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X.

Justizrat Moses reckte sich aus seinem tiefen Lutherstuhl ein wenig hoch, als ihm vom Schreiber der Besuch des Rechtsanwalts Uhlig gemeldet wurde, und dachte: »Aha!«

Mit einer einladenden Bewegung seiner kurzen, dicken Hand bot er Emil einen Platz vor seinem Schreibtisch an, als der sich gar nicht etwa linkisch im Rahmen der Schiebetür verbeugte.

»Sieh da, unser Flüchtling! Gu'n Tag, Herr Kollege,« scherzte er mit guter Miene zum bösen Spiele.

Sehr selbstbewußt erwiderte Emil diese versteckte Anzapfung aber mehr als gemessen und nahm ihm gegenüber ohne seine sonstige Unsicherheit Platz, steckte seine Beine ganz bequem aus und schlug – um sich weiter Mut zu machen – ein Knie über das andere. Dann begann er wohlweislich herunterzuschnurren, was er sich tags zuvor daheim erst schriftlich zurechtgelegt und für diese große Stunde auswendig gelernt hatte. »Herr Justizrat. Erlassen Sie es mir, bitte, hier jetzt meine Motive weitschweifig zu erläutern, die mich zum Verlassen Ihres mir freundlichst vermieteten Zimmers veranlaßten. Sie werden mich am besten verstehen, wenn ich Ihnen vorerst die wichtige Mitteilung mache, daß ich mich bereits seit längerer Zeit ernstlich für ihr Fräulein Tochter Lea interessiere, die gleichfalls meine Neigung erwidert. Ich wollte hiermit zunächst Sie, Herr Justizrat, bitten, diesem Liebesbunde Ihren väterlichen Segen zu erteilen.«

Moses war für einen Moment platt …

Besonders frappierte ihn die freche Selbstverständlichkeit, mit der Emil sein baldiges Einverständnis voraussetzte. Diese kaum glaubliche Keckheit innerlich entschieden belächelnd, gab er sich einen scharfen Ruck zum Reden.

»So sehr mich ihr Antrag auch ehrt, Herr Kollege, kann ich aus verschiedenen Gründen der Sache keineswegs nähertreten.«

Emil verfärbte sich etwas und zog nervös seinen Bleistift aus der Tasche, während Moses vollkommen ruhig weitersprach.

»Erstens ist meine Tochter noch viel zu jung. Zweitens können Sie sie doch vorläufig kaum ernähren. – Drittens sind Sie dazu getauft! – Und viertens denkt meine Frau noch nicht im Traume daran, das Kind schon aus dem Hause zu geben. Das wird ihnen doch einleuchten?!«

Obwohl gegen diese sachlichen Einwände eigentlich nichts mehr zu sagen war, wollte sich Emil nicht ganz kampflos abspeisen lassen.

»Gestatten Sie, daß ich kontradiktorisch werde, Herr Justizrat?« fragte er, flüchtig einige Zeilen auf ein Blatt Papier werfend.

»Bitte, natürlich, Herr Kollege!" gab Moses gefaßt zurück.

Emil hatte sich eben auf besagtem Blatte die seine Abweisung begründenden Ausführungen des Justizrates in Kurzschrift skizziert und hob das Papier pedantisch vom Schreibtisch vor sein geschniegeltes Gesicht.

»Zu Punkt I: ihr Fräulein Tochter ist 18 Jahre alt und wäre damit als ehemündig anzusprechen. Zu Punkt II: Über die Ernährungsfrage hätten Sie als wohlhabender Schwiegervater selbstredend doch auch noch ein großes Machtwort mitzusprechen. Punkt III, betreffend meine Taufe, wäre in spätestens 4 Wochen, eventuell noch eher, zu redressieren. Ist also eine belanglose Bagatelle! Bleibt zuletzt Punkt IV: Da müßte ich es allerdings Ihnen persönlich anheimstellen, von Ihrer Frau Gemahlin die Zustimmung unter Berufung auf das alte preußische Landrecht als Ehemann zu erwirken, das ihnen zur Zeit des Eheschlusses das Recht einer gelinden Züchtigung einräumte. Meine ohnedies nicht sehr geläufige Redekraft allein dürfte allerdings versagen.«

Damit faltete er sein Notizblatt recht exakt zusammen und steckte es abwartend in seine nagelneue Juchtenbrieftasche, der er dabei, ziemlich umständlich suchend, einen schon fertig ausgefüllten Scheck entnahm.

