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Eben hatte der Verteidiger seinen zweistündigen warmen Appell an die Geschworenen beendet und ließ sich erschöpft an dem kleinen Tisch vor der Anklagebank nieder, in deren Bucht – durch die lange Untersuchungshaft kaum wiederzuerkennen – Adam Uhlig, seine kleine dicke Hand auf der Holzbrüstung verkrampft, frech erhobenen Hauptes stand.
Sein ganzer Gesichtsausdruck mutete noch einen Schein stupider als früher an; der verwilderte Vollbart war ihm weit über Wangen und Kinn hinausgeschossen, und sein wasserblaues Schellfischauge verriet nicht die geringste Teilnahme seines trägen Geistes an den Dingen dieser ihn doch nicht zu knapp betreffenden Verhandlung.
Nach kurzer Pause erhob sich der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Assessor Bein, zur Replik.
»Meine Herren Geschworenen!« begann er, während seine grauen Luchsaugen jeden einzelnen der fünfzehn Laienrichter durch den randlosen Kneifer scharf zu erfassen schienen. »Von seiten der Verteidigung wurde eben versucht, ein Bild des Angeklagten Adam Uhlig zu formen, wie es sich vielleicht dem guten Glauben des Herrn Verteidigers, als langjährigem Rechtsbeistand des Angeklagten, im Laufe langer Jahre eingeprägt haben mag. Aber dieses Bild ist durchaus unecht! Ein Gemisch falscher Farben, wie sie der Herr Verteidiger in verfehltem Tasten zusammenstellte. Zunächst hat er behauptet, dieser Ihnen zur Aburteilung überwiesene Mann litte zweifellos an seelischer Entartung und sei demnach überhaupt unverantwortlich für seine Tat … Wir haben, meine Herren Richter – das sind Sie jetzt, und nur so dürfen Sie ihr Ihnen vom Gesetzgeber verliehenes Amt auffassen! – die erschöpfende Beweisaufnahme alle mitgelebt. Wir haben einwandfreie Zeugen gehört, Zeugen besten Wertes, wie Werner Uhlig, einen Vetter des Täters, wie den Sanitätsrat Dr. Ignaz Mamser, seinen eigenen Schwager, deren übereinstimmende Bekundungen das von Gewaltakten erfüllte Vorleben des Angeklagten bis auf seine Jünglingsjahre bloß legten. Langmütig hat der Herr Vorsitzende die Beweisaufnahme auf eine breite Plattform gestellt; das Gericht hat ferner Zeugen zugezogen, deren Wissen und Angeben nur indirekt mit dem Tatbefund zusammenhängt: das sind die Zeuginnen Wollmann und Dille, das Dienstmädchen Selma Penz, die drei Familienmitglieder Hartstein und zuletzt den Kunstmaler Julius Steinecke, genannt Udo Stettner-Herrlich.
Das positive Ergebnis ihrer einzelnen Aussagen habe ich bereits vorhin bei der Begründung der Anklage gewürdigt. Nun will ich den ersten Vorhalt der Verteidigung widerlegen und ihre etwas legendäre Beschönigung, der Angeklagte sei seelisch entartet, und seine Tat falle daher nicht unter das Strafgesetz, restlos entkräften. Nach dem maßgebenden Gutachten des Gerichtsarztes, der den Angeklagten drei volle Monate hindurch auf seinen Geisteszustand beobachtet hat, steht es fest, daß dieser Mann, namens Adam Uhlig, nichts anderes ist als ein gemeiner Gattenmörder. Wir dürfen dem Gutachter gern Glauben schenken; denn unsere eigenste Erkenntnis soll ja heute und hier nach dem objektiven Eindruck des Angeklagten geschaffen werden. Sehen Sie auf diesem Antlitz eines jener Entartungsmale, wie sie sich vornehmlich bei erblich belasteten Personen finden? Ist irgendeine Verbildung des Schädels, eine Unregelmäßigkeit der Ohren, abnorme Zahnstellung oder schiefer Kieferwuchs an ihm zu bemerken? Nein, kein solcher Mangel an durchgreifender Gesetzmäßigkeit im Körperbau Uhligs hat den Sachverständigen zu irgendeiner Entlastung des Täters von der ganzen Schwerkraft vollster Verantwortlichkeit beeinflussen können. Damit stürzt die Behauptung des Verteidigers, Uhlig sei von Geistes wegen nicht straffällig, in ein Nichts zusammen.
