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Eifrig ließ Udo Stettner-Herrlich einen abgenutzten Lederhobel über die breiten, kurzgestutzten Nägel seiner starken, mit Farbflecken bedeckten Malerfinger gleiten.
Und bei dem häufigen Hin und Her stieß sich der Hobel mit dem geschmacklosen breiten Nickelreifen an Udos linkem Mittelfinger, den ein grausig-gräßlicher Totenkopf zusammenschloß.
Doch Udo blieb heute unermüdlich und rieb ruhig weiter, bis alle zehn Fingerspitzen blitzblank geworden waren.
Diese Putzprodezur vollzog er sonst nur einmal wöchentlich, denn er fühlte als Moderner und ging auch gern mit der Zeit mit. Das nannte er »Fortschreiten«. Ja, da war er eben ein komischer Mensch drin …
Für den heutigen Abend hatte Udo einige Gäste in sein Atelier geladen, selbstverständlich mit der ganz natürlichen Abrede, daß jeder Gast etwas an Speise und Trank mitzubringen verpflichtet sei …
Er selbst steuerte zur Bewirtung lediglich die Räumlichkeit seiner Künstlerklause bei, was er allen Banausen gegenüber schon als Gastmahl an sich empfand …
Kurz zuvor hatte er noch die erste Sitzung mit einer eleganten Halbweltdame beendet, von deren Liebhaber, einer flüchtigen Kaffeebekanntschaft, ihm gleich zwei Aufträge erteilt worden waren: eine Rötelzeichnung, gewissermaßen als Vorstudie für die zweite und Hauptaufgabe, das Gemälde in Pastell.
Vergnüglich berechnete er eben bei sich den ihm bald winkenden Goldregen. Da er wie ein Handelsmann feste Preise für jede seiner Leistungen angesetzt hatte, auf deren strikte Einhaltung er mit enormer Geschäftstüchtigkeit hielt, addierte er schmunzelnd: »Ein Pastell zu zweihundert Mark, eine Stiftzeichnung nach dem Leben zu fünfundsiebzig Mark, macht zusammen zweihundertfünfundsiebzig Mark!«
»Fein! Ich wollt' – ich hätt' se schon in der Tasch'!« dachte er laut. »Vielleicht dreh' ich ihr noch ein Exlibris an, und die drei blauen Lappen sind komplett. 'ne hübsche ruhige runde Sache!« jubelte er und nahm Staubtuch nebst Federwedel zur Band, um seine wenigen Korbmöbel und die vielen Bilderrahmen an den Wänden schnell oberflächlich abzustauben. Mit einem kritisch-prüfenden Blick über sein Heim legte er erst noch den schäbigen Nagelhobel auf den in einer Ecke des hellen Raumes angebrachten Wasch- und Spültisch zurück.
Dann musterte er nochmals sein kleines Reich.
Das geräumige Dachzimmer erhielt sein helles Tageslicht aus drei großen, bleigefaßten Glasfenstern, die in das schräg herabfallende Schieferdach eingelassen waren.
Blauer Drillichstoff an Zugschnur und Ringen zur Verteilung und Einstellung des Lichtscheins auf einen bestimmten Platz des Zimmers war von Udos werktätiger Hand persönlich an runden Eisenstangen angebracht worden. Denn bei der Regulierung von Licht und Schatten nach seinen Wünschen fühlte sich Stettner als kleiner Zeus. In der Mitte des Ateliers stand auf einem kleinen Podium ein drehbarer Stuhl, auf dem allemal das Opfer Platz zu nehmen hatte. Davor befand sich seine Staffelei mit der Leinwand oder Pappe, mit Palette, Pinseln und Stiftbund für sein fabrikmäßiges Handwerk, das mit Kunst aber ganz und gar nichts zu tun hatte.
Udo gähnte gelangweilt, griff nach seiner schwarzen Stahluhr und stellte knurrenden Magens fest, daß es Mittagszeit war. Da er jedoch nichts zu essen im Hause hatte – er wartete mit der Tagesmahlzeit heute auf das Gute, was am Abend die Freunde sicher mitbringen würden –, goß er aus einem braunen Tontopf etwas Milch in ein ungespültes Bierglas, um Hunger und Durst auf einen Schluck zu stillen.
Während er die im Bart hängengebliebenen Milchtropfen mit lüsterner Zunge fortschleckte, begann er, wie so oft schon, sein Dasein zu durchdenken.
