch jetzt trat das Gefühl peinvollen Unbehagens wieder auf ihr Gesicht, als Hanna nach einer harmlosen Einleitung loslegen wollte. Da sie aber nicht nachließ, ihre Widerwärtigkeiten, bis ins einzelne ausgesponnen, anzubringen, konnte Lea nicht mehr umhin, ihr ganz kühl zu verkünden, daß sie gar keine innerlichen Beziehungen an jene ihr ganz gleichgültigen Menschen knüpften, über deren nichtigste Handlungen sich Hanna gerade verbreitert hatte …
Mit solcher kalten Dusche abgeschreckt, wandte sie sich zunächst an Moritz Falk, dessen Enkelin Frieda Gausmann eine Schulfreundin von ihr war.
Bald aber näherte sie sich wieder Lea, um diese aufs neue anzubohren. »Wie gefällt dir übrigens eigentlich der neue Sozius deines Herrn Vaters, Lea?«
Da Lea die Augen überrascht zu Boden schlug, antwortete an ihrer Statt sehr geschmeidig Frau Justizrat Moses: »Unser Sozius, Fräulein Rahmer, ist der Herr nicht. Mein Mann hat ihm lediglich ein Zimmer zur Ausübung seiner Praxis abgetreten. Ich sage das hiermit zur Vermeidung jeder anderen Lesart.«
So hatte Hanna Rahmer die zweite Abspeisung ihrer Redseligkeit erfahren. Aber auch ohne diese wußte sie schon genug, um ihre Spezial- und Skandalrubrik »Neueste Nachrichten« mit der nötigen Phantasie über bevorstehende Verlobungen etwas beleben zu können. Gleich nach Falk kamen denn auch die beiden Vettern Uhlig mit Doktor Fritz Bein.
Nachdem Werner im Auftrage der Freunde einige langstielige Rosen – der Frau des Hauses dabei galant die Handspitze küssend – überreicht hatte, stellte Frau Justizrat die Vollversammlung der geladenen Gäste fest und bat mit einem Druck auf die Klingel ins Speisezimmer.
Hier gossen zwei weißbeschürzte und schwarzbeschleifte Hausmädchen den Tee in Altwiener Tassen und reichten dazu erlesene Backwaren auf silbernen Platten.
Chananje schlug – als man behaglich Platz genommen hatte – ein kunstgeschichtliches Gespräch an und zwar mit Rücksicht auf Falk, der es jedoch verlegen auf die seinen meisten Bildern zugrunde liegenden Bibelstoffe überleitete.
»Haben Sie meine neueste Erwerbung schon gesehen: Die Awdole? Von E. M. Lilien! Eines seiner herrlichsten Werke!«
»Noch nicht! Nein! Was bedeutet Awdole?« schwirrte es vom Tisch in schwatzhaftem Durcheinander an Falks Ohr. Der aber schwieg selbstbewußt, weil er nicht antworten wollte. Und da Doktor Bein sich als tüchtiger Talmud- und Thorakenner sicher im Sattel fühlte, ergriff er die längst gesuchte Gelegenheit, die ganze Tischgesellschaft einen Hauch von hebräischer Geistesmacht verspüren zu lassen.
Sanitätsrat Dr. Rahmer schwamm gleich bei Beginn seines Disputes in eitel Wonne; denn auch er liebte die Lehre der Vater über alles, auch wenn oder vielleicht weil er nur wenig Exakteres von ihrem Eigengehalt wußte …
Ja selbst seine vorlaute Tochter Hanna war platt, daß man hier einen Gesprächsstoff anschnitt, dessen Wesen die sonst Alleskundige weder im Anfang noch auch am Ende beherrschte oder auch nur begriff.
Nur Lea horchte gespannt auf.
Da wurde ja eine Saite angeschlagen, bei deren Tönen ihre Seele mitschwang. Sie blickte abwechselnd auf Emil, der sich aus Mangel an Wissen und Unterlagen wenig an der Diskussion beteiligen konnte, und auf Doktor Bein, der da voller Unerschrockenheit ziemlich unverblümte Wahrheiten auf den Tisch warf.