Der Angeklagte selbst hat – ich wiederhole es – in der Voruntersuchung ausdrücklich zugegeben, daß er sich nach der Entfernung aus dem Hause des Kunstmalers Steinecke stundenlang im Tiergarten mit der steten Absicht herumgetragen habe, seine Frau zu töten. Hier hat er den Mord an seinem Weibe kaltblütig überlegend vorbereitet und sich darauf hin zum Zwecke der Tat nach Hause begeben. Vollkommen gleichgültig bleibt es, daß er heute an Gerichtsstelle vorbrachte, er habe seine Frau durch sofortige Tötung für ihre Untat bestrafen wollen! Der Leiter der Voruntersuchung, Landrichter Dr. Blaesing, hat die glaubhafte Wahrheit der ersten Angaben des Angeklagten eidlich erhärtet. Damit sehe ich den Tatbestand des § 211 des Strafgesetzbuches als voll erfüllt an. Denn nach deutschem Reichsrecht wird derjenige wegen Mordes mit dem Tode bestraft, der vorsätzlich einen Menschen tötet und – wie Adam Uhlig – die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat. Ich habe es deshalb auch für überflüssig gehalten, die Stellung von Unterfragen gemäß § 212 nach Totschlag pp. zu beantragen.
Meine Herren Geschworenen! Sie werden meinen Gedankengang gutheißen. Rüsten Sie sich durch reifliche Rechtserforschung gegen jede Regung zur Schwäche! Vor Ihren Augen und Herzen ist in achtstündiger Verhandlung ein erschütterndes Zerrbild unserer schmutzbelasteten Zeit mit der Aufrollung dieses widerwärtigen Familiendramas vorbeigezogen. Wie ich schon in meinem Plaidoyer ausführte, war in dem verhärteten Wesen dieses Mannes auch die Wurzel alles schrecklichen Geschehens allmählich gewachsen. Mit jeder selbstverständlichen Menschenpflicht hat er es nicht nur sehr ungenau genommen! Nein! Er hat sie glatt verleugnet! Die Charaktere seiner heranwachsenden Kinder hat er verderblich beeinflußt, ja vergiftet, weil er ihnen von Jugend auf täglich neue Ehekonflikte in Zank und Streit veranschaulichte – ohne die kleinste Spur von Selbstzucht.
Vielfach hat er sich – jeder Manneswürde bar – dazu hinreißen lassen, sich an seiner Lebensgefährtin tätlich zu vergehen, und in solcher Ruchlosigkeit sehen wir die Anfangsgründe zu seiner Mordtat gegeben. Nicht Selbstzucht, nein, krasse Selbstsucht war die fortwirkende Triebfeder aller seiner Handlungen! Diesem Manne fehlte – und da liegt der seelische Keim seiner Schuld! – jeder sittliche Halt, fehlte die Religion! Aus geldlichen Rücksichten, den einzigen, die er anerkannte, wirft er sie verroht von sich, wie eine unbequeme Bürde … Aber damit begnügt er sich noch nicht. Er stiehlt sie auch seiner ganzen Familie. Er wird zum Religionsräuber an seinem Weibe, dem er den Glauben an Gott, Welt und sich entrafft. Er wird ein Tempeldieb am Gewissen seiner unmündigen Kinder, die, ohne jeden Zwang sittlicher Vorschriften kennen zu lernen, seelisch verwahrlosen. So wird er ein Schandfleck seines auserwählten Stammvolkes, dem schmarotzende Auswüchse solchen Kolossalkalibers eine, Gott sei Dank, traurige Seltenheit sind und sein werden. Er verliert durch falsche Geldanlagen und verfehlte Wirtschaftsführung plötzlich seinen in der polnischen Heimat ererbten Landbesitz und gelangt aus der Provinz Posen nach Berlin. Nach der Weltstadt Berlin, dieser zerreibenden Menschenmühle. Und hier erliegt er nur zu bald unter den schweren Steinflächen der brutalen Quetschwalze!