»Da ich auch wegen der Zimmermiete pro Juli noch rückständig bin, bitte ich Sie, zum Ausgleich für das ganze laufende Quartal mangels erfolgter Kündigung einen Verrechnungsscheck auf meine Bank entgegennehmen zu wollen.«

Damit überreichte er dem schon wieder behäbig schmunzelnden alten Herrn mit einem kindisch prüfenden Blick auf seine Schriftzüge das Wertpapier.

»Aha, ein Scheck. – Danke, Herr Kollege. Wünschen Sie eine Quittung?" fragte Moses, gleich in sein gewohntes Schweigen verfallend. Emil befiel eine wüste Wut darüber, daß Moses, ohne nur eine Miene zu verziehen, die ganze Summe einsteckte.

›Der Nassauer läßt sich wahrhaftig zwei volle Monate umsonst die Miete zahlen!‹ fluchte er innerlich. Mit einem hastigen: »Nein, ist ja nicht nötig,« wollte er sich sofort verabschieden und suchte geistesarm nach einem Paar passender Worte.

Endlich fand er sie.

»Herr Justizrat, ich möchte jedenfalls nicht verfehlen, meinem Bedauern für ihre Kurzsichtigkeit noch besonders Ausdruck zu geben. Ich habe mich Ihnen offen erklärt. Ultra posse … – Vielleicht bereuen Sie einmal Ihren diesbezüglichen Schritt, der das Tischtuch zwischen uns zweien endgültig zerschneidet.«

Moses nickte bedächtig dazu und zwirbelte mit der Band an feinem roten Schnurrbart.

»Mein Standpunkt bleibt unabänderlich. Auch möchte ich etwa mögliche Reuzustände von mir aus bezweifeln. Sine ira et studio, natürlich. Immerhin war es mir eine Genugtuung, Ihnen das erste Auftreten als Berliner Anwalt ermöglicht zu haben. Ein Vergnügen!« »Ich danke ihnen, Herr Justizrat.« Emil lächelte schneidend.

»Das Vergnügen war gegenseitig!«

Er hatte seinen steifsten Studententon angeschlagen, als er dem alten Herrn wutberstend die Hand schüttelte. Moses bedeutete ihn aber sicheren Blickes, daß er doch eben der wirtschaftlich Stärkere sei, was Emil gegen das Bewußtsein, immerhin Besitzer seiner Tochter gewesen zu sein, gefühlsmäßig aufrechnete.

An der Tür knickte er taschenmesserartig offiziell zusammen und verschwand.

Raum hatte er sich aus dem Zimmer entfernt, als Frau Rosalie Moses, durch den Schreiber auf eigensten Befehl von Emils Anwesenheit unterrichtet, in einem seidenen Morgenrock erschien.

»Wo ist jenner?" examinierte sie ihren Mann, und ihre Augen funkelten tatendurstig.

»Eben fort,« sagte Moses gleichgültig. »Aber bleib' nur, Rös'chen. Ich hab' ihm genug gegeben: das Kalte und das Warme.«

Da seine Ehehälfte jedoch unter einem langatmigen Wortschwall eigensinnig auf ihrem Willen beharrte, raffte er sich ängstlich aus seiner gepolsterten Versenkung auf.

»Er hat von mir bekommen, sage ich dir doch!« suchte er sie weiter zu beschwichtigen, daß sie empört aufbegehrte.

»Nein, ich muß ihn persönlich sprechen. Schon wegen der Bluse.«

Damit eilte sie rauschend durch die Tür zum Korridor, eine Wolke Houbigants »Ideal« in die Nase des Gatten lenkend.

»Herr Doktor, auf ein Wort!"

Auf diesen Anruf blieb Emil – wie angewurzelt – in der Diele stehen.

»Ich kann's mir nicht nehmen lassen, Ihnen über ihre nonchalante Art, genossene Wohltaten zu vergelten, meine unverblümte Ansicht zu sagen, da Sie allein nicht so viel Takt besaßen, sich zum Abschied bei mir melden zu lassen. Dabei haben Sie nicht einmal die letzte Miete bezahlt.«

Emil sah sie, zunächst in seiner sprachlosen Erregung zu einer Erwiderung unfähig, erbost und frech an, und Frau Moses nutzte diese seine Verlegenheit weidlich zur Fortsetzung aus.

