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Werner Uhlig erhob sich eben in seinem Bureau vom Schreibtisch …
Die Maiensonne stand längst hoch im Mittag und flutete helles Licht und heiße Luft durch die großen offenen Fenster in den weiten Raum.
Er schellte dem Diener, der gleich darauf im betreßten Rock erschien und stumm, die schwarze Ledermappe in der Hand, seine Ansprache erwartete.
»Nun, Merker, ist noch jemand im Vorzimmer?«
»Nein, Herr Uhlig, doch …« stotterte der Gefragte, »das heißt, nur ein Privatbesuch. Ein Herr Assessor Bein erwartet Sie zum Fortgehen!« Damit setzte er bald wieder beruhigt sein altes, glattrasiertes Lakaiengesicht auf …
»Was liegt da noch vor?« wies Werner auf die schwarzglänzende Mappe in Merkers Händen.
»Es sind nur die morgen mittag herausgehenden Wechsel zur Gegenzeichnung des Inkassovermerks, Herr Uhlig.« Und unentschlossen drehte er die Lackledermappe in der ausgearbeiteten Hand.
»Wie spät ist es?« murmelte Werner etwas nachdenklich vor sich hin.
»Grade halb drei durch,« gab ihm der Bankbote dienstbeflissen zur Antwort, die Werners gedankliche Abkehr schleunigst beseitigte. Er erhob sich ruckartig vom Schreibstuhl.
»Dann rufen Sie den Herrn herein! Den Inhalt der Mappe will ich heute abend genau durchgehen. Bringen Sie die Wechsel vorläufig zum Herrn Direktor Goldstein zurück. Ich muß nun fort. – Ja, ja, Merker, ich komme heute ausnahmsweise auch abends nochmals ins Bureau. Und Sie haben sich gefälligst auch einzufinden. Sagen wir um neun Uhr,« beschloß er recht bestimmt seine Weisung an den ganz ungläubig dreinblickenden Diener, der sofort die schallsicher ausgepolsterte Tür öffnete, um einen schlanken, nicht allzu großen Herrn einzulassen …
»Tach, Fritze!« schüttelte Werner dessen Rechte.
»Mahlzeit! Ich wünsche wohl geschafft zu haben.« Lustig lugten zwei Luchsaugen des Ankömmlings durch die dicken Gläser seines randlosen Kneifers. Beins kurzgeschorener Kopf bewegte sich fortwährend, wobei sein reges Mienenspiel sich ängstlich verdüsterte.
»Mensch, dalli ins Auto! In zehn Minuten, spätestens in einer Viertelstunde kommen die Brüder ja schon raus!« spornte er Werner energisch an.
»Also dann fix!« meinte der. »Laß uns gehen!« Und verließ mit seinem Begleiter das Zimmer.
»Mahlzeit, meine Herren,« rief Merker gleichzeitig, eilte nach dem Treppengang des weiten Gebäudes, um den Fahrstuhl heraufzuklingeln, und überreichte an der Kleiderablage jedem Herrn seinen Hut und Stock …
In kurzer Zeit standen sie im dichtesten Menschengewühl auf dem Potsdamer Platze.
Werner winkte einen Wagen heran.
»Justizministerium!« rief er dem Chauffeur zu.
Man stieg ein, und ehe sie sich's versahen, hielt das sausende Auto in der Wilhelmstraße.
Über die sonst so stille Gegend ergoß sich heute ein nicht gewohnter Verkehr. In kleine Haufen geteilt, waren es meist nur junge Männer, die, lebhaft miteinander plaudernd, umherstanden, was gerade um diese Tageszeit sehr eigen anmutete.
Auch vereinzelte ältere Herren, wohl Väter oder Onkel der drinnen im Examen schmachtenden Referendare, gingen mit Spannung wartend auf und ab; ja sogar eine hübsche junge Dame mit duftigen Blumen in der schmalen Hand mischte sich mit weiblicher Ungeduld unter die hin und her Flanierenden.
»Wer von euch war schon während der großen Pause hier?« wandte sich Assessor Bein an eine kleinere Gruppe direkt vorm Portal lauernder Juristen.
Alle bejahten sie die Frage des Kollegen, der hierauf weiter examinierte: »Was hat denn Emil Uhlig für 'n Gesicht gemacht?«
»Ach der! Der ist fast nichts geprüft worden, da seine beiden Arbeiten ausreichend waren,« scholl es im Durcheinander zurück.
»Also schale Mittelmäßigkeit« erwiderte Bein und zog aus seiner Aktentasche ein kleines, schwarz-weiß-rotes Fähnchen, das er im Winde entrollte, um es dem Freunde nachher entgegenzuhissen.
»Nicht so vorschnell, Fritze!« mahnte Werner den übermütigen Begleiter, der sich durch diesen Einspruch aber absolut nicht beirren ließ …
Plötzlich trat sichtliche Erregung auf alle Gesichter.
Ein alter ausgedienter Gerichtsdiener, der als Ruheposten das Portal des königlichen Dienstgebäudes an solchen kritischen Tagen wie ein Cerberus bewachte, hatte eben das Examenende, das Kommen der Geprüften signalisiert. Und bald schwärmten die vier Prüflinge heran.
Als erster trat Emil freudestrahlend heraus … Ihm folgten zwei ebenso Glückliche, während der vierte traurig und langsam als letzter die Stätte seines Verdrusses verließ.
Er wurde von den Blumen der Braut getröstet. O Weib! Du Sorgenbannerin! Du Allerbarmerin! Du Mutter! –
Emil fiel Werner in die Arme …
Assessor Bein schwenkte über beide die flatternde Flagge.
Dann aber, als die Freunde ihre kurze Umarmung gelöst hatten, richtete er an den frischgebackenen Kollegen recht dringend eine Frage zur Sache: »Prädikat?"
»Du bist wohl ganz und gar verrückt, Fritz? Ich bin heilsfroh, daß ich überhaupt mit einem blauen Auge davonkam! Gerade ›ausreichend‹ habe ich bestanden," war Emils mit ermatteter Stimme gegebene Antwort, wobei er die Knöpfe seines Sommerüberziehers schloß, den Werner ihm väterlich über den hinten am Hals vorwitzig herausblickenden schwarzen Frackkragen hochzog.
»Also nicht einmal den üblichen Aktenvermerk nach oben?« neckte Bein etwas enttäuscht weiter.
»Nee, mein Junge! Ausgeschlossen! Was denkst du dir denn? Es kann doch nicht jeder mit 1 bestehen, wie du! – Der hat sich sogar beim Unterstaatssekretär vorstellen müssen!« fügte er, zum Vetter gewandt, zu.
»Ich weiß wohl, ein Wunderknabe,« bezeichnete ihn Werner.