Halsstarrig, wie er das seinen Vätern überlieferte Gottesgesetz verwirft, ebenso unbeugsam vergeht er sich gegen die Staatsgesetze. Er anerkennt keine ihm übergeordnete Gewalt! Hartnäckig maßt er sich sogar heute noch das eigenwillige Vermögen an, seine Ehefrau selbst richten und dabei Sie, die irdischen Richter, einfach ausschalten zu können. Gewiß, meine Herren Geschworenen, die vom Angeklagten kalten Sinnes hingemordete Frau war schuldig geworden. Ein furchtbares Verbrechen hatte die Verzweifelte auf ihr umnachtetes Haupt geladen. Aber erscheint sie, deren Tun wir verabscheuen müssen, uns nicht als unfreie Hörige, als seelische Sklavin dieses ihres Ehemannes, der sie durch seine bewußt gemeine Lebensweise auf ihre abschüssige Bahn gestoßen hat? Vergegenwärtigen Sie sich nochmals die Kette von Scheußlichkeiten, die uns der Zeuge Mamser aus dem Familienleben Adam Uhligs geschmiedet hat!
Keiner bedauert es mehr, als die Anklagebehörde, daß die beiden Söhne des Angeklagten sich durch eine Schiffsreise nach Übersee ihrer Vernehmung vor Gericht entzogen haben … Aber aus dieser verkappten Flucht spricht laut ihr Urteil über ihren Vater. Denn dieser Mann war nicht nur kein Gatte! Er war auch kein Vater! Durch ihr heutiges Fehlen an Gerichtsstätte verwerfen, verleugnen und verlassen ihn seine eigenen Kinder!
Sie sollen jetzt, meine Herren Geschworenen, Ihren Wahrspruch fällen! Im Worte ›Wahrspruch‹ ist ihre heilige Pflicht am hehrsten charakterisiert. Und ich lege dieses Aktenstück aus der Hand mit dem felsenfesten Vertrauen auf Ihre Entschlossenheit, dem Gattenmörder sein gutes Recht zu sichern.
Helfen Sie ihm dabei, sich von der schweren Blutschuld, die er lebenslästernd auf sich geladen hat, zu reinigen, nach dem alten Gottesgebote: Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden!«
Dr. Bein setzte bei den letzten Worten schon sein Sammetbarett ab und streifte die dicken, schwarzen Ärmel seines Talars etwas zurück.
Ein Wispern und Flüstern hub auf der Geschworenenbank an. Außer einigen Urberlinern, wie dem Gastwirt Friedrich Wilhelm Quittschreiber, befanden sich meist märkische Landjunker unter den Ausgelosten. Und gerade diese, vor allen den bibelfesten Obmann, Freiherrn von Grabsch-Großradden, hatte die klug aufgebaute Rede des Anklägers voll im Nerv getroffen und gepackt …
Kraftgeschwellt nahm Assessor Bein seinen Lehnsessel ein und blickte über den dichtgefüllten Zuhörerraum hinauf nach der Loge, in der er noch eben den feinen Gelehrtenkopf des Kammergerichtspräsidenten Heinroth gewahrt hatte.
Dann schaute er auf die im Saale angebrachte Normaluhr.
Es ging schon stark auf sechs …
Auf einen Wink des Vorsitzenden erflammte der elektrische Kronleuchter, und der Referent begann bereits mit dem Bleistift die Formulierung der Schuldfragen zu skizzieren … Denn auch Richter sind nur Menschen, und sie strebten ermüdet dem Schlusse zu.
Justizrat Moses erhob sich zu kurzem Endkampfe.
»Mit starker Theatralik möchte der Herr Staatsanwalt diesen armen Schächer da, das bedauerliche Produkt seiner verrotteten Umwelt, einem richtiggehenden Schwerverbrecher mit Brechwerkzeug und Blendlaterne gleichstellen. Damit wandelt er aber dieses Tribunal keineswegs etwa zur naturtreuen Bühne! Wenn die geistige Vollwertigkeit des Angeklagten, deren Obwalten bei der Tat ich – rein menschlich – nochmals bestreite, wirklich als erwiesen erachtet wird, so ist damit keineswegs gesagt, daß er auch mit Überlegung gemordet hat. Der Mann hier hat sein eigenes Weib im Zorn gerichtet, weil es ihm durch eine fahrlässige Bodenlosigkeit den letzten Lebensbesitz vernichtete, seine Ehre und – seine Tochter! Das war also eine typische Handlung des Affekts, Wie sie vom § 213 des Str.-G.-B. nicht deutlicher ins Auge gefaßt werden konnte. – Keine schwerere Erniedrigung, als dieser elementare Einsturz seiner ganzen Existenz, keine gröbere Mißhandlung seiner Gefühle als Gatte und Vater, als diese trostlose Verirrung der von ihm gerichteten Frau habe ich in dreißigjähriger Praxis schon jemals vor diesem Forum für einen Angeklagten sprechen gehört! Ich beantrage deshalb nochmals die Stellung zweier Unterfragen. Und zwar: erstens nach § 213 auf Totschlag ohne eigene Schuld, und zweitens auf Zubilligung mildernder Umstände. Ich meine, der Angeklagte ist durch die Ereignisse an sich wohl gestraft genug! Man gebe ihm Gelegenheit, nach dieser langen Untersuchungshaft noch einige Monate im Strafgefängnis über seine zorngereizte Verfehlung nachzudenken. Das wäre aber auch alles, was diesen schwergebeugten, einsamen Menschen von der Härte des Gesetzes noch treffen darf. Der ihm noch beschiedene lichtlose Lebensabend, den seine leergeschüttelte Seele kaum mehr erwärmen wird, mag so der Buße und der Totenverehrung nach dem frommen Brauche seines Volkes geweiht werden!