»Und außerdem fehlt – ich schäme mich, es auszusprechen – eine seidene Bluse aus Fräuleins Kleiderschrank.«

Jetzt erst fing Emils Fischblut endlich an, zu wallen, als auch der Justizrat auf dem Korridor erschien und zugleich der jüngste Schreiberstift heimtückisch die Tür zur Kanzlei öffnete, um dem Bureaupersonal das Mithören des Auftrittes zu erleichtern.

Moses nahm seine Frau geheimnisvoll zur Seite, um sie durch die geflüsterte Mitteilung von Emils Wünschen in bezug auf Lea jetzt von ihrer Aktion abzubringen.

Im gleichen Augenblick öffnete aber der Rechtsanwalt entschlossen die vom Vorplatz zu seinem ehemaligen Bureau führende Verbindungstür und trat energisch an den dort befindlichen Kleiderschrank heran, um den Zustand seines Schlosses genau zu besichtigen.

»Das Patentschloß hier ist vollkommen intakt. Ein Einbruch meinerseits, wie er mir hier frivolerweise unterschoben wird, ist ausgeschlossen. Beweis: Augenschein!« Frau Moses ließ jedoch nicht locker. Und Moses', des Mannes, Beruhigungsversuche schlugen zu entgegengesetzter Wirkung um.

»Die Bluse bleibt trotzdem spurlos verschwunden. Das ist nun einmal geschehen!« biß die Justizrätin sich hartnäckig in ihren kleinlichen Wahn fest.

Emil übersah sie eine Weile, als sei sie nur noch Luft für ihn. Dann faßte er sie nach einem kopfschüttelnden Blickwechsel mit Moses wieder fester ins Auge.

»Ich muß mich als Jurist an die Tatsachen halten. Und Sie haben absolut kein Recht, jemanden zu verdächtigen, ohne sein Delikt genau nachweisen zu können, nur weil Sie auf dem dicken Geldsack sitzen, und der Beschuldigte nach Ihren Begriffen ein vermeintlicher Schnorrer ist.«

Jetzt raffte sich der Justizrat auf und trat mannbar zwischen beide.

»Aber, Herr Kollege! Wozu der Lärm? Ihre Erregung ist wahrhaftig überflüssig; die ganze Bluse ist ja nicht der Rede wert.«

Noch aber wollte Frau Moses beileibe nicht weichen. Ihr beleidigter Stolz über diesen unverschämten Menschen« empörte sich und mußte sich unbedingt über ihn entladen, was beizend geschah.

»Weil wir auf dem Geldsack sitzen, haben Sie sich doch nur hier eingenistet, Herr –. Aber unser Kind Kriegen Sie nicht, nun schon gar nicht … Und wenn Sie sich auf den Kopf stellen: Dun erst recht nicht! Das hätte Ihnen so gepaßt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Praxis und Mitgift. Aber da sind Sie an die falsche Adresse geraten. Unser Kind kriegen Sie nie!«

Nachdem sich ihre greuliche Unnatur genügend ausgetobt hatte, hielt Herr Moses sein Einschreiten abermals für fällig.

»Auch diese Sache ist längst erledigt. Der Herr Kollege hat sogar die Miete an mich bereits gezahlt, mit für August und September. Sehr nobel!«

Dabei wackelte er mit dem großen Kopfe, daß sich das rote Haupthaar bewegte.

»Von dem Mehrbetrage kannste der Bonne eine neue Bluse kaufen. Basta. Außerdem glaube ich, daß er nach dem eben Erlebten selbst keinerlei Meinung mehr haben wird, seine Werbung aufrecht zu erhalten.«

Emil gelüstete es mit zwingender Begier, der übermütigen Dame noch einen fühlsamen Hieb zu versetzen.

»Natürlich verzichte ich nun!« feixte er sie geringschätzig an. »Sie – aber – Frau Moses, werden sich nach einem Schwiegersohn, wie ich es wäre, noch mal alle Finger ablecken! Mahlzeit!«

Damit verließ er, unter Außerachtlassung aller Regeln des Anstandes, sein verflossenes Arbeitsgemach.

Beide Eheleute waren baff und standen sich wortlos in dem stillen Stübchen gegenüber.

Dann schritt Moses, ohne etwas denken zu können, stumm über den Korridor, um die noch immer nur angelehnte Kanzleitür zu schließen.

Über Emils unerhörtes Betragen »in höchstem Grade empört«, folgte ihm seine Ehehälfte nach seinem Arbeitszimmer.