»Also hat dir deine ganze Tauferei doch nichts genutzt!« sagte Fritz sarkastisch zu Emil. »Mit der Staatskarriere ist es aus! Was bleibt dir? Da der Numerus clausus noch nicht verhängt ist, wirst du also die Zahl der Berliner Rechtsanwälte um eine vermehren, lieber Sohn! Wirst abermals deine Religion vertauschen und alsdann eine reiche Jüdin ins Ehebett zerren! Was? Ist dies Prognostikon etwa falsch?«
»Zerbrich dir doch nicht seinen Kopf, lieber Fritz,« meinte Werner verstimmt lächelnd und ließ ein Auto halten. Dann reichte er dem Assessor dennoch freundlich die Hand. »Also, lieber Junge, in einer guten Stunde bei mir! Wir holen Emils Eltern inzwischen dazu.«
»A rivederci!« Dr. Bein zog sein grünes Filzhütchen, befestigte in seiner behenden Art das Fähnchen an der Wagenlaterne, rief dem Chauffeur Emils Adresse zu und schloß energisch die Tür.
Grüßend und winkend entfernten sich beide Uhligs im Dreißig-Kilometer-Tempo …
Fritz Bein aber war selbstzufrieden, wieder einmal jemandem ungeschminkt die absolute Wahrheit ausgesprochen zu haben.
Mit einem Gefühl starker Überlegenheit schlenderte er die Wilhelmstraße entlang den Linden zu.
Heute hatte Adam schon am frühesten Morgen um vier Uhr das ganze Haus auf die Beine gebracht. Und zwar ein Familienglied nach dem anderen.
»Hulda, mach' Tag!« wurde erst die noch fest neben ihm schlummernde Gattin wachgegrunzt …
Dann lief er zu Emil und Otto, um auch die beiden aus den Federn zu jagen. Aber er hatte nur bei dem Jüngeren Glück, weil Emil, wie stets fast, auch heute am Prüfungstage bei Werner im Fremdenzimmer übernachtet hatte …
Und Püdde mußte – nachdem der Alte ihm zunächst sein Oberbett gewaltsam geraubt hatte – den nassen Wirkungen einer Gieskanne weichen, die Adam schlau zu Hilfe geholt hatte, um den vorausgesetzten Widerstand des Schläfers erfolgreich zu brechen und ihn so auch wirklich aus dem Bette zu graulen.
Ellen endlich wurde immerhin durch wiederholte Faustschläge aufgescheucht, die Adams derbe Hände auch an ihre verschlossene Tür trommelte …
In lichten Luftschlössern verträumte die also vereinte Familie den Vormittag. Während die Tochter im Bureau einer Brauerei der Friedrichstadt tätig war, wartete man in Adams Hause von Stunde zu Stunde gespannter auf das Ergebnis des großen Tages.
Das ganze Schicksal jedes Einzelnen wurde ja von Emils Examen neu bestimmt! Kein Wunder, daß sie alle auf diese einzige Karte ihr Hoffen gesetzt hatten.
Der Büffel selbst lehnte sich nach alter Gewohnheit bald zum Straßenfenster hinaus. Er wollte mit keinem reden …
Das Gegenüber zur Häuserreihe bildete hier im neuen Hansaviertel ein vom Kanal umflossener Rummelplatz, in dessen Hintergrunde sich einige schwarz berußte Fabrikgebäude mit ihren himmelanstrebenden Kolossalschloten wie Schattenrisse auftürmten …
Wohlig ließ Adam seinen feisten Oberkörper, den auch jetzt wieder nur ein Hemd (heute aber sogar ein blütenweißes Taghemd) bekleidete, von der warmen Mailuft umkosen und sonnte sich in den behaglichen Strahlen des wonnigen Mittagshimmels …
Eine Mahlzeit hatte er außer seinem kargen ersten Frühstück vor innerer Aufregung noch nicht zu sich genommen. Und niemand gelang es am ganzen Vormittage, ihn von seinem Ausguck, den er wie ein Wachtposten beharrlich verteidigte, auch nur für eine kurze Essenspause zu entfernen …
Erst als das Auto mit dem ersehnten Sohne endlich gegen halb vier qualmend und fauchend vor der Haustür hielt und Emil, auf das flatternde Fähnchen weisend, lustig mit dem Hut nach oben winkte, zog er seinen Wollkopf befriedigt vom Fenster zurück und rief laut gellend durch die ganze Wohnung: »Hulda, sie kommen! Peipe hat's jeschafft! Aus Kalbfleisch ist endlich Rindfleisch jeworden! Jetzt kann er wenigstens Geld verdienen! Es war auch höchste Zeit!«
Damit setzte er sich beruhigt aufs Sofa und blähte sich erwartungsvoll wie ein Puter auf.
Werner hatte den Wagen warten lassen.
Mit einem langen, stummen Kuß empfing die glücksarme Mutter ihren Sohn … Das eine langgehegte Ziel ihrer Wünsche hatte er ihr heute erfüllt! Und all ihren Dank preßte sie in diesen Mutterkuß.
Otto, der sich sofort nach Tisch wieder zu einem Mittagsschläfchen ins Bett gelegt hatte, weil er seiner Meinung nach vom Büffel vollkommen ungerechtfertigt gestört worden war, kam eben noch halb verschlafen angerückt, um dem großen Bruder glückwünschend die Hand zu drücken …
Dann erst betraten die drei das Speisezimmer, wo inzwischen Werner schon seinem Vetter Adam gratuliert und sich neben ihn aufs Sofa gesetzt hatte.
»Na, Gott sei Dank! Hast's erreicht!« fuhr Adam brummig seinen Sohn an, als der nach einer kleinen Warteweile zu ihm herantrat. »Lange jenug hast du dazu jebraucht! Jeder Normalmensch hätt' es ein Jahr lang eher fertig jebracht! Und was du jetzt jeworden bist, ist nur mein Produkt!«
»Zieh dich endlich an! Schämst du dich nicht, spät nachmittags noch so rumzulaufen?« antwortete ihm Emil und warf die Aktentasche auf den Tisch, ohne den Hut vom Kopf zu nehmen oder den Überzieher abzulegen.
Werner aber bat weiter.
»Kinder, macht euch bitte so schnell wie möglich fertig! Das Auto wartet ja doch. Ich dachte natürlich, daß Bollusch um diese Zeit schon fertig angezogen ist. Ich habe nämlich in meiner Wohnung eine kleine Schlemmerei – den sogenannten Assessorschmaus – anrichten lassen!" schlug er ganz unbefangen seinen Verwandten vor.
»Bist wohl verrückt! Ich soll zu dir? Wenn mein Kind Examen macht, bin ich doch derjenige, welcher!" lehnte Adam aber sichtlich beleidigt ab.
»So lassen wir dich ganz einfach allein hier sitzen! Sei gefälligst: derjenige, welcher! Dann wirst du dir deine verdrehten Nicken schon abgewöhnen! Mammusch und Otto, ihr beide kommt ins Auto!« bestärkte Emil, endlich einmal aus seiner Ruhe auffahrend, Werners herzlichen Wunsch.