Alle tausend Fußtritte, die ihm das Leben von frühauf erteilt hatte, fühlte er von neuem, und in rückblickender Einkehr rubrizierte er auch all jene Almosen dazu, die man ihm ab und zu in die immer offene Hand warf.
Aber er besaß nicht die Kraft, sich aufzuraffen, sich zu irgendeiner neuen, anders gearteten Tätigkeit zu ermannen, die ihn hätte ernähren können …
Ein elender moralischer Katzenjammer rüttelte und schüttelte ihn, so daß er fast in Tränen ausbrach. Schnell aber verscheuchte er die trübselige Stimmung; eine ebenso ohnmächtige wie sinnlose Wut auf die Welt packte ihn, die er jedoch alsbald unter Alkohol setzte.
Halbvoll goß er seine Bierkuffe, in der als Bodensatz noch ein ziemlicher Milchrest stand, mit reinem Sprit, den er in drei Zügen der Kefirmilch nachschüttete.
In eitler Beschränktheit fühlte er nicht, daß ihm jener göttliche Funken fehlte, der einzig und allein die wahre Künstlerschaft der echten Schöpfernatur zutage treten läßt.
Er dachte nur immer wieder an seine fruchtlosen Versuche, sich alljährlich von neuem mit seinen schablonenhaften Bildern oder Radierungen, die die unerbittliche Jury genau so prompt zurückgewiesen hatte, einen Platz in der »Großen Berliner« zu erstreiten.
Ein unheimlicher Haß gegen diese »Kitscher«, die nichts »verstanden« oder aber jedenfalls nur sein »Genie unterdrücken« wollten, hatte sich in ihm aufgespeichert, und die Wirkung des auf leeren Magen genossenen Fusels trug noch dazu bei, alle glimmende Glut der Nächstenverachtung hoch auflodern zu lassen.
Auch die gewundenen schlüpfrigen Umwege, die er nur zu gern beschritten hatte, um durch dunkle Schiebungen einflußreicher Bekannter, die er stets suchte und mit seinem Instinkt herausfand, um sie unter Hinweis auf seine Armut, durch hohle Schmeicheleien auf ihr Gönnertum für seine Kniffe zu ködern, wurden wieder lebendig. Immer waren geheime Widerstände aufgetaucht, die sein hinterhältiges Streben zur Sonne im letzten Moment durchkreuzt hatten!
Allen Widersachern zum Trotz war ihm endlich nichts Besseres übrig geblieben, als: als »Eigener« seine Straße zu gehen.
Das nannte er »sich auf sich selbst besinnen«.
Da aber auch dieser steile Weg sich für ihn wenig gangbar erwies, blieb der ersehnte Erfolg eben aus, wenn auch sein ungebrochener Wille zur Arbeit ihm von Gelegenheitsgönnern aus Mitleid und Menschlichkeit karge Brosamen einbrachte.
Während er stier vor sich hinstarrte, ohne noch etwas Rechtes beginnen zu können, klingelte es schrill auf dem kleinen Vorflur.
›Nanu‹, dachte Udo, sich erhebend, ›das wird doch wohl nicht meine liebe Frau sein? Die kann ich heute wenig oder gar nicht brauchen.‹ Damit schritt er aus dem Atelier und öffnete draußen die Tür zum Treppenhause.
Betroffen fuhr er an dem offenen Ausgang wieder zurück.
Ellen Uhlig stand vor ihm, Ellen Uhlig, die er vor kurzem – ohne sie jemals vorher persönlich kennen gelernt zu haben – im Tiergarten einfach frech angesprochen hatte, weil ihn der Blick ihrer grauen Augen für ein Gemälde reizte, das er für nächstes Jahr zum wirklich letzten Vorstoß für die »Große Berliner« vorbereiten wollte.
Das Bild sollte die ersten Menschen darstellen, und für die Eva brauchte er diesen stechend-begehrlichen Blick.
Als die unbekannte Dame ihm schon nach kurzer Unterhaltung ohne jede Ziererei einen Atelierbesuch zugesagt hatte, war er nicht wenig verblüfft worden, gegen Hingabe seiner feingestochenen Kupferdruckkarte, die sein Plattenlieferant ihm gratis gedruckt hatte, mit ihrem Namen auch zu erfahren, daß sie die Schwester von Emil Uhlig sei. Und nun war sie sogar, ohne einen Schatten von Scheu, zu ihm gekommen.