Hüten Sie sich, meine Herren Geschworenen, eine Entscheidung zu finden, die nicht das altbewährte ›in dubio pro reo‹ zur gefestigten Grundlage hat.«
Damit setzte sich, seiner im Zuhörerraum sitzenden Gattin und Tochter gütig zunickend, der in seiner Anwaltsrobe überaus würdig anmutende kleine Mann …
Beim Gericht schien über die textliche Formulierung der drei Schuldfragen bereits völlige Einmütigkeit vorzuherrschen, was Bein schon mit Renneraugen von den Gesichtszügen der Richter ablas, als der Vorsitzende nun dem Angeklagten das Schlußwort erteilte.
Kerzensteil stellte sich Adam in seiner Holzbucht hin, während er sich zur Unterstützung seines überzeugen sollenden Brusttons beim Reden öfters mit der hohlen Hand aufs Herz schlug.
»Ich habe nichts jetan, – als was – mir mein – Jewissen – befahl!« sprach er sehr langsam. »Ich habe – bestraft, – wer – meiner – Strafe – verfallen war. Und es tut mir bloß – leid, – den Urheber – meines – Unglücks, – Stettner-Herrlich, – dort drüben – nich jehörig – jetroffen zu haben! Sonst hätte – ihn der – erste – Axthieb – ins Jenseits befördert!« Sein heftiges Asthma zwang ihn zu vielen kurzen Atempausen, die sich am Satzende noch verlängerten. Nun richtete er sich ganz hoch auf. »Keineswegs flehe ich etwa um Gnade. – Meine Herrn, tun Sie – ruhig, was – Sie – nicht lassen – können. Das klügste – wird's – sein. – Denn am Leben – liegt mir – sowieso nischt mehr!« keuchte er unter heftigem Hustenreiz mit stark stimmlicher Anstrengung.
Dann setzte er sich verstockt hin und schoß nur noch boshafte Blicke gegen die Geschworenenbank.
Monoton verlas der Vorsitzende jetzt die indessen im Einverständnis mit den Beisitzern festgelegten Schuldfragen und überreichte ihren Text dem Obmann der Geschworenen.
Beide vom Verteidiger beantragten Unterfragen waren dem Angeklagten vom Bericht zugebilligt worden …
Sofort erhoben sich die Geschworenen insgesamt und folgten in langer Reihe ihrem Obmann ins Beratungszimmer. – Der Verhandlungsleiter ließ die übliche Pause eintreten, während welcher Justizrat Moses sich zu seinen Angehörigen an die Abzäunung des Zuhörerraums begab.
In gleichgültiger Apathie stierte Adam schweigend vor sich hin, fand die Reden seines Anwaltes »ziemlich flau« und freute sich diebisch darüber, daß er ihm dafür keinen Pfennig zu bezahlen brauchte.
Strahlend betrat der Erste Staatsanwalt, der gleichfalls in der Juristenloge der Verhandlung beigewohnt hatte, jetzt den Saal, um den Assessor Bein vor aller Augen zu seinem Plaidoyer zu beglückwünschen.
Darauf nahm er ihn ein wenig vertraulicher beiseite.
»Leider sind Sie immer noch kein Christ, Herr Kollega! Ist da denn wirklich gar keine Wandlung denkbar? Als Einser-Assessor wäre im Falle dieses Falles Ihre Ernennung zum Staatsanwalt doch nur eine Frage von Tagen?« sprach das von Mensurschmissen übersäte Antlitz leise auf ihn ein. Aber da war der alte Haudegen einmal nicht an den Rechten gekommen.