Frau Hulda, die heute ihr Schwarzseidenes angezogen hatte, zögerte nur wenige Minuten … Ihr war es schon recht! Und sie sagte nur, um etwas zu sagen: »Adam, sei doch vernünftig! Zieh dich schnell an! In der Schlafstube hab' ich dir deinen Leibrock schon rausgelegt. Sei kein Störenfried, heute an unserem ersten frohen Tage!"
Adam wollte nur so gebeten sein.
»Fahrt nur ruhig voran! Ich fahre mit keinem Auto! In so 'nem Ding kann man sich noch alle Knochen zerbrechen! Ich wer mit Püdden zu Fuß jehn! Mein bißchen Stolz hab' ich doch noch! Und essen tue ich da keinen Bissen! Also fahrt vor! Ich komme später!« gab er schließlich ganz gewunden nach …
»Otto muß aber nicht vergessen, an Ellen zu telephonieren!« rief Frau Hulda, mit diesem Entschlusse ihres Gatten gern einverstanden, und wollte schon mit Emil heruntergehen und einsteigen.
Aber Werner ließ das nicht zu. Er ruhte nicht eher, bis auch Adam seinen Anzug vollendet hatte und, mit seinen Denkmünzen von Anno siebzig geschmückt, zu seiner Rechten auf die Straße trat …
»Was der Bollusch mit mir altem Esel für Sachen macht!« heulte Adam vor sich hin, als er das Auto erblickte …
Die spießigen Nachbarn (lauter kleine Leute) reckten an ihren Fenstern wohl die mageren Hälse, die Familie Uhlig so festlich geputzt ein Auto besteigen zu sehen.
Und als Otto, der sich wegen Platzmangels im Wageninnern neben dem Chauffeur gesetzt hatte, die Droschke an der nächsten Kreuzung nochmals halten ließ, um beim Zigarrenhändler das freudige Ereignis telephonisch auch Ellen zu übermitteln, gratulierte Herr Knörck, aus dem Laden tretend, seinen Kunden, Vater und Sohn.
Im stillen aber freute er sich dabei: Jetzt hast du wenigstens einige Aussicht, auch bald deine zwanzig Mark wiederzusehen!
Denn Emil war ein Pumpgenie.
Er nahm es von den Lebendigen! Das hatte er vom Vater.
Bollusch, der Büffel, machte große Augen, als er Werners Wohnung im alten Berliner Westen betrat.
»Hut ab!« brüllte er schon im Korridor, der ganz in Weiß und Gold bei rotausgeschlagenem Fußboden gehalten war. »Hut ab vor soviel Geschmack!« Und später setzte er gedemütigt hinzu: »Respekt! Respekt! Respekt! Das hätt' ich nich für möglich jehalten, daß du so wohnst, wie du wohnst! Nein! Nein! Solche noblen Passionen! – Aber es jefällt mir …«
Der Diener führte die Gäste in den Empfangssalon. Adam durchmaß den riesigen Raum mit langen Schritten auf der Lang- und Breitseite, um seine Größe in Quadratmetern auszurechnen, während Werner als Wirt sich gerade nach hinten begeben hatte, wohl um in der Küche selbst noch nach dem Rechten zu sehen.
Aber diese Überprüfung hätte er sich getrost schenken können. Max, sein Kammerdiener, hatte sich wieder als Universalgenie erwiesen.
Nach einer kurzen Wartepause, während der Emil seine Eltern auf verschiedene Kostbarkeiten des im Empirestil eingerichteten Salons aufmerksam machte, schob Werner selbst von nebenan die hohen Glastüren auseinander und bat seine Gäste zu Tisch.
»Ich glaube, wir haben inzwischen wohl alle reichlich Hunger und Durst bekommen!« bemerkte Otto halblaut zur Mutter.
Adam aber hatte gerade eine Sèvresfigur aus der Vitrine in seine dicke Hand genommen und betrachtete sie affenartig von allen Seiten mit offenem Munde … Jetzt fühlte er sich von Werners Blick überrascht, stellte sie scheu zurück und schloß behutsam die Schranktür …
»Entschuldige seinen jüdischen Rheumatismus!« trat Otto für ihn ein. »Aber er kann nun einmal nichts dafür.«
Werner lachte, und man setzte sich scherzend im Nebenzimmer zu Tisch, obgleich Dr. Bein noch fehlte …
Auch für Ellen, die erst nach Bureauschluß um acht Uhr erwartet werden konnte, lag ein Kuvert auf der damastgedeckten Tafel, um die sich die Familie zwanglos gruppierte ….
Adam Uhlig nahm sich in seinem schwarzen Rock recht würdig aus, als er neben seiner im Alter noch schönen Frau Platz genommen hatte und sich etwas ungelenk von der Hummerplatte bediente.
Als könnte er kein Wässerchen trüben, mutete der alte Herr mit den im Felde erworbenen Auszeichnungen den Uneingeweihten – in diesem Falle war's der Diener Max – an!
Aber Adam fiel schon beim ersten Worte, das aus seinem Munde kam, aus der ihm zugedachten Rolle.
»So was hab' ich in meinem ganzen Leben noch nicht jegessen! Nein, was du alles für Sachen mit mir anstellst, Bollusch! Solche Lampreten sind dir auch nicht an der Wiege vorjesungen worden! Denn dein Vater war ein riesengroßer Lump!« brüllte er ganz ungeniert, ohne sich von Emils energischem »Pst!« auch nur irgendwie einschüchtern zu lassen.
Max, der hier sonst eine ganz andere Art von Menschen zu bedienen gewohnt war, lächelte schon ein über das andere Mal stillvergnügt vor sich hin.
Und als er sich in die Küche begab, um den von der Köchin inzwischen frappierten Sekt zu holen, versuchte Frau Hulda sein blamables Betragen bei Werner zu entschuldigen.
Aber der lachte nur fröhlich heraus.
»Kinder, nur keine großen Worte! Jeder spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und wir sind doch etwa um Gottes willen nicht die Sklaven des Dieners. Wenn's ihm nicht paßt, fliegt er! Basta!« beruhigte er die alte Dame …
Emil und Otto, die beide durch Werner schon reichlich die Hummergabel zu schwingen gelernt hatten, schlugen tapfer ein, und Werner selbst ließ es sich nicht nehmen, eine besonders schöne Schere für Frau Hulda mundgerecht zu zerlegen.
Nach einem guten Tropfen Malaga, der in Gläsern gereicht wurde, begann der Rheinwein in die kristallenen Kelche zu fließen. Dazu eröffnete eine riesige Speisenfolge in delikater Vollendung ihren bunten Reigen, durch den der Büffel sich leidlich in Anspruch nehmen ließ, was vorläufig wenigstens weitere Entgleisungen seiner losen Zunge verhütete.
An sein kühnes Versprechen, hier keinen Bissen essen zu wollen, dachte er wohl sicher selber nicht mehr! Endlich klingelte es im Korridor.