Schnell gefaßt, streckte er ihr seine vierschrötige Band entgegen.
»Ah, gnädiges Fräulein, das ist ja überraschend nett! Treten Sie bitte nur ein und legen Sie etwas ab.«
»Ach, danke, Herr Stettner,« wehrte sich Ellen, folgte ihm aber forschen Trittes durch den Korridor ins Atelier.
»Ganz wie Sie befehlen!« dienerte Stettner tanzstundenhaft.
»Hier also hausen Sie in Ihrer Künstlerklause? Solo – allein?« eröffnete sie ziemlich unbefangen ein scherzendes Geplänkel, während sie – ohne Hut und Jacke abgelegt zu haben – sich auf der Ferse umdrehte und kurz entschlossen auf dem Diwan niederließ.
»Solo – allein,« gab Udo galant zurück, »aber lieber bin ich schon zu zweien. Und da mich meine bitterböse Frau seit drei wonnigen Wochen zum trostlosen Strohwitwer gemacht hat, sorge ich halt ab und zu für etwas Schatzersatz.«
»Na – na!« wies ihn Ellen unwillig in seine Grenzen, zog aber trotzdem den Handschuh der rechten Hand aus.
»Das sind so meine Junggesellenscherze,« beschwichtigte Stettner sie schlagfertig. »Damit sollen Sie ja auch gar nicht gemeint sein, – ganz im Gegenteil, meine Gnädigste. Ganz im Gegenteil! Da bin ich ein komischer Mensch drin: Im Behandeln der Damenwelt … Sie rechne ich unter meine feudalste Klientele. Sie werden von mir gemalt … Ich darf doch, nicht wahr?«
»Ich bin doch kein Modell, mein Herr.« Ellen fuhr sich pikant mit dem kleinen Finger an den lächelnden Mundwinkel.
»I bewahre, aber nein! Dafür habe ich doch wohl Blick genug, gnädiges Fräulein. Unsereins, der täglich – ja stündlich Menschen die Menge nachschafft, weiß doch immer sofort, mit wem er zu tun hat. Und über ihre Persönlichkeit war ich zudem noch extra gut unterrichtet, da ihre Herren Brüder Emil und Otto, sowie ihr Herr Vetter Werner Uhlig jahrelang intime Freunde von mir sind.«
»Das ist infam! Mehr als – das!« sprang Ellen heftig auf und stampfte den Boden mit ihren kleinen Füßchen. »Warum haben Sie mir das nicht sofort gesagt, als wir uns –«
Beschämt brach sie ab, blickte von seinem sich in breiter Lache brüstenden Gesicht verschüchtert zu Boden und hatte nicht wenig Lust, ihn für seine Indiskretion durch sofortiges Verlassen zu strafen. Aber Udo bannte mit frecher Geistesgegenwart ihre spontan durchbrechende Verlegenheit.
»Wenn ich Ihnen meine Wissenschaft damals auf der Straße gleich verraten hätte, wäre ich doch ein großer Blödian gewesen. Nie wären Sie unter solchen Umständen hierher zu mir gekommen. Nicht wahr – das ist doch richtig? Aber ich sagte mir fest und intensiv, dies Gesicht mußt du malen! Und so bezwang ich mein geheimes Erstaunen über das Zufallswalten, als Sie sogar die Güte hatten, mir ihren, mir ja längst bekannten Namen zu nennen.«
Damit drängte er sie wieder zum Diwan zurück, zog ihr keck die Nadeln aus dem Hute heraus und nahm ihn ihr ohne weiteres ab.
»Ich hatte sowieso keine geringe Angst, daß Sie meinen Namen von Ihren Brüdern irgend einmal gehört haben würden, und glaubte darum selbst auch gar nicht mehr an ihr Erscheinen,« beichtete er weiter, während Ellen ihn groß anblickte.
»Es besteht nur ein loser Zusammenhang zwischen mir und meiner Familie. Ich lebe ziemlich als Einspänner für mich.«
Sie hatte die schönen, grauen Augen zu Boden geschlagen, und Udo blickte mit erregten Sinnen auf ihre feingeaderten Augenlider. Er mußte sich einen Zwang auferlegen, sie nicht zu streicheln.