»Bedaure unendlich, Herr Geheimrat!« gab Doktor Bein geistesgegenwärtig zurück. »Ich bin noch immer kein Apostat; aber ist es nicht recht beschämend für einen Staat, die Bestallung seiner Beamten von der Religion und nicht von der Qualifikation abhängig zu machen? Das friderizianische Prinzip dürfte – auf unsere verknöcherte Beamtenkaste angewandt – den nötigen frischen Luftzug in die längst steril gewordene Justiz hineinwehen lassen. – In diesem Prozesse gerade diente mir die Vertretung der Anklage zur bloßen Verfechtung einer großen Idee! Es gilt hier, einen gewissenlosen Judenschänder von deutschen Männern stäupen und richten zu lassen.«
»Aber Sie selbst werden doch mit der Zeit steigen wollen! Ich dachte lediglich, Ihnen dabei eine Stütze zu stellen,« salvierte sich der Vorgesetzte nun geschickt.
»So setzen Sie meine Anstellung als Jude durch, Herr Geheimrat! Es kommt sicher eine Zeit, in der Sie ohne uns einfach nicht mehr fertig werden … Das Judentum birgt zuviel unverbrauchte Kopfkraft. Die dringt unablässig nach oben.«
Der »hohe« Herr schnappte schon deswegen stark ein, weil Bein sich dreist über die streng übliche Anrede in der dritten Person hinwegsetzte. Verlegen zwirbelte er an seinem »Es ist erreicht«-Schnurbart, und schwieg noch, von solcher Frechheit verletzt, als sich die Tür zum Beratungszimmer auftat … An der Spitze der Geschworenen trat ernsten Gesichts der Obmann herein.
Die Pause ward sofort aufgehoben.
Nach Wiederaufnahme der Verhandlung verlas der Freiherr von Grabsch-Großradden klaren Tones den auf »Schuldig des Mordes« lautenden Wahrspruch. Das Gericht schien überrascht, und eine große Bewegung ging hörbar durch den überfüllten Zuhörerraum. Justizrat Moses drehte den großen Kopf schüttelnd zum Angeklagten hin.
Allein Adam Ohlig zuckte mit keiner Wimper.
Er spie nur verächtlich die ganze Galle seines bitteren Vorgeschmackes von der dräuenden Zukunft nach der Geschworenenbank hin.
Gegen acht Uhr abends wurde die Verhandlung nach Fällung und Verkündung des Todesurteils gegen den Angeklagten geschlossen.
Adam wurde jetzt gefesselt in seine Zelle zurückgeführt.
Und langsam leerte sich der kleine Schwurgerichtssaal.
Eine Viertelstunde später trat Assessor Bein aus dem Steinportal des Kriminalgerichts auf die schneebedeckte Straße.
Ein mit zwei Schimmeln bespannter Schlitten hielt eben vor dem Justizpalaste und nahm die in dichte Pelze gehüllte Familie Hartstein auf.
Bein begrüßte Werner Ohlig mit gewinnender Liebenswürdigkeit.
»So müssen wir uns Wiedersehen!« faßte er die Freundeshand und sah ihm ins offene Augenpaar.
»Schicksalsfäden!« murmelte Werner sehr ergriffen und wandte sich schnell weiter, als ihn Frau Wollmann energisch und flink aufhielt.
»Hören Sie, Herr Uhlig! Diesen infamen Kerl trifft jetzt seine gerechte Strafe! Die Geschworenen entsprachen ganz dem Sentiment des Volkes. Es ist geradezu eine Genugtuung für mich, daß sich der bestialische Mensch sein eigenes Grab gegraben hat.«
»Ja, natürlich –!« wollte sich Werner rasch wegwenden. Aber so leichten Kaufes kam er doch nicht davon.
»Dieser Assessor Bein ist doch Aët?« fragte sie nämlich sehr interessiert.
»Ja, natürlich –!« erwiderte Werner abermals gleichgültig.
»Ich bitte Sie dann um seine Adresse. Er ist phänomenal tüchtig, dabei ein fester Mensch und – Junggeselle. Dem Manne kann geholfen werden!« lächelte sie dabei verschmitzt.
Werner erfüllte kurz ihren Wunsch und rettete sich dann schnellen Sprunges auf eine gerade vorbeisausende Straßenbahn.
Frau Wollmann aber winkte ihrer »Unteragentin« zu und bestieg mit dieser voller Würde eine Autodroschke.
Indessen begrüßte Fritz Bein die Familie Moses.
Erschüttert von den Nachwehen des eben Erlebten reichte ihm der biedere alte Herr die Hand, während der Assessor sich verbindlich vor seinen Damen verneigte.