Das Glockenzeichen erfreute alle! Man vermißte ja noch immer in dem witzigen Dr. Bein, den als genial bekannten Tischredner, den launigen Sprühgeist …
Aber eine Überraschung trat auf …
Eine Enttäuschung, keine Entspannung!
Nicht ohne vorher auch seines Herrn Zustimmung eingeholt zu haben, ließ der Diener einen hochgewachsenen Mann in einem speckig-glänzenden blauen Anzug ein.
Ein ärgerliches »Oh!« des Unwillens scholl ihm aus aller Munde entgegen, was den ungebetenen Gast aber gar nicht im mindesten aus seiner Verfassung brachte.
»Mahlzeit allerseits! Ich wünsche selbst ebenfalls wohl zu speisen!« klang's in rheinländischer Mundart an die Ohren der Schwelgenden.
»Was ist denn das für'n herjelaufener Kerl?« brummte der Büffel grämlich und laut, was den unerschrockenen Gast ebensowenig entmutigte.
»Na, Sie sind jut! Sie kennen meines Vaters Sohn noch nicht?« gab der Ankömmling ganz im Gegensatz plump vertraulich zurück und streckte Adam eine große, vierschrötige Hand entgegen, welche der Büffel jedoch unberührt ließ.
»Aber Adam, das ist doch der bekannte Radierer, Herr Udo Stettner-Herrlich,« stellte Werner fein zwinkernd vor. »Eine der markantesten Persönlichkeiten der Berliner Kunstwelt!« ironisierte er weiter …
»So sieht er auch aus!« grunzte Adam dazu, und sein glanzloses Fischauge sah sich den Menschen von oben bis unten an.
Zunächst sah er nur Stettners abgetragenen Anzug und blonden Vollbart, der seine viel zu kleine Nase, sein sinnlich-dickes Lippenpaar und zwei blaue, ebenfalls begehrlich blitzende Augen dicht umwucherte.
»Nimm doch bitte Platz!« Es blieb Werner nichts anderes übrig, als den Fremden dazu aufzufordern. »Ich taxiere nach deiner Einführung: du hast heute noch nichts gegessen!« nötigte er ihn weiter …
»Da kannst du recht haben, mein Junge! Gegessen ham mer noch nicht! Dafür aber reichlich hinter die Binde gegossen! Aber nich, wat du dir etwa denkst! Nur meine herrliche Kefirmilch!« entgegnete Udo, dem man auf zehn Schritt den Schwindsuchtskandidaten ansah. »Aber bei dir, mein Junge, kann ja Gott sei Dank noch immer einer mitessen … Und du weißt, da bin ich ein komischer Mensch drin! Sie, Max!« machte er sich mit dem Hausgeist intim, »reichen Sie mal schnell einen Römer Rheinwein her!«
»Ein Kupferstecher als Mitmensch und Mitesser!« glossierte ihn Adam etwas überlaut, während ihm der Wein gereicht wurde.
Stettner-Herrlich wandte sich mit dem Glas zu Emil.
»Auf dein Wohl, liebster Emil! Assessor! Prost! Mensch! Sollst leben! Darauf müssen wir doch vor allen Dingen anstoßen! Mein Junge! Aber natürlich! Prost du!« klang er an Emils Römer und leerte den Kelch auf einen Zug. Dann erst schüttelte er ihm voller Kraft die Rechte auf urteutsche Biedermannsart, daß Emil vor Schmerz aufschrie, und als Schluß der Zeremonie reckte er ihm seinen schwülstigen Mund zum Kusse entgegen, was Emil aber angewidert übersah.
Ohne sich von dieser Zurückweisung seines sehr unerwarteten Angebots auch nur beirren zu lassen, nahm Stettner, dann noch immer bei Emil stehend, ein Blatt Papier aus der Brusttasche …
»Sieh her, mein Junge! Das ist für dich! Zu deinem Ehrentag habe ich dein Exlibris entworfen, eigentlich kostet das bei mir ja stets 75 Mark, du aber sollst es zum Künstlerpreise haben! Hier, sieh! Auf die Kupferplatte gestochen für lumpige 25 Mark! Das ist mein Examensgeschenk für dich! Was sagste nu?« Und er ließ die eine Themis mit Binde und Wage darstellende Skizze, darunter in altdeutscher Fraktur die Worte:
»Ex libris
Dr. jur. Emil Uhlig«
zweireihig gesetzt standen, entsetzlich stolz am Tische kursieren.
»Bei Professor Roedler kostet ein solches Exlibris in der gleich gediegenen Ausführung mindestens 500 Mark,« erklärte Werner, den Fremden weiter verulkend.
»Na, aber minimum! Also gibst du mir den Auftrag, Emil?« bohrte Stettner, immer, noch aufdringlich bei ihm stehen bleibend, weiter.
»Meinetwegen« wimmelte ihn Emil ab, und jetzt erst setzte sich der Maler beruhigt auf den für Ellen freigehaltenen Platz, um auch seinem leeren Magen etwas Arbeit zuzuführen. Denn gerade sein Magen war ein Gelegenheitsarbeiter kleinen Stils, was Max wohl wußte und würdigte. Bald ließ es sich Udo Stettner-Herrlich recht wacker munden und sprach dazu reichlich dem Champagner zu, der eben mit dem Braten serviert wurde.
»Was macht denn deine Frau Gemahlin, Udo?« nahm Werner die durch das Erscheinen des Eindringlings sehr ins Stocken geratene Unterhaltung wieder auf.
»Uuch, dank auch der gütigen Nachfrage! Ich hab' meinen Schatz schon 'ne ganze Woche nicht gesehen! Wir haben da neulich im Café 'ne nette Bekanntschaft gemacht, eine riesig liebe Zahnärztin! Ja – wie heißt sie doch gleich? – Richtig, Fräulein Löhlinger! Und die hat Käthen sofort sehr, sehr lieb gewonnen! Nahm sie einfach mit nach Haus. Und da wohnt sie nun seit acht Tagen! Und hilft ihr bei der Praxis, denn sie hat 'ne große Praxis! Da brauch' ich wenigstens nich fürs Essen zu sorgen! Denn für mich reicht's doch vollständig, wenn ich mir alle zwei bis drei Tage mal was Warmes in den Leib schlage … außer meiner Kefirmilch natürlich! – Ne, da bin ich ein komischer Mensch drin!« erzählte Udo, daß Adam große Augen machte.