»Unsere ganze Judenschaft« sprach er eben, »sollte sich einer geistigen Reinigung unterziehen. Denn was wir in diesen Tagen – leider Gottes – am sogenannten Judentum beobachten müssen, ist doch weder althergebracht, noch in irgendeiner Beziehung echter Nachwert einer ursprünglichen Überlieferung. Verlogen, fratzenhaft muten uns heute zum größten Teil die Vertreter der guten Gesellschaft an. Eine krasse Karikatur der eisenstarren Grundsätze des talmudischen Schrifttums stellt das traurige Schicksal des jüdischen Volkes von jetzt dar.«
»Also rufen Sie zu einer Reform der Juden auf?!« ermutigte ihn der alte Herr Falk, als er kraftvoll geendet.
»Ich mache mit!« nickte Moses fest entschlossen.
Nur Sanitätsrat Rahmer lächelte ungläubig vor sich hin.
»Sie werden die jetzige Judenschaft nicht mehr umstülpen, Herr Assessor. In der Diaspora haben die Kinder Israel sich überall nur zu schnell den Gebräuchen desjenigen Volkes angeschlossen und eingefühlt, dessen Gastrecht sie zurzeit genossen. – Man kann das genau durch die Geschichte belegt sehen. – So zum Beispiel in Spanien – « Emil Uhlig benutzte seine kleine Sprechpause, um ungeschickt dazwischen zu patzen: »Um Gottes willen, Fritz! Du markierst wohl plötzlich den Zionisten!«
Bein entgegnete ganz trocken darauf: »Keineswegs. – Weder Zionist – noch Utopist will ich sein. Ich bin ein »deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« – wie das Schlagwort so schön heißt. Politisch fühle ich als guter Deutscher durch meine hier in Deutschland erfolgte Geburt, Erziehung und Entwicklung. Aber tief verinnerlicht lebt noch ein zweites Gefühl in mir. Nennen wir das nicht etwa nur Glauben. Es ist etwas viel Größeres. Etwas, das mich seelisch erbeben läßt, wenn wir Juden geschmäht werden, und mich doch auch erhebt, wie ein ferner Gruß aus weltenweiter Vergessenheit. Das ist jene geheime Abhängigkeit der Abstammung, jene Liebe zum Volke meiner Vorväter, die Stimme des ewigen Blutes. Ich mag nicht leugnen, daß dabei auch der Glaube an unsern großen Eingott mitspricht. Denn schon der Glaube an die Geistesmacht unseres Schrifttums ist der Nährboden meiner sittlichen Kraft. Es müßte uns heute ein später Prophet erstehen, der die große Wäsche des innerlich abtrünnig geworbenen Juda besorgt … Die alten Weisen Israels, deren erhabene Anschauungen über Tugend und Recht, über das Verhältnis der Welt zu Gott, über die Beziehungen der Menschen zueinander, lebten – wenigstens teilweise – noch fest im Herz und Hirn unserer Väter … Mein Vater zum Beispiel war Rabbiner in Grätz. Sein hoher Gesinnungsadel und lauterer Lebenswandel, der sich nie vom ritualen Formendienst vergewaltigen ließ, schwebt mir als Sinnbild des modernen Idealjuden vor. Er wäre der Mann gewesen, der uns heute fehlt … Was wissen denn wir heute noch von Talmud und Thora? Was vom Tauswes-Jontof? Ich glaube, daß weder Werner noch Emil Uhlig seiner Zeit ihren Mafter zur Einsegnung gelernt und gesagt haben – obwohl du, lieber Werner, immer noch ein guter Jude sein willst.«
Werner lächelte und nickte ihm etwas verlegen zu.
»Nana, lieber Fritz – bedenke die Umstände. Meine Eltern hatten sich von den strengen Speisegesetzen des Orients längst losgesagt, und dein Vorhalt trifft mich ungefähr so, wie das Schimpfwort ›Treifefresser‹, mit dem mich meine jüdischen Mitschüler in der Religionsschule des Lehrers Katz stets belegten, weil wir keine koschere Küche mehr hatten. Meine Eltern waren nämlich schon Fortschrittsjuden …«
Dr. Bein fuhr errötend auf.