Moses ging zweimal den weiten Raum auf und nieder und rang lange mit einem Entschlusse.

Dann bat er seine plötzlich sprachlos gewordene Frau: »Rös'chen, hol' mir's Kind her, die Lea.«


Mit gespielter Unbefangenheit trat Lea dem Vater alsbald gegenüber, der sie ärgerlicher, als er eigentlich beabsichtigte, anfuhr.

»Was heißt, daß du dich, ohne deine Eltern zu fragen, mit Doktor Uhlig versprochen hast?«

Dieser herrische Ton machte das Mädchen verstockt.

»Ganz einfach!« gab sie schlagfertig zurück. »Weil ich ihm sehr gut bin, Papa. Und weil er mir versprochen hat, zum alten Glauben zurückzutreten.«

Mama Moses bekam fast einen Nervenchock.

Der Vater aber konnte sich kühler beherrschen.

»Und davon, daß er sich wieder jüdischen läßt, willste leben?« fragte er sarkastisch.

»Mein Emil kann erstens arbeiten. Und du hast zweitens ja auch Geld genug. Ganz einfach, Papa. Und Gott sei Dank,« reizte sie den Vater absichtlich zur Abgabe einer entscheidenden Erklärung.

»Schlag' dir den Mann aus deinem dummen Kopf!« begehrte Moses jetzt auf. »Solange ich lebe, wird aus der Partie nichts!«

Die Mutter, von tausend hadernden Gefühlen zerrissen, suchte rasch irgendeine Möglichkeit, ihr Kind von seiner geistigen Verirrung zu erlösen.

Und weil sie bei weiterer Fortsetzung des Wortwechsels nur die Kluft zwischen Vater und Tochter zu vertiefen fürchtete, führte sie Lea in einer eingebildeten Anwandlung von Mutterschmerz heraus.

»Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser!« rief Papa Moses in heilloser Erregung dem – wie er wußte – für solche Schriftworte sehr empfänglichen Mädchen noch nach.

Zunächst machten Mutter und Kind im Speisezimmer Station, und Frau Moses suchte hier ihre Tochter über die Tiefe und Dauerkraft ihres Gefühls auszuforschen.

»Ich kann nicht verstehen, wieso dieser fade Blondin dir überhaupt gefallen kann?« begann sie vorsichtig.

Beim Anblick des bewußten Klubsessels, der alles Erlebte so deutlich in ihrem Erinnern wachrief, verlor Lea jedoch die bisher mühsam behauptete Haltung. Schluchzend warf sie sich der Mutter an die Brust und schlang die schmalen Arme krampfhaft um ihren Hals.

»Hilf mir, Mutti!" bettelte sie fassungslos unter Tränen. »Es gibt keinen lieberen Menschen als ihn. Sorge du dafür, daß wir uns heiraten dürfen. Sonst passiert ein Unglück. Ich kann nicht mehr von ihm los."

Mit zähem Zielbewußtsein wollte die unbarmherzige Frau Leas ihrer Ansicht nach nur eingebildete Neigung im ersten Ursprung ausjäten und kleidete diesen Wühlversuch in mütterliche Güte ein.

»Nimm nur etwas Vernunft an, mein Leakind. Der Mensch hat dich nur aus Geldgier betört. Seine Sippschaft ist ja für uns unmöglich. Jüdische Mädchen heiraten ja nie nach der Stimme ihres Herzens. Du liebst doch die Bräuche unserer Väter so sehr: Darum laß dir sagen, daß es ein altes Sittengesetz der Juden ist, der ersten Liebe zu entraten, um dem Leben verhärteter gegenübertreten zu können."

Da trocknete Lea die letzten Tränentropfen und sah sie ganz groß mit ihren rehbraunen, treuen Augen an.

»Mutter, ich begreif dich nicht! Willst du mich denn nicht verstehen? Mir bleibt keine Wahl mehr!"

»Redensarten, mein geliebtes Glück!" säuselte die eisenharte Frau auf allen Registern ihrer nichts fühlenden kalten Seele. »Es hat gar keinen Zweck, sage ich dir. – Der Mensch ist eine schwankende Gestalt, ohne eine Spur von Gewissen. – Gestern läßt er sich taufen, heute tritt er zum Judentum zurück, und morgen wird's ihm passen, Mohammedaner zu werden, wenn er frisches Türkengeld riecht! Ein schmutziger Schmarotzer, der nie zu uns passen wird, ist er, mein sonniges Kind."