»Sie sind ein Unikum!« staunte er in seinem tiefsten Baß heraus. »Sie müssen selber gemalt werden! Mit ihrem Fußsack unterm Kinn und einem Glas Kefirmilch vorm Maul!«
»Nee, das wollte ich gerade von Ihnen sagen, Herr Uhlig!« erwiderte der Maler. »Wissen Sie, Ihr interessanter Kopf ist mir überhaupt schon so oft im Café Größenwahn aufgefallen! Ihr wundervolles, so lebendiges Auge reizte mich jedesmal, wenn ich Sie sah –.«
»Dabei geh' ich seit Jahren in kein Café,« schüttelte sich Adam vor Lachen. »Ich hab' doch kein –«
»Prost!« rief Otto schnell und laut, um den Vater nicht ausreden zu lassen. Denn er schämte sich seiner Armut …
»Prost!« fiel Stettner-Herrlich ein und erhob sich schon etwas angeschwipst. »Der neue Assessor soll leben! Und der Assessor-Vater daneben! Mensch, Sie mal' ich doch bei nächster Gelegenheit! Ob Sie wollen oder nicht! Sie müssen zu mir rauf kommen. In mein Atelier, Pariser Straße 93, vier Treppen links. Da wer'n Sie Augen machen! Da wer'n Sie stolz sein, von mir überhaupt gemalt zu wer'n.«
Jetzt stand er dicht neben Adam, stieß mit ihm an, und ehe der sich's versehen hatte, war er von dem Maler umarmt worden und hatte seinen Kuß weg.
»Seht bloß mal die beiden bärtigen Knaben!" wieherte Adams Jüngster hell heraus …
Und alle standen lachend auf und ließen weinfroh die Becher zusammenklingen.
»Die bärtigen Knaben, Hurra, Hurra, Hurra!« rief nun auch Emil, den des Bruders treffendes Bild in beste Laune versetzte.
Stettner lachte am tollsten ob des gelungenen Scherzes.
Adam aber war so perplex über die ihm widerfahrene Umarmung, daß er zuerst wie zur Salzsäule erstarrt blieb. Dann jedoch, als er alle anderen ihn verlachen sah, faßte ihn eine namenlose Wut.
Erst spuckte er dem noch immer auf ihn einredenden Stettner kräftig ins Gesicht und versetzte ihm darauf eine schallende Ohrfeige.
»So, jetzt lassen Sie sich malen, in Essig und Öl! Mit Ihrem Fußsack unterm Kinn!«
Frau Hulda, die angstvoll für eine Schlägerei zwischen den beiden Männern fürchtete, wurde jedoch von Stettners Temperament angenehm enttäuscht … Denn abgebrüht ergriff er ein volles Sektglas, stieß damit an Adams Kelch und nickte ihm zu:
»Prost, Herr Uhlig! Wir wollen uns wieder vertragen! Ernst ist das Leben! Wir Künstler sind heiter, und ich ganz besonders! Nee, da bin ich ein komischer Mensch drin, wissen Sie! Und malen tu ich Sie doch! Ich bringe Sie schon noch zur Strecke! Wetten, daß –?«
»Malen Sie des Teufels Großmutter!« blieb der Büffel abweisend barsch, indem er Stettner den Rücken zudrehte.
»Uuch, Sie meinen ihre Frau Gemahlin!« griff Stettner sofort einen neuen Gedanken auf … »Na, und ob! Die mal' ich auch! Wissen Sie, gnädige Frau, Sie sehen aus wie eine Generalin! Aber faktisch! Dieser hohe Wuchs! Dies herrlich silbergraue Haar. Die immer noch schlanke Figur! Faktisch – ganz Exzellenz! Wann darf ich Sie bei mir erwarten?« Und mit einer galanten Tanzstundenverbeugung pürschte er sich an Frau Hulda heran.
»Wir haben für solchen Unsinn kein Geld, mein Herr,« ließ sie ihn glatt abfallen.
»Ach – das ist ganz egal, macht fast gar nichts! Sie brauchen ja das Bild nicht zu erwerben. Nee, da bin ich ein komischer Mensch drin. Wir Künstler sind viel zu sehr Idealisten! Überhaupt gar wir vom Rhein! Also topp, eingeschlagen, ich male Sie!« hielt er ihr seine plumpe Hand hin …
Jetzt faßte ihn Werner sanft am Arme und zog ihn an seinen Stuhl, auf den er ihn mit etwas Nachdruck niederzwang.
»Udo –, dein Wein wird dir kalt! Prosit!«
»Uuch, prost, mein Junge! Du bist doch der Beste! Prost, mein Junge! Wir verstehen uns!« Udo stürzte ein neues Glas Sekt in die durstige Gurgel und machte Miene, auch Werner mit seiner Kußsucht zu übermannen. Aber der hatte sich beizeiten, nichts Gutes ahnend, schon in Sicherheit gebracht …
Die Stimmung wuchs und hatte fast ihren Höhepunkt erreicht, als auch Dr. Bein gegen 6 Uhr ankam.
Die Herren rauchten schon gemütlich ihren Tobak, und selbst Frau Hulda hatte der Übermut der Festesfreude zu einer Zigarette verleitet, mit der sie sich jedoch, des Rauchens unkundig, nur schwer anfreundete –.
Assessor Fritz Bein hatte sich korrekt in den Frack geworfen, um der festlichen Ursache gebührend Rechnung zu tragen …
Breitbeinig – wie er seine ungeschlachten Füße zu setzen pflegte – überfiel ihn Udo Stettner mit einem deutschen Zutrunk und nahm in vorerst ganz in Anspruch.
Der Büffel indessen saß, eine echte Importe schmauchend, in sich gekehrt am Tisch. Er wurde jetzt durch den ungewohnten Alkoholgenuß ganz tiefsinnig … Mit sich selbst schmollte und haderte er, weil sein hartes Schicksal ihn zwang, das erste Fest seines Erstgeborenen im Hause eines anderen feiern zu lassen.
»Ja, das liebe Jeld, dies verfluchte Jeld!« dachte er laut und drehte sich zur Gattin, die voll stiller Freude diese glückliche Stunde genoß und mit Mutterstolz ihre beiden Jungen anblickte.
Emil und Otto kannten weder Kummer noch Sorgen. Sie waren von jeher gewohnt, nur flott in den Tag hineinzuleben und die Stipendien reicher Gönner, die Adam stets mit der Spürnase eines Trüffelschweins auftrieb und ihnen immer zuzuwenden verstanden hatte, in lustigem Lebensgenuß aufzunaschen.
Einer hatte ihnen immer noch geholfen! Darum machten sie sich auch keinerlei Zukunftsgedanken. Es würde schon wieder Rat geschafft werden.
Und auch heute huldigten sie beide diesem unverwüstlichem »carpe diem«.
Allein Werner, der auf festem Boden sicher und stark durch das Leben schritt, hatte sich schon einen ganz vernünftigen Plan für Emils nächste Lebensform ausgedacht.
Aber erst Assessor Bein war es, der sich gleich neben Emil gesetzt hatte und, praktisch veranlagt, das Gespräch sofort auf Emils Zukunftsfragen brachte.