»Komm mir doch nicht mit solchem Unsinn: Fortschrittsjude! Damit wollte und will die letzte Generation nur ihre fortdauernde Fahnenflucht bemänteln, ihre Fahnenflucht aus den Reihen innerlich Gewarnter, noch Überzeugter. Das Beharrungsvermögen gerade ist ein Grundausdruck im Wesen der Juden. So wenig das talmudische Schrifttum bloß eine Sammlung religiöser und zeremonieller Vorschriften ist, ebensowenig sind seine Urheber nur spitzfindige Sophisten oder gar verknöcherte Dogmatiker gewesen.«
»Ganz im Gegenteil,« bekräftigte ihn Martin Moses. »Die Mitglieder des Synhedrions, Talmudlehrer und Mischnaschöpfer waren Hohepriester jüdischen Geistes und beherrschten neben der größten Vollkommenheit auf allen Gebieten der damaligen Wissenschaft auch fließend die Sprachen ihrer Mitvölker."
»Natürlich!" schloß sich hier auch Moritz Falk an. »Indessen verstanden die Weisen Israels unter dem Worte ›Lehre‹ alles, was den Menschengeist befruchtet, und stellten den Grundsatz der Lehrvererbung auf: ›Wer nur lernt und nicht auch lehrt, verachtet die Wissenschaft‹, sagten sie nicht mit Unrecht. Talmud und Mischna galten ihnen als Sammelwerk, das die Ergebnisse der gesamten Geistesarbeit Israels enthalten mußte.«
»Also eine Art – Konversationslexikon für Hebräer von heute?« konnte Emil Uhlig frech zu fragen sich nicht enthalten.
»Spotten Sie nur, junger Aacher,« tat ihn Falk ab. »Sie verspotten sich nur selbst.« Dann drehte er sich zu Bein. »Nur bei meiner Wertauffassung von Talmud und Mischna als großes Ganze wäre es möglich, lieber Herr Doktor Bein, daraus den zu uns sprechenden Volksgeist zu verstehen und für manchen scheinbaren Widerspruch zwischen Leben und Lehre die rechte Lösung zu finden.«
»Die rechte Losung, Herr Falk,« ereiferte sich Bein auf einmal, »und die hieße: Zurück! – Zurück zu den auserwählten Geistesfürsten des alten Juda! Zurück zu den Propheten Israels, die doch ganz andere Männer gewesen sind als die blutlosen Schattenrisse, die beifallsüchtige Dramatiker in lascher Gestaltungsarmut für die Bühne aufleben ließen, finster – intolerant – weltfremd – sophistische Haarspaltereien auf die Spitze treibend –«
Falk schmunzelte über die Inbrunst, mit welcher der junge Jude da für das Alte, Überlieferte in die Bresche sprang.
»Ich möchte eine Wette dahin eingehen,« meinte er, »daß außer uns beiden keiner von den hier Anwesenden die richtigen Namen auch nur zweier jüdischer Geistesgrößen ganz zu nennen vermöchte.«
»Die hätten Sie von vornherein verloren," lachte ihn der Justizrat aus, und seine beiden Mädels kicherten verstohlen mit. »Wissen Sie nicht, daß ich aus meiner Studentenzeit her einen Spitznamen führe, den ehedem der Prophet Josua ben Chananja trug?«
»Gut, und wo wäre der zweite, verehrtester Freund?« fragte Falk siegessicher.
»Der zweite ist Akiba. Den kennt doch jedes jüdische Kind,« fuhr Hanna Rahmer plauderhaft dazwischen.
»Der Herr Justizrat hat das Wort – erstens,« rügte Falk ihren Vorwitz. »Und zweitens ist Akiba doch nicht der volle Name des großen Rabbi gewesen. Wer weiß ihn vollständig zu nennen?« wandte sich dann gutmütig lächelnd der weißbärtige Greis an die Teegesellschaft.