Lea ballte ihr Batisttaschentuch zu einem Knäuel in der zittrigen Hand. »Aber Mutter, so versteh' mich doch! – Ich – habe gar keine Berechtigung mehr, lange zu wählen. – Ich –"

Mehr konnte sie nicht herausbringen. Und Frau Moses sah ihre Tochter – wie geistesabwesend – an!

»Was ist, Lea!« schrie sie endlich exaltiert auf, während sie blitzhaft zu ahnen begann.

»Begreif mich doch, Mutter –!« Lea hatte sich wieder etwas gesammelt. »Ich habe eben nur noch B zu sagen.«

Damit atmete sie tief und erleichtert auf …

Die Dame Moses wurde bei diesen dürren Worten ihrer tugendhaften Tochter auf einmal ganz gelb im Gesicht, das zusehends alterte. Wutbebend biß sie die Zähne zusammen, bevor sie keifend jede Selbstbeherrschung vergaß. »Also so eine ist meine Lea! Das hast du nichtswürdigerweise getan. Von Gott verlassen und den Menschen ein Abscheu! – Und erst der Papa. – Das überlebt er nicht bei seiner vorgeschrittenen Zuckerkrankheit! Der Nagel zu seinem Sarge bist du. Gott wird euch beide ausrotten! – Dich mit ihm zusammen!«

In dieser Tonart lamentierte sie noch eine Weile weltvergessen weiter, während Lea sie nur wortlos und kopfschüttelnd beobachtete. Erst als die Mutter endlich einhielt, nahm das junge Mädchen die Unterhaltung wieder auf. Und zwar recht klar.

»Du siehst also hoffentlich jetzt ein, daß es kein Zurück mehr gibt, und ich Emil einfach heiraten muß?« sagte sie ziemlich bestimmt.

Wie ein letztes Kerzenflackern flammte in Frau Rosalies Antlitz der Widerwillen noch einmal auf. Aber innerlich stets schnell mit sich fertig, erstickte sie jenes nutzlose Sträuben und sagte eiskalt: »Ich werde den Papa rufen!«

»Ja!« nickte nun Lea – wieder tief Atem holend –, »besser gleich als morgen!"

Die Mutter verließ gleich darauf den großen Raum ohne einen Gruß, und Lea stützte den schweren Kopf in die heißen Hände und harrte mit der Spannung einer Angeklagten dem von der Mutter erzielten Ergebnis entgegen, während ihr wildes, jungblühendes Blut blitzschnell durch die Schläfen hämmerte …

Sie war innerlich fest entschlossen, das Elternhaus zu verlassen und zu Emil zu gehen, falls irgendwer sich ihrem Wollen noch widersetzen würde.

Inzwischen trat – wie sie sich fest einbildete – tiefbewegt Frau Moses zu ihrem Gemahl, der kaum mehr von seinem Aktenstück aufblickte.

»Martin!« rief sie ihn lauten Tones an, »was meinst du, daß sich hier, während wir fort waren, abgespielt hat?«

»Nu'?« antwortete Moses emsig und gleichgültig weiterschreibend, »was soll ich wissen? Laß mich in Ruh, Rös'chen. Ich will nichts mehr davon hören.«

Seine dickfellige Apathie zeitigte einen argen Temperamentsausbruch der überreizten Gattin.

»Du wirst schon wollen! Du wirst müssen, Martin! Ich sage dir,« und ihre Stimme hob sich, »Furchtbares hat sich ereignet! Furchtbares!«

Dieser Dringlichkeit gegenüber konnte sich Moses nicht länger ablehnend verhalten. Er stutzte und legte die Feder fort.

»Was is?« fragte er, den Kopf hebend, und seine Nase wurde noch etwas länger, als sie es von Natur schon war.

»Ich sage dir, – es ist schrecklich, Martin!« würgte sie stimmlich und erhöhte seine Wißbegierde dermaßen, daß er angstgetrieben aufstand.

»Red' ein Wort! Schieß los!« mahnte er schon verdrießlich.

»Martin, ich kann's nicht!« versagte sie und rang die gefalteten Hände hoch, worauf sie seufzend auf das Sofa sank.

Nun wurde Moses doch von der Wichtigkeit der »Sache« erfaßt und drang ernst und energisch in seine Frau.