»Der Emil wird selbstverständlich Rechtsanwalt,« antwortete Frau Hulda hart schnarrend für ihren Sohn, der dasaß, als ginge ihn die ganze Geschichte gar nichts an. »Und dann soll er heiraten!«
»Das ist nicht so einfach! Das möchten viele! Aber nicht jedem gelingt das so auf Anhieb!« sagte Dr. Bein bedenklich und legte seine kluge Stirn in Falten …
»Emil wird's aber schon gelingen!« gab ihm Frau Hulda schnippisch zurück.
»Ich wage zu zweifeln! Und wo Emil dazu noch getauft ist!« meinte der Assessor listig lächelnd.
»Ach, kommen Sie mir nicht mit solchen Rückständigkeiten! Das ist heutzutage kein Hindernis mehr. Im Gegenteil, das ist sogar modern. Fortschrittlich! Mein Sohn ist ganz in christlichen Anschauungen aufgewachsen! – Und übrigens wird er dadurch auch eher Notar!« reizte ihn Emils Mutter weinerfüllt, ihre Armut völlig vergessend, weiter.
»Mindestens zehn Jahre früher! Und fünf Jahre früher Justizrat!« sekundierte ihr der Büffel tonlos, ohne dabei jemanden anzusehen.
»Entschuldigen Sie vor weiterem eine Frage. Haben Sie oder hat Emil schon darüber nachgedacht, mit welchen Kosten die Niederlassung eines jungen Anwalts in Berlin verknüpft ist?« glaubte Bein widersprechen zu sollen.
»Na, vorläufig bin ich doch auch noch auf der Welt!« mischte sich Werner hier ein, um die peinliche Debatte sich nicht weiter zuspitzen zu lassen.
»Die Hauptsache ist, daß er 'n Exlibris hat!" behauptete Udo Stettner-Herrlich, der sich in einen Klubsessel geworfen hatte und in seinem Skizzenbuch, das er stets in der ausgeweiteten Brusttasche mit sich führte, zu zeichnen begann.
»Ungeladene Gäste fallen untern Tisch,« tat ihn Adam grob ab und wandte sich kurzatmig an Werner.
»Du, mach' bitte mal 'n Punkt, Bollusch! Mir graut vor dem Saldovortrag in deiner Agenda! Wir nehmen prinzipiell von dir keine Almosen mehr an! Du kannst dich auch beruhigen. – Ich habe als Vater bereits vor Wochen die erforderlichen Schritte zu Emils Niederlassung getan. – Chananje will ihm bereitwillig ein Zimmer von seiner Wohnung in der Potsdamer Straße abjeben! Der alte Esel zieht sich sowieso schon langsam von der Praxis zurück … Da kann er doch ruhig für den Anfang mit fürlieb nehmen! Hab' ich recht?«
»Wer ist Chananje?" fragte Bein interessiert …
Emil lachte und sprach endlich wieder ein Wort.
»Chananje ist der Spitzname des Justizrats Martin Moses, den meine Eltern früher als Studenten von Karrewo aus häufig unterstützt haben, und der später hier alle Prozesse des Büffels geführt hat,« klärte er den Kollegen auf.
»Verloren hat er sie! Das Schafsjesicht!« grunzte Adam.
Über Fritz Beins Züge glänzte plötzlich ein Schmunzeln des Verstehens.
»Ach so! Nun weiß ich, wer gemeint ist! Der stumme Moses,« lächelte er. »Der nie einen Ton zuviel redet. Ich habe ihn oft als Referendar vorm Landgericht plädieren hören. – Nee, plädieren sehen,« verbesserte er sich. »Das war immer riesig komisch. Denn es dauerte stets 'ne gute halbe Stunde, bevor er den einfachsten Antrag rausgedroxt hatte. Aber der hat 'ne glänzende Praxis! Ist ein reicher Hebräer geworden!«
»Ich sag's ja, von Chananje kann er nur Gutes haben. Wenn er's versteht, sich an ihn ranzuschlängeln, wird er ihm schon die Mandanten wegfangen! Er hat sich ja früher auch lange genug bei mir durchjefressen! Wochenlang hat er in Karrewo bei uns jenassauert! Aber der Esel, den ich da in die Welt jesetzt habe, ist doch ein Peipe,« fiel Adam erst wuchtig, dann langsam im Stimmfall verzagter werdend, ein.
»Sie streben also eine Bureaugemeinschaft an?« belehrte ihn Dr. Bein. Aber Uhlig verstand ihn nicht.
»I Gott bewahre! – Jeder für sich, Gott für uns alle! Werner wird durch seine großen Beziehungen Peipen schon jenügend Mandanten zuweisen. Die Hauptsache ist, daß er die Prozesse gut durchführt – ich meine, daß er sie jewinnt … Dann jeht's schon von selber weiter,« widersprach der Büffel asthmatisch grunzend.
»Stellen Sie sich das aber nicht so einfach vor,« war Beins skeptische Antwort.
»Kinder, ich bin gegen dieses Aftermietsprojekt. Das sind doch halbe Sachen – ohne Hand und Fuß!« warnte, mit dem Finger drohend, Werner. Aber Adam wollte den einmal gefaßten Gedanken nicht wieder aufgeben und verteidigte ihn mit zäher Energie weiter, so daß Werner einsehen mußte, daß er tauben Ohren predigen würde, wenn er sich noch mit der Angelegenheit befaßte.
»Chananje muß ran! Chananje muß ran!« schrie Bollusch der Ältere in gehobener Sektlaune und schob schließlich, diese drei Worte nach einer Possenmelodie vor sich hinsummend, von Zimmer zu Zimmer.
Plötzlich kam er direkt zu Werner. Bezecht hub er an: »Bollusch, du wolltest mir doch eine Stellung besorgen! Bei deiner Bank! Was es ist, ist mir vollkommen gleich! Meinetwejen als Kassenbote! Ich kann dieses Faulenzen nicht mehr ertragen. Ich sehne mich nach einer jeregelten Tätigkeit! Bollusch, erbarm' dich! Schaff' mir 'ne Stelle! Ich halt' den Müßiggang auf die Dauer nicht mehr aus!« Seinen trunkenen Augen entrollten dabei ein paar Krokodilstränen …
Werner konnte keinen Menschen weinen sehen! Er begütigte Adam in seinem Gefühlsausbruch.
»Na, nimm dich doch zusammen, Bollusch. So ein alter Knabe und – weinen! Du warst doch siebzig mit gegen Frankreich! Reiß dich zusammen, Mensch! Wegen der Anstellung habe ich mich bereits bemüht. Es ist mir gar nicht leicht gefallen! Aber ich schaffe es schon! Bei unserer Bank kann ich leider nicht dienlich sein! Wir haben jedoch vor zwanzig Jahren eine Tochtergesellschaft ins Leben gerufen, die sich mit der Versicherung von Gütern gegen Hagel und Brandschaden beschäftigt; es ist die Primus-Aktiengesellschaft.«
»Bei der Jesellschaft hatte ich Karrewo auch versichert,« heulte der Büffel weiter.