Zögernd ließ Bein eine Zeitspanne verstreichen, bevor er langsam antwortete: »Akiba ben Joseph hieß er und wurde 47 Jahre vor der Zerstörung des zweiten Tempels geboren. Erst im Alter von 40 Jahren ging dieser hervorragende Geistesheld daran, sich – ein vordem ganz analphabeter Schafhirt – dem Talmudstudium hinzugeben. Seine glühende Liebe zu Rahel, der schönen Tochter seines Brotherrn Kalba Sabua in Jerusalem, soll ihn erst zur Beschäftigung mit den Schriften angespornt haben … Weder die Zerstörung Jerusalems mit der Einäscherung des Allerheiligsten Tempels, noch die fürchterlichsten Qualen und Leiden, die Rom über Israel häufte, haben seine felsenfeste Überzeugung von Judas Glaubenskraft und die hohe Hoffnung auf Erfüllung der göttlichen Verheißung zu erschüttern vermocht, bis er, 120 Jahre alt, von den Schergen Hadrians hingerichtet wurde."
Moritz Falk drückte Bein schweigend und dankbar die Hand. Er tat es unbewußt auch im Namen der anderen. Denn alle Hörer hatte er mit der kurzen lebhaften Darstellung, in der er das Lebensbild des großen Weisen umriß, für sich gewonnen.
»Erzählen die uns noch etwas über Akibas Todesstunde,« bat er.
»Ich fürchte zu langweilen,« lehnte Bein mit einem Seitenblick auf Emil ab.
Da traf ihn der forschende Blick aus Leas traumverschleierten Augen. – Auch Hanna Rahmers lackschwarzen Schuhknöpfen gleichende Blicke faßten ihn an, ohne daß sie sich bezähmen konnte, ihn fürwitzig anzurempeln.
»Wir sind ganz Ohr, von Ihrer hübschen Vortragsgabe sogar gebannt, Herr Doktor. Das war ja sehr niedlich! Direkte Enthüllungen aus dem Ghetto!«
Bein schwieg angewidert eine Weile. Dann sah er sie ruhig groß an, und sein Tonfall klang rauh und hart.
»Das ist der Ausgang unserer geistigen Entwicklung, mein kluges Fräulein, von der Sie anscheinend ziemlich wenig behalten haben dürften.«
Damit wandte er sich den anderen Gästen wieder zu. »Es sollte sich empfehlen, wenn wir Juden endlich etwas mehr Nationalkultur trieben. Denn offen gesagt, die gegenwärtige Generation mutet mich in ihrer Geistesverfassung mehr als verkommen an. Wir verlieren uns in ihren verwaschenen Anschauungen immer mehr zu geistigen Nichtsen und bestätigen damit unseren Gegnern aufs krasseste unseren Unwert im Weltall.«
Emil Uhlig feixte und fand es entschieden amüsant, jetzt weiter trotzend zu opponieren.
»Was meintest du dazu, Fritz, wenn sich alle Völker der Erde auf einem großgeistigen Kongreß zusammenfänden, um eine neue gemeinsame Religion zu beraten, die sich aus dem Besten zusammensetzte, das jede einzelne Lehre aufweist.«
Werner Uhlig griff den Gedanken auf, um ihn weiter auszuwalzen.
»Wie wäre es denn, wenn man überhaupt alle Religion abschüfe, und wenn das auf der Welt verstreute Judentum durch planmäßig betriebene Mischheiraten sich völlig in dem Volke seines augenblicklichen Verweilens auflöste und damit national untertauchte. Das ließe ich mir als letzte und vielleicht beste Lösung der ganzen Judenfrage gefallen."
Ein feierliches Schweigen umfing die an dem runden Tisch gespannt aufhorchenden Juden.
Dann sprach Fritz Bein mit einer Verklärung, die sein strenges Antlitz zu einem Leuchten des Leidens verzückte: »Ich will mich nur mit Heraklit eins wissen, der erzüberdauernd sagte: ›Stets ist der Kampf der Vater aller Dinge‹. Und damit gilt jeder der zwei vorgezeichneten Versuche im Keime als kategorisch verneint, als glatt abgelehnt! Auch wenn ich vorhin zugeben mußte, daß wir auf dem besten Wege sind, uns zu verlieren, habe ich damit doch nicht auch behauptet, daß unserer inneren Umkehr schon jede Straße verbaut ist. Die wird unser Volk Israel, daß sich durch Jahrtausende mit zähem Zielbewußtsein beharrlich und standhaft erwies, das eine Kette von Kämpfen getragen, das immer neue Qualen um seine Sendung und sein Sein erlitten, sich selbst so völlig aufgeben, daß eine versuchte Gewaltaktion feiger Überläufer auch das ganze Juda mit sich risse!"