»Es war ein Fehlspruch, Herr Kollege. – Der Mann ist ein schlechter Mensch – aber kein Mörder!«
»Mehr als nur gemordet hat er, Herr Justizrat,« entgegnete ihm Bein. »Bedenken Sie, wie solche Schmarotzer des Judentums den wirklich reinen Glanz unserer Tradition beflecken. Die Äußerungen eines einzigen Schädlings werden ja von Gesinnungslumpen jahrzehntelang zur politischen Agitation gegen uns Juden ausgeschlachtet. Darum habe ich es für eine Sendung höchster Moral gehalten, diesen satanischen Volksverräter seiner ausreichenden Sühne zuzuführen. Nur so rücken wir von einem solchen Bazillenträger des Judenhasses deutlich genug nach außen hin ab. Mit seinem Blute wird all der Wust von Spott, Schmach, Schimpf und Schande fortgewaschen, den der Pesthauch seines Waltens über uns Juden verbreitet hat!«
»Schon gut! – Schon richtig! –« wehrte sich Moses gegen Beins schroffe Auffassung. »Ich kann mir aber nicht helfen. Ihr rabbulistischer Ausdeutungsversuch bannt in meinem Gerechtigkeitssinn nicht den objektiven Urteilsgehalt: Ich erblicke in der Verurteilung Uhligs einen Justizmord und bin entschlossen, Revision einzulegen.«
»Das wirst du nicht tun, Martin!« mischte sich Frau Moses, aufs höchste geharnischt, ein. »Meiner Empfindung nach geschieht's ihm vollkommen recht. – Hast du etwa vergessen, wie er und sein Sohn sich an unserem Hause versündigten? – Unser Allmächtiger ist gewiß gütig – aber vor allem ist er der Gott der Rache.«
Bei diesen Worten erglühte Lea in tiefer Scham … Denn – streng gegen sich selbst – hatte sie dem schon durch sein Wissen verehrten Assessor bei mehrfachen Zufallsbegegnungen nach und nach ihre ehemaligen Beziehungen zu Emil Uhlig erst angedeutet – und ihn das letzte Mal rückhaltlos in ihr Verhältnis zu dem Verschollenen eingeweiht, weil sie im Geiste seiner Talmudschulung einen verstehenden Freund ahnte.
Teilnahmsvoll trat er jetzt vor sie hin und drückte ihr kameradschaftlich die Hand.
Die Eltern gingen langsam durch die Schneelandschaft des »kleinen Tiergartens« vorauf.
Verschmolzen im althergebrachten Gemeingefühl von Jude zu Jude, folgten beide. Lea bewunderte immer noch stumm seinen heute gewonnenen Sieg.
Fritz Bein wieder nährte – seit ihn Lea mit schonungsloser Selbstpreisgabe zum vollen Mitwisser ihres ersten Lebensirrtums gemacht hatte – längst ein warmes Mitgefühl für dies verhärmte Menschenkind. Er dachte an Emil Uhligs ihm unerklärliche Untat …
»An Ihnen hat das Schicksal so vieles gutzumachen!« tröstete er sie darum linden Sinnes von neuem.
Aber Leas Herz hatte der Fehlschlag dieser ersten Liebe schon recht hart gehämmert.
»Ich habe ja diese Jugendtorheit eben verwunden … Vielleicht aber war mir diese Lebenslehre not!« wehrte sie tapfer sein Mitleid ab –, weil sie es haßte, getröstet zu werden …
Der wissende Zug um ihren etwas herben Mund verschönte ihr holdes Magdalenengesicht zum Spiegelbilde eines höheren Wesens.
»Und wie denken Sie sich das Jetzt?« fragte Fritz plötzlich – ohne es gewollt zu haben.
Sprechenden Auges antwortete sie: »Mich hält die Hoffnung auf eine rein geistige Zukunft schon aufrecht. Ich bereite mich für das Abitur vor und möchte dann Theologie studieren.«
Der Assessor schmunzelte beinahe ungläubig.
»Ein weiblicher Rabbiner? Sie wären in diesem Streben sicher die erste und letzte. Wo nur wollten Sie wirken? Sie wissen in ihrem jugendlichen Drange wohl nicht mehr, daß unser Ritus der Frau im Bethaus nur einen untergeordneten Platz einräumt.«
Lächelnd sah ihn Lea, von seiner abratenden Weisung keineswegs betroffen, an.