»Also bei dieser Gesellschaft wird der Posten eines Inspektors frei, der auf den Gütern die entstandenen Schäden nach Unwettern oder Bränden zu taxieren hat. Und den hoffe ich dir verschaffen zu können …«
»Ach, Bollusch, das wäre ja jroßartig!« jubelte Adam unter Tränen hervor. »Dann bin ich ja jeborgen. Bei solchen Besitzern wird immer fein jelebt. Und dazu die Spesensätze. Ach, Bollusch, du weißt ja gar nicht, wie dankbar ich dir wäre –,« jammerte er weiter und erniedrigte sich soweit, seinen Kopf auf Werners Hand niederzubeugen, die ihm aber blitzschnell entzogen wurde.
»Aber Bollusch, nu' reiß dich zusammen! Du willst doch ein Kriegsheld sein?« brachte ihn Werner zur Vernunft.
»Wir Uhligs sind Adel! Die halten zusammen! Einer unterstützt den andern, wo er kann!« raffte sich Adam schließlich auf und ging zu Emil, der im Halbschlaf vor sich hindöste. Ihn interessierte ja auch die Frage seiner Niederlassung nicht im geringsten.
Er ärgerte sich jetzt nur darüber, nicht lieber Gymnasiallehrer für die alten Sprachen geworden zu sein. Hefte korrigieren und Horazoden mit den Jungens zu lesen, hätte seinem Spieltrieb sicher viel mehr Spaß gemacht …
Fritz Bein hatte inzwischen sein Diner nachexerziert und war gerade dabei, sich von Frau Hulda eine Kaiserbirne schälen zu lassen, als Stettner-Herrlich seinen seitwärts stehenden Klubsessel verließ und sich ihm mit Emphase näherte.
»Herr Doktor, nichts für ungut! Ich hatte da einen guten Gedanken!«
»Ach, das hätte ich gar nicht für möglich gehalten!« hänselte ihn der Assessor.
»Nee – erlauben Sie mal bitte! Sie haben doch sicher eine große Bücherei! Bei Ihrem umfassenden Wissen! Ihrer steten Schlagfertigkeit nach zu schließen!«
»Das will ich meinen, Herr – Professor!«
»Kommt auch noch!« verneigte sich der Maler geschmeichelt. »Was nicht ist, kann immer noch werden! Ich habe sogar begründete Hoffnung … Aber darüber spricht man nicht gern! Lassen Sie uns auch nicht vom Thema abschweifen … Gute Bücher sind unsere besten Freunde! Nicht wahr? Herr Doktor? Da bin ich entschieden im Recht?«
»Gans entschieden,« bestätigte Fritz vergnügt und nahm Frau Hulda dankend die Birne ab.
»Tjawoll! Das mein' ich auch! Denn da bin ich ein komischer Mensch drin! Und sehen Sie mal, Herr Doktor, da hab' ich mir erlaubt, ihnen hier ein recht stilvolles Exlibris zu entwerfen! Ganz individuell, Ihrer genialen Persönlichkeit angepaßt! Hier unten eine Leyer, aus der Rosen hervorblühen. Und oben drüber als Zeichen Ihres eigentlichen Berufes die Göttin der Rechtslehre! Nett, was? Kostet für Sie ganze 25 Emmchen … Bei Professor Roedler zahlen Sie sicher gut und gerne Ihre 5-600 Mark dafür!« Stettner hielt ihm mit der einen Hand das rasch aus dem Skizzenbuche gerissene Blatt hin, während die andere ganz stolz durch den wallenden Bart fuhr.
Fritz Bein sah ihn durch die runden Kneifergläser mitleidig von oben bis unten an. Dann verzehrte er ganz ruhig das letzte Viertel der ihm trefflich mundenden Birne und sagte maliziös: »Sie unterschätzen mich, Herr Professor! Ich besitze bereits drei Exlibris! Darunter sogar ein sehr schönes von Heinrich Roedler, dessen Namen Sie vorhin nannten. Der hat's mir sogar geschonken! Was sagen Sie dazu?«
»Da kann ich nur gratulieren,« erwiderte Stettner vollkommen verkniffen.
»Ihr Entwurf ist übrigens total verzeichnet,« legte Bein das Blatt beiseite. »Sie verübeln es mir also nicht, wenn ich Ihre etwas gewagte Geschäftsführung ohne Auftrag – so würde der Jurist ihre Tätigkeit bezeichnen – undankbar zurückweise –«
»Dem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul,« wollte Stettner nun grob werden. »Denn für 25 Emmchen ist es geschenkt.«
»Aber lassen Sie mich doch ausreden! Natürlich will ich mir gestatten, Ihnen für ihre vergebliche Mühewaltung einen harten Taler Reugeld zu verehren! Sie haben also keine Ursache, sich unnötig aufzuregen!«
»Tausend Dank, lieber Freund!« hatte ihn Stettner schon unterbrochen. »Darf ich Ihnen das traute ›Du‹ anbieten?« hob er ihm darauf das Sektglas entgegen.
»Nee, danke! Sie sind wohl nicht von hier?« gab Dr. Bein beleidigt zurück …
»Vom Rheine bin ich! Vom stolzen Rhein!« warf sich – ohne Beins Absicht zu merken – Stettner in die Brust.
»Dann möchte ich Ihnen einen Rat geben. Bei all ihren Werken, soweit sie hier bei Werner Uhlig hängen, habe ich eine Wahrnehmung gemacht; Sie können nichts, aber auch nichts innerlich aus sich heraus erzeugen! Sie würden einen trefflichen Kopisten abgeben! Denn Sie sind fleißig und können nachschaffen! Aber hinter allen Ihren eigenen Sachen steckt kein Kopf und kein Herz. Das künstlerische Motiv fehlt! Und vor allem fehlen Ihnen die Einfälle. Wie wäre es, wenn Sie sich als Don Quichote kostümierten und von ihrem Spiegelbilde ein Selbstporträt abklaschten … Ich sage Ihnen, Sie sind der geborene Ritter von der traurigen Gestalt! Im Hintergrunde könnten Sie auf den Flügeln der Windmühlen die einzelnen Motive Ihrer Exlibris-Entwürfe verwenden. – Na, wie bin ich?« schloß Bein seine Tirade …
»Diese Idee ist großartig! Ich will sie mir auch durch den Kopf gehen lassen, Herr Doktor! Aber inzwischen wollen wir nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß Sie mir vorhin so 'n kalten Monarchen in die Hand drücken wollten! Bar Geld lacht! Da bin ich nämlich ein komischer Mensch drin!« antwortete Stettner, ohne Dr. Beins feine Ironie auch nur zu empfinden.
»Bitte sehr, Herr Professor!« langte der mit spitzen Fingern aus der Westentasche ein Dreimarkstück, um es dem Maler zu reichen, der es schnell in der seinigen verschwinden ließ.