»Lassen Sie uns alte Bekannte bleiben!« bannte er ihre Zweifel. »Nie soll man sich gegen Geschehenes aufbäumen. Es hat ja nicht den geringsten Zweck, gnädiges Fräulein.«
Willenlos wie eine Nachtwandlerin ließ es Ellen ganz gelassen geschehen, daß er sie zum Podium führte, nachdem er ihr aus der Jacke geholfen hatte, die er galant zum Kleiderrechen trug.
»Und jetzt wollen wir wirklich anfangen, bitte! Darf ich Sie dort auf den Drehsessel nötigen, gnädiges Fräulein? Noch haben wir das schönste Tageslicht.«
Dabei stellte er mit einer eisenbespitzten Holzstange die Drillichvorhänge ein, während Ellen wortlos auf dem Podium Platz nahm.
»Zuerst machen wir nur eine Skizze. Es dauert gar nicht lange. Ein knappes Viertelstündchen. Sie werden sich selbst sicher freuen, wie schön ich Ihren Augenausdruck erfaßt habe.«
Und wie er nun zur Palette griff, um nach einer leichten Stiftstudie die Farben zu mischen, blieb Ellen genügend Muße, seine Züge zu erforschen. Bei der Arbeit veredelte sich das unsympathische Antlitz des Malers sichtbar. Die derb-sinnlichen Wulstlippen waren fest zusammengekniffen, alle Gesichtsmuskeln straff gespannt, die blauen, vom Alkohol strahlenden Augen im Ernst seines Tuns leuchtend, und selbst Stettners viel zu kleine Nase erschien ihr eben bedeutender als sonst, wie er so ab und zu begütigend herüberzwinkerte. Von Udos stattlichgroßer Figur schweifte Ellens Blick durch das weite Atelier, an dessen Wänden Dutzende von Gemälden verteilt hingen, die seine Gattin in den verschiedensten Stellungen und Trachten darstellten; auch ihr Akt war mehrfach vertreten. In leiser, weiblicher Eifersucht musterte Ellen diesen schönen, jeder schärfsten Kritik standhaltenden Frauenleib, maß den herrlichen, ganz ebenmäßig geformten Kopf. Jetzt verstand sie es plötzlich, daß auch ein so unschöner Mann, wie dieser Maler, Liebe gewinnen und gewähren konnte und fühlte den wunderlichen Wunsch aufkeimen, ihn der schlank gewachsenen, sogar ein wenig beneideten Besitzerin abtrünnig zu machen. Bald aber verwarf sie die absurde Idee wieder, einen so abstoßend häßlichen Menschen überhaupt in den Bereich ihrer Betrachtungen gezogen zu haben. Sie suchte sich durch den Gedanken an einen anderen abzulenken, an den einen, dem ihre erste Jugend gegolten hatte: Referendar Paul Kurtius, der sie einst, vor vielen Jahren, schon als Mitschüler Emils verehrt, dann als Student geliebt, jetzt aber in gemeiner Geldgier verlassen hatte, weil dem Vater mit dem plötzlichen Verlust des Vermögens auch jede Möglichkeit zu einer Mitgift an sie genommen worden war.
Udo Stettner weckte sie aus ihrer Weltferne.
»Na, gnädiges Fräulein, nu überzeugen Sie sich jetzt bitte mal, was wir geschafft haben.«
Er drehte ihr den dünnen, pappbenagelten Holzrahmen, den er leicht von der Staffelei abhob, zu Gesicht, und Ellen fand sich mit ein paar geschickten Bleistiftstrichen und angedeuteten Farbtönen durchaus glücklich fixiert.
»Wirklich sehr nett, Herr Stettner. – So getroffen hab' ich mich noch nie gefühlt!«
»Haben Sie auch sicher nicht!« gab er erfreut zurück und reichte ihr dankbar seine Rechte, die noch eben vollgreifend seinen dichten Bart durchfahren hatte. »Gott sei Dank, daß mer sich nich blamor'n haben,« verfiel er in seine rheinische Mundart und nahm ihr lächelnd die Skizze wieder ab. »Und nu können wir vielleicht das Pastellbild gleich anlegen?«
Ein Gähnen unterdrückend, widersprach Ellen abgespannt.
»Nein, danke für heute, Herr Stettner. Ich muß nun nach Hause. Meine Mutter wartet mit dem Essen sowieso längst auf mich!«
Verärgert zog er einen Flunsch.
»Das ist aber sehr schade. – Na, denn auf bald. Ich erwarte Sie spätestens nächsten Mittwoch zur Sitzung hier, sagen wir um 4 Uhr. Mein gnädiges Fräulein!«
Ellen erhob sich von ihrem Dreifuß.