»Spann' mich nicht auf die Folter, Rös'chen! Was hat sich hier getan? Auf der Stelle sagste mir, was los ist!?«

Jetzt erst erschien er ihr zur Aufnahme der Ungeheuerlichkeit genügend vorbereitet. Und darum brachte sie Emil Uhligs Untat so kraß wie möglich an.

»Dieser getaufte Gauner und Lump – hat das Kind, soviel ich da raus höre, – scheinbar – geschändet!«

Nun war es heraus, und Frau Moses faßte sich zur Andeutung ihrer stärksten Ergriffenheit mit der ringbesetzten Hand ans Herz, während ihre Stimme schon bei der bösen Beichte krächzend-heiser erstickt war.

Moses begriff den Sinn des Gesagten erst gar nicht.

Dann aber schrie er wie ein angeschossener Bär auf.

»Nein, nein, nein, was hab' ich mir getan! – Nein, nein, nein, was hab' ich mir getan! Wir sind zugrunde gerichtet!«

Dabei schlug er sich fortwährend mit der geballten Faust auf die Brust, daß sein schönes weißes Oberhemd bald ganz zerknittert aus der weitausgeschnittenen Weste hing. Dann riß er sich den Gehrock vom Leibe und machte zum Zeichen der Trauer nach dem Brauche seiner Vorfahren einen scharfen Messerschnitt in den Westenkragen.

Die Ausführung dieser Prozedur lenkte seine erregten Gedanken etwas ab und trug sehr zu seiner ersten Beruhigung bei.

»Ruf' mir's Kind sofort her!« forderte er nach sotaner Überwindung seines frisch-brennenden Schmerzes.

»Laß das Kindleben schon laufen! – Was willst du von Lea? Was kann das unschuldige Kind dafür? Ist sie daran schuld, daß wir fortgefahren sind? Hab' ich sie nicht achtzehn Jahre lang gehegt und gehütet? Bin etwa ich an dem Unglück schuldig?« posaunte Frau Moses in tiefsten Tönen; das beste Zeichen, daß sie sich innerlich längst damit abgefunden hatte.

»Ich weiß schon!« brummte er. »Hab' ich also die Schuld. – Ich allein!«

Moses versank in stummes Brüten, aus dem die lebenskluge Frau ihn aber bald aufschreckte.

»Martin, es hat keinen Zweck, lange zu debattieren,« lenkte sie seine schweifenden Sinne zur wirklichen Gegenwart zurück.

»Das Leben ist eben schuld,× entschied er nachdenklich. »Gott hat es gefügt. Wir müssen uns beugen.«

»Sehr richtig!« pflichtete sie ihm kopfnickend bei und erhob sich.

»Aber sehen muß ich mein Kind wenigstens. Und trösten! Und später will ich dem Uhlig schreiben. Eine schwere Prüfung, die mir der Allwissende auferlegt hat!« fügte der fromme Mann sich mit einer vorbildlichen Demut in sein trauriges Schicksal.

Brausend begehrte die Gattin wohl noch einmal auf.

»Es ist ein harter Schlag! Was bleibt uns aber anders übrig? Ich weiß bei Gott auch fürs Kind keinen besseren Ausweg. Wir müssen in den sauren Apfel beißen und diesen Taugenichts als Schwiegersohn anerkennen. In aller Stille, bevor etwas unter die Leute dringt, macht man das Aufgebot mit dem nichtswürdigen Schurken! Aber – aber, diese Mustermenschen von Eltern!«

Der Justizrat beschwichtigte mit klugem Verständnis ihren peinvollen Gedankengang.

»Wir holen nur den Stier aus dem Stall heraus und schließen die Stalltür dann fest zu.«

»Ich wünschte, ich wäre sechs Monate älter!« seufzte Frau Moses ganz gegen ihre innere Wahrhaftigkeit auf.

»Nu' hol mir das Lealeben herein,« bat er schmerzlich lächelnd und legte ihr seine Hände versöhnungsvoll auf die Schultern.

Als sie ihm die tief erglühende Tochter nach einer Weile zuführte, sprach Moses nicht das mindeste Vorwurfswort. Er breitete nur seine kurzen Arme weit aus und barg das dabei leise aufschluchzende Mädchen schützend an seiner Vaterbrust. Und Lea verstand ihn …

Dann löste er sich langsam von ihr los, winkte seiner Frau schweigend zu, sie herauszuführen, und klingelte zweimal nach seinem Schreiber, der bald darauf (mit Stenogrammheft und Bleistift bewaffnet) ins Zimmer trat.


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