»Vielen Dank auch, Herr Doktor! Der reißt gerade die letzte Gasrechnung heraus! Ihre Idee von vorhin gibt mir wirklich zu denken, fällt bei mir auf fruchtbaren Boden! Ganz gewiß ein gescheiter Vorwurf zu einem großen Gemälde! Aber erst muß ich noch ein anderes großes Werk, das längst meiner harrt, vollenden … Wenn Sie mir ihr Ehrenwort geben, es niemandem zu verraten –«
»Ich gebe nie mein Ehrenwort –«
»Also muß ich es Ihnen ohne dieses sagen! Denn da bin ich nämlich ein komischer Mensch drin, müssen Sie wissen. –«
»Gegen meine Verschwiegenheit ist ein Grab ein Kaffeeklatsch!«
»So hören Sie: Graf Mosch-Puchstein, für den ich vor etwa drei Jahren die Speisekarte zum Jagdessen radierte, als der Kaiser bei ihm auf Puchstein zur Pirsch weilte, hat es durchgesetzt, daß S. M. mir sitzen wird … Was sagen Sie dazu? Ich radiere den deutschen Kaiser! Das ist 'ne Sache! Was?«
»Ich gratuliere, Herr Professor, kann ich da nur immer wieder sagen. Vielleicht wird's aber auch nur der Kronenorden vierter Güte! Man kann ja nie wissen!« stichelte Bein und trank einen Schluck Sekt.
»Ausgeschlossen! Den hätte ich vor zehn Jahren haben können! Hab' ihn aber zurückgewiesen!«
»Welcher Männerstolz vor Fürstenthronen! Herr Udo Stettner fängt an, mir interessant zu werden. Bravo, Meister!«
»Sie müssen nämlich wissen, daß sämtliche Fenster im Berliner Dom mein eigenstes Werk sind! Die ganze Glasmalerei im Dom ist von meinem Vater und mir ausgeführt. Nach meinen Entwürfen! Tja! Dabei ham wir uns vollständig verkalkuliert und den ausgeworfenen Etat um das Doppelte überschritten. Jawoll! Bei der Sache ham wir unser ganzes Vermögen eingebüßt. Und als die Regierung einspringen sollte, wollte sie das Loch mit dem Kronenorden zustoppen … Dazu noch zweimal zweiter! Den jeder Lokomotivführer kriegt, wenn er seine fünfundzwanzig Jährchen abgerissen hat –!« blähte sich Stettner auf.
»Zweimal zwei macht vier nach Adam Riese!« unterbrach ihn Dr. Bein sarkastisch. »Ich hätt'n genommen! An Ihrer Stelle!«
»Nich in die Lamäng! Und denken Sie bloß, Herr Doktor! Meinen armen Vater hat vor Wut der Schlag gerührt!« beteuerte der Maler tief atmend weiter, während seine Rechte durch seinen Vollbart fuhr.
»Ich glaube, Udo, du warst in deinem ganzen Lasterleben überhaupt noch nie im Dom drin!« stichelte Werner jetzt, um das heitere Zwischenspiel zu verlängern.
»Aber Mensch! Scherz beiseite! Ich war wirklichen Gott oft genug drin. Da kannst dich ja nach erkundigen, wenn du mir's nicht glauben willst! Nee, da bin ich ein komischer Mensch drin!« ereiferte sich Udo Stettner im vollen Brustton der innersten Überzeugung.
Inzwischen war es neun Uhr geworden, als der Diener die telephonische Meldung brachte, Fräulein Ellen Uhlig fühle sich zu übermüdet, um abends noch in Gesellschaft erscheinen zu können. So entschlossen sich die beiden alten Herrschaften zum Aufbruch …
Maxens Mitteilung, daß Ellen nicht mehr kommen würde, löste bei Udo Stettner-Herrlich eine gewisse Erleichterung aus, ohne daß er über diesen inneren Vorgang ein lautes Wort verlor.
Sein wechselndes Mienenspiel aber fiel im ganzen Kreise schon deshalb wenig auf, weil Vater Adam gleichzeitig mit zähem Willen seine Ehehälfte auf die Diele herausschubste.
»Nu geh' schon endlich, Hulda! Oder bist du vielleicht festgewachsen?« nötigte er sie dabei, so kleinlaut es sein Baß zuließ. Aber auch alle anderen hatten seine Worte gehört, und im wirren Gelächter schritt Werner zur Tür, um draußen das Licht einzuschalten.
Dieser Entschluß brachte auch endlich in Emil etwas Leben … Von jeher gingen ihm »Familiensimpeleien« sehr gegen den Strich. Und gerade für seine Eltern hatte er am wenigsten übrig.
Er zog Werner deshalb auf der Diele im geeigneten Augenblick etwas zur Seite.
»Gott sei Dank, daß du nun endlich Schluß machst! Ich habe Lene zum Dicken bestellt. Da sitzt sie schon seit drei Stunden im Palastcafé und wartet auf uns!« raunte er in des Vetters Ohr und setzte noch leiser hinzu: »Ist denn dieser ekelhafte Stettner-Herrlich nicht loszuwerden?«
»Ausgeschlossen! Das bringen keine zehn Gäule fertig! Du siehst, ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, ihn wegzuekeln! Aber die Klette klebt!« lachte Werner.
»Daß du immer solche Schlammpeitzker um dich duldest! Das sind doch nur Schmarotzer der Menschheit!« wurde Emil auf einmal ganz dringend.
»Lieber Sohn, ich bitte dich – unser Junggesellenleben gleicht fast einer Pfütze … Einem großen Tümpel voll Dreck und Schlamm. Und wer auf seiner Straße durchs Dasein auch restlos alles auskosten will, darf weder den Sinn für das Gemeine verlieren, noch für die Gemeinheit! Ich will und wünsche das schillernde Leben kennen zu lernen mit allem Großen und Schönen, mit allem Niedrigen und Häßlichen!« gab Werner ruhig zurück, während auf der Diele der Diener Max die Eltern sich zum Fortgehen rüsten half.
»Ich mache dir einen Vorschlag: Ich fahre schnell ins Palastcafé vor. Denn meine arme Lene tut mir leid! Und ihr beide kommt etwas später nach,« sagte Emil, indem er sich das Einglas ins Auge klemmte.
»Abgemacht! Zwar muß ich nochmals ins Bureau. Auf Wiedersehen in 'ner Stunde!« schlug Werner ein, damit Emil sich schnell englisch über die Hintertreppe drückte … Mit den auch sonst üblichen Dankesworten stob seine Tafelrunde auseinander.
Studiosus Otto begleitete seine Eltern sehr unwillig gen Moabit. Er hatte – wie immer – zum Bummeln kein Geld.
Fritz Bein begab sich gähnend nach Haus und beklagte im stillen einen verlorenen Abend.
Nur Udo Stettner-Herrlich wollte – wie er unaufgefordert sagte – noch »ein wenig plaudernd bei Werner verweilen«.