»Sagen wir lieber um 5 Uhr, Herr Stettner. Ich will versuchen, daß ich etwas eher aus dem Bureau fortkomme.«
Damit war sie flugs von dem Podest heruntergestiegen und zog sich mit seiner Hilfe die Jacke an. Udo beherrschte sich sehr, um nicht – nach seiner sonstigen Gewohnheit – wenigstens etwas zudringlich zu werden, fand sich aber dann im Gefühl ganz bezwungener Begierde schwelgend als stiller Held ab.
Ellen nickte nur kurz. Sie fand ihn plötzlich doch ekelhaft und ging, von seinem Wesen ganz angewidert, eilig die vier Treppen herab. Er aber glaubte schon, das niedrige Ziel seiner immer obwaltenden Absichten in die allernächste Nähe gerückt zu haben und schmunzelte laut denkend vor sich hin: »Datt jifft en saftigen Braten.«
Es erwies sich als großes Glück, daß Ellen eben fortgegangen war. Denn kaum fünf Minuten später schellte es schrill in Udos Träumerei, deren Sinn sich in einem Schnalzen der Zunge auslebte. Sein hellhöriges Ohr stellte auf dem teppichlosen Treppenhaus gleichzeitig Lene Strupats schweren Kürassierschritt fest. Als er sich aber durchs Guckloch von ihrer körperlichen Gegenwart überzeugen wollte, verhinderte der Federbusch ihres Felbelhutes die Aussicht.
Von ihrem vorzeitigen Kommen ärgerlich enttäuscht – sie wurde mit den andern Gästen erst gegen Abend erwartet –, öffnete der Maler, um sie einzulassen.
Sie grinste ihn ihrerseits breit und dumm an.
»Gu'n Tag ook. Der Emil is wull schun da?«
»Nein!« gab Stettner kühl und kurz zurück. Er war ihr wegen der letzten Abfuhr beim Dicken in Wilmersdorf noch ein bißchen böse. Außerdem verglich er bei ihrem Anblick ihre Erscheinung im Geiste mit der Ellens und kam zu dem Schlusse: »Kommisbrot« und »Arme Ritter«.
»Sie sind ja ein früher Gast zum heutigen Atelierabend; Herr Rechtsanwalt Emil Uhlig wird ja wohl dann auch nicht mehr lange auf sich warten lassen, Fräulein Lene,« sagte er noch in der Tür zu ihr. Darauf trampste sie in den Vorflur, entledigte sich der gefiederten Kopfbedeckung und rückte dann ins Atelier vor, während sie dabei die Schnur eines kleinen Paketes aufknüpfte. »Hier hab' ich ein halbes Dutzend Wiener Würschtel vom Heffter mitgebracht. Der Emil bringt 'ne Pulle Eiskimmel. Was all die andern abladen wer'n, wees ich nich.« Damit reichte sie ihm das offene Päckchen, aus dem schon drei vorwitzige Würstchen neugierig herauslugten, hin.
Udo griff gierig danach.
»Sehr gut. Die Wiener. – Ich werde gleich hernach warmes Wasser aufstellen. Schönsten Dank auch, Fräulein Lene.«
Er hatte das offene Paket auf den Tisch gelegt, streckte ihr seine breite Tatze hin und hob sie dann mit einem kräftigen Schwung auf das Podium. Und als sie ihn – darob dämlich verdutzt – grinsend anblickte, kommandierte er nur: »Still gesessen! Ich will mal eben schnell eine kleine Skizze festhalten. Vielleicht kooft Ihr Dokter sie doch als Geschenk für Sie!«
Und im Nu hatte er arbeitswütig seine neue »Sitzung« im Gange. Helene Strupat fühlte sich göttlich erhoben in dem Gedanken, gemalt zu werden. Als er nach einer kurzen Schweigezeit fertig war, packte er sie resolut um die Taille und drückte ihr mit seinen schwammigen Wulstlippen einen Kuß wider Willen auf.
»Sie Schweinskerl!« gab ihm Lene quittierend einen leisen Backenstreich.