»Ich habe in den letzten Tagen viel vom toten Theodor Herzl gelesen. Das war doch der letzte gottgesandte Prophet Judas … Und wenn seine Saat erst einmal aufgrünt, habe ich die feste Absicht, mit dem großen Auswandererstrom nach Neuzion zu gehen und meinem erlösten Volke nach der Vorschrift des Meisters dort geistig zu dienen.«
Bein zog die Brauen mürrisch zusammen, daß der Kneifer auf seiner energischen Nase lebhaft zu tanzen begann.
»Herzls Länderwahn war die glatte Utopie eines jüdischen Don Quichote … Durch seinen frühen Tod haben seine eigenwilligen Ideen denn auch jeden Halt verloren. Kein einziger seiner an sich edlen Gedanken hat so fruchtbar gewirkt, daß sich heute nach zehn Jahren auch nur ein greifbares Resultat zeigen will.«
»So werde ich weiter warten,« hielt sie ihren guten Willen entschlossen aufrecht, so daß Bein weiter warnend auf sie einsprach.
»Dies Neuzion wird immer winken, locken und doch nie sein! Jenes Neuland, das Herzls Hoffen ersehnte, bleibt für uns eben ein Traumland … Aber ich denke mir, daß sich hier im deutschen Vaterlande doch einer finden sollte, der die sittliche Kraft aufbringt, des Schuftes Frevel an Ihrer Jugend durch die läuternde Weihe seines ganzen Lebens in Ihrem Innern vollends auszulöschen.«
Lea stieg das Blut rasch in die Stirn, als er jetzt leise seinen Arm in den ihren legte.
Als vorletzter kam Udo Stettner-Herrlich auf die Straße.
Tapfer der bitteren Kälte standhaltend, wartete er neugierig auf den mitgeschworenen Bierwirt Quittschreiber, um sich von ihm noch einige Einzelheiten der Abstimmung erzählen zu lassen. Denn auch jetzt fühlte er sich von Adams Rache noch nicht restlos geborgen.
Zwar wußte er seinen Widersacher dauernd hinter Schloß und Riegel, bis sich ihm die Pforte des Gefängnisses zu seinem letzten Gange öffnen würde – eine nagende Angst, es könne alles nur ein narrender Traum sein, ließ ihn aber nicht ganz zur Ruhe kommen …
Wie ein Verbrecher, der mit unwiderstehlicher Gewalt vom Orte seiner Tat immer wieder angezogen wird, suchte er selbst alles, was Adams Ende betraf, sammelsüchtig als erleichterndes Moment seiner Sorge um sein elendes Selbst in Erfahrung zu bringen.
Zähneklappernd schritt er auf und nieder …
Als nun Friedrich Wilhelm Quittschreibers Vollfigur im backsteinernen Rahmen des großen Mittelportals gewichtig auftauchte, stürzte der dürre Maler – den kurzen Kragen seines dünnen Sommerüberziehers hatte er hochgeschlagen – vom langen Sitzen und letzten Warten ganz blau verfärbt, wie ein Wiesel auf ihn zu.
»Mensch, du bibberst ja förmlich vor Frost! Langt's denn immer noch nich zum Winterpaletot, du langes Laster?« ulkte ihn der Bierwirt etwas unüberlegt an. Unwillkürlich hüllte er seinen Fettwanst dabei fester in die dickwollige Pellerine seines graukarierten Kaisermantels.
»Nee, leider nicht!« antwortete Stettner beherzt, um auf jeden Fall des anderen Mitleid zu wecken. »Es geht mir überhaupt ziemlich dreckig. Seit dieser Geschichte mit Uhligs Tochter ist es bei mir wie verhext … Aufträge krieg' ich fast keine mehr. Und eigene Arbeiten werd' ich einfach nicht los. – Diese lausigen Zeitungsartikel haben mir und meiner Kunst enorm geschadet. Dazu – noch die emsig zehrende Schwindsucht. – Mein ganzer linker Lungenflügel ist futsch, und der rechte streikt auch schon ernstlich.«
Quittschreiber schritt – sich behäbig auf den harten Hirschhorngriff seines Weichselstockes stützend – neben ihm her und zwang den immer Eiligen so, sich seiner gemäßigten Gangart anzupassen. Stettners frierende Jammergestalt, mit den sichtlich eingefallenen Backen, dauerte den dicken Bierwirt einen Augenblick. Eben erfaßte den Maler nämlich ein stärkerer Hustenanfall, der seinen beginnenden Verfall deutlich genug bewies.