»Ich bestreite das ganz entschieden, Fritz. Dann hätte eben die Massentaufe als Beginn der von dir erforderten großen Wäsche zu gelten!" unterbrach Emil Uhlig den Freund in dreistem Dünkel.
Bein sah ihn nur einen Moment mit einem allessagenden Blicke an.
»Gott sei Dank, gibt es nur wenige Gesinnungslumpen, die grundlos ihre Religion wie ein Hemd wechseln. Dir selbst nehme ich deine Taufe gar nicht übel. Denn du bist in dieser Beziehung nicht als voll und verantwortlich anzusehen. Deine Taufe erfolgte lediglich auf Betreiben deiner verblendeten Eltern und entsprach gut und gern deinem Spieltrieb, Korpsstudent zu werden.«
»Ganz recht, lieber Kollege!« klatschte Moses in die dicken Hände. Und seine Gattin setzte mit tiefer Genugtuung dazu: »Dafür hat Gott seinen Vater auch gestraft und ihm das Geld dazu vorweg genommen."
Alle lachten über diese hämische Bemerkung. Aber Doktor Bein war noch nicht am Ende.
»Da war es denn nichts mit der bunten Mütze des S. C. Und ebensowenig mit der Staatsanwaltskarriere. Verzeih mir meine Offenheit, lieber Emil, aber – wie figura lehrt – hat das Judentum an deiner Person ebensowenig verloren, weil du wirklich gar kein Jude mehr sein konntest, wie die Christenheit dich als Gewinn verzeichnen dürfte, da du auch keineswegs das Zeug zum gläubigen Kirchgänger mitgebracht hast. Du, mein Junge, kommst in meiner Wertberechnung lediglich als Bruch in Frage, mit dem ja jeder Weltbewohner zu rechnen hat. Leute deiner seelischen Verfassung zählen weder als Abgang noch als Zugang. – Kehren wir also wieder zu Heraklit zurück. Und ich komme damit zum Schlusse, wenn ich sage, daß Gegensätze im Denken und Trachten der Völker auf dieser Erde nie ganz aufhören werden, aufhören dürfen. Denn Kampf ist Leben! Ein Volk aber, das zwei Wortführer gehabt hat, wie die beiden Großmeister des Gedankens, Hillel und Schammai, deren Lehren das Gleiche weckten, obwohl sie langwierigen Meinungshader gezeitigt haben, ein solches aufs Geistige gestellte Volk wird, zusammengeschlossen, niemals untergehen. Wenn wir die Glaubenskämpfe der Hilleliten und Schammaïten betrachten, die fanatische Anhänger beider Richtungen durch Jahrhunderte in ernster Geistesspaltung verharren ließen, dann wissen wir, daß Juda nie aufhören wird, Juda zu sein, daß wir nur einen Rufer brauchen, der uns zur inneren Ordnung unseres Judentums aufrafft: Hillels Blick, mehr auf die Zukunft der Lehre gerichtet, Schammais Herz, tiefer um die Zukunft des Volkes besorgt, leben unsterblich in Judas Geschichte fort. Denn beide haben uns ein in flammender Sternenschrift glänzendes Testament hinterlassen, eine Erbschaft, der wir uns bald wieder durch ihren geistigen Neuerwerb würdig erweisen wollen."
Nach diesen mit gehobener Stimme, aber doch voller Ruhe gesprochenen Worten sah er auf seine am linken Unterarm befindliche Uhr und stand auf.
Man erhob sich auf sein Signal zum Aufbruch allerseits wortkarg und gezwungen; und unter förmlicher Begrüßung ging man zwar steifer, als man hergekommen war, aber auch viel ergriffener auseinander …