Mit einem kurzen Seitenblicke maß der dicke Philister seinen fortwährend die bloßen Hände reibenden Begleiter und sagte sich immerhin, daß jener doch von seinem Schicksal recht hart angefaßt wurde …
»Das Beste wäre, du packst jetzt Pinsel und Palette ein und reisest nach dem Süden – uff einige Monate nach Mentone. – Da laufen lauter so lange Lamas, wie du eins bist, herum,« riet er ihm deshalb mit einer allen Gewohnheitssäufern nie vermeidlichen Roheit.
»Ach – Unsinn! Ich hab' doch nicht mal das Geld, um hier halbwegs zu vegetieren, Dicker!« schüttelte der Maler seinen, einem Totenschädel schon sehr ähnlichen Kopf.
»Mußte 'ne Anleihe uffnehmen! – Vielleicht findste 'nen Dummen, der den Pump doch riskiert?« ermutigte Quittschreiber sein Selbstvertrauen.
Eine ganze Weile gingen sie nachdenklich schweigend nebeneinander her. Der feiste Cafetier ging ernstlich mit sich zu Rate, ob er nicht selbst dem armen Mitmenschen die Mittel zu einer kurzfristigen Verlängerung seines hoffnungslosen Lebens auf Nimmerwiedersehen vorstrecken sollte. Da dachte er an Stettners der Familie Uhlig zugefügte große Gemeinheit.
Hatte er allein nicht seinen verehrten Freund Emil indirekt auf dem Gewissen?
Und dem sollte er helfen? Nein!
Mit dieser Entscheidung fand er sich endgültig ab und panzerte darob sein schwankendes Herz mit rüder Härte. Stettner-Herrlich ahnte natürlich nicht, welcher kurze Kampf sich im Innern Quittschreibers eben abgespielt hatte. In ein peinigendes Gemisch von Neugierde und Zukunftsangst verstrickt, bettelte er nur ganz kindisch: »Dicker, erzähl' bloß ein bißchen von dem Geschworenenrat!«
Quittschreiber schoß ihm zunächst einen wütenden Zornesblitz ins Gesicht. Dann erst wurde er redseliger.
»Mir hat's leid jenug jetan, Emils Vater, diesen ollen ehrlichen Landmann, mit zu verknaxen … Aber die Majorität war eben fier Mord. – Und da konnte ich Eenzelner doch nischt jejen ausrichten,« berichtete er immer noch sehr brummig. »Wer kann denn aber jejen den Wind blasen?« fügte er gewissermaßen zur Selbstverteidigung hinzu.
Nun forschte ihn Udo, ganz in scheuer Schnüffelsucht verfangen, vorsichtig weiter aus: »Glaubst du, daß Uhlig etwa Revision einlegt?«
»Wer kann's wissen?« verzog Quittschreiber ärgerlich seine dicken Wulstlippen, »Fertig bringt er es schon. Der Mann jeht uffs Janze.«
»Ich bin die letzten vier Monate nie anders als mit geladenem Revolver herumgegangen!« beichtete Stettner jetzt feige. – »Aber nu' ist mir alles ganz egal. Ob es mich von innen erwischt – oder von außen! Ich bin so und so auf mein seliges Ende gefaßt. – Für alle Fälle wollen wir die Kiste schnell noch rheinisch begießen,« schlug er dem Bierwirt nun abschweifend vor.
»Meinswejen!« nickte der sofort sauflustig. »Spaß muß sint bei der Leiche, sonst jeht niemand nich mit. Ich habe ooch seit zehn Stunden keinen warmen Löffel im Magen jehabt – und keinen Schluck Schnaps, Bier oder Wein jesehn! Komm mit, alter Sünder, ins P. C. Da will ick meinen braven treuen Schmerz um Emils alten Herrn jehörig unter Weinjeist setzen.«
»Und ich balsamiere dabei gleichzeitig meine Leiche mit Alkohol ein,« prustete Stettner-Herrlich mit gemeinem Galgenhumor. »Zu Adam Uhligs Trauerparade geht außer dem Scharfrichter und seinen Beilgesellen schwerlich einer von uns. – Und wer weiß, ob du gar demnächst zu meiner Grablegung mitkommst. Wie schon gesagt, ich selbst bin schließlich sehr gern dabei. Solange ich aber noch lebe, lebe auch der liebe Suff! Der allein selig machende Suff! Da bin und bleib ich ein komischer Mensch drin!«