»Keinen Widerspruch!« pfiff er sie an und drängte sie auf den Drehstuhl nieder. »Sonst wird sofort noch ein ordentlicher Haken eingegipst, wie ich das gewohnt bin!«
Mit einer gemeinen Lache platzte Lene heraus, so daß ihre nach unten hin schraubenförmig verstümmelten Zähne sichtbar wurden. Die Fortsetzung auch dieses kurzweiligen Duos wurde wieder durch die Korridorglocke unterbunden. Ärgerlich über die abermalige Störung beim Tummeln seiner Begierden, ging Udo und öffnete.
Mit Werner Uhlig erschien Doktor Fritz Bein, den sein Freund Ulkes halber im Auto mitgebracht und heraufgelotst hatte.
»Guten Abend, Meister,« ließ sich der Assessor spitz vernehmen, während zu gleicher Zeit Werner Udos Hand drückte und ihm drei, noch in Strohhülsen steckende Flaschen Deidesheimer übergab.
»Ein Rheingruß, lieber Udo – als bester Heimatsklang, den wir noch heute abend im Kelch ertönen lassen wollen.«
»Rebensaft vom Rhein! Hab' Dank, Werner. Ihr Großkapitalisten ehrt wenigstens die echte Kunst,« rühmte Stettner das Geschenk und zog die Hülsen von den Flaschen, um Jahrgang und Weinfirma auf dem Etikett feststellen zu können.
Doktor Beins feine Spürnase schien Udos eben stattgehabte Angriffsversuche auf Lenes Leib zu wittern.
»Wir störten wohl grade bei einem Junggesellenscherz, Herr Professor?« zapfte er den Maler an.
»Uuch nee, leider noch nich!« lachte Stettner schamlos zurück. »Die Lene ist eine große Kratzbürste, vorläufig noch treu wie Gold, Herr Assessor.«
»Also nichts für ungut. Als Trostpreis habe ich Ihnen einen schönen Stich mitgebracht,« sagte Bein sachlich, »einen Stich von Stauffer-Bern. Von dem können Sie vielleicht manches lernen! Wirklich, Meister.«
»Stauffer-Bern? Wer ist denn das? Den kennt meines Vaters Sohn gar nicht. Is woll schon dausend Jahre dot? Sonst müßt' ich ihn doch kennen? Na, zeigen Sie's mir mal her. Ich will mir den Kupferstich jedenfalls ansehn, ob er was taugt. Da bin ich ein komischer Mensch drin.«
Damit wollte er das ihm eben von Bein entgegengerollte Blatt aus den Händen des Gebers nehmen. Der aber runzelte mißbilligend seine Stirn, so daß sein randloser Kneifer erzitterte. Während er den Stich wieder fest zusammenrollte und ins Papier zurückzwängte, sagte er sarkastisch: »Nee, lassen Sie man, Herr Herrlich. Daraus wird nu nix mehr. Das wäre der Ehr zu viel. Jedenfalls verdichtet sich meine Überzeugung nun doch dahin, daß Sie ein Mann von einer – geradezu lückenlosen Unbildung sind! Ein Maler, ohne jede Bedeutung!«
»Na, denn lassen Sie's eben bleiben!« schnitt ihm Udo eine beleidigte Grimasse. »Ich bin dreiunddreißig Jahre alt geworden, ohne daß ich diesen obskuren Kollegen und Kopperstecher kennen lernte. Ich habe meinen Namen – als Eigener. Da bin ich eben ein komischer Mensch drin!«
»Ihre Fülle von Unwissenheit erübrigt jede weitere Debatte. Grüßen Sie mir ihre Frau; guten Abend, Herr Professor. Meinen heutigen Besuch bitte ich als ungeschehen zu betrachten. Ebenso, wie ich ihn selbst bedaure, spreche ich auch Ihnen meine tiefe Teilnahme deshalb aus, daß ich Sie anscheinend mit meiner Ihnen zugedachten Gabe weit überschätzt habe.«
Mit einem festen Handschlag für Werner schritt er ruhig – seiner gesunden Geistesfrische sich bewußt – aus dem Raum.
Wie ein begossener Pudel blickte ihm der Maler blöde und scheu nach – Lene stierte dösend vor sich hin, ohne den Grund des Fortgängers enträtseln zu können. Ja, selbst Werner wußte nichts Rechtes: ob er bleiben oder auch besser gehen sollte, als – wie gerufen – Emil mit der ausgebeulten Aktentasche erschien, aus der er sogleich etwas umständlich eine Flasche Danziger Eiskümmel herausnahm und sie wortlos Udo überreichte.
Der Anblick des Alkohols brachte dem Maler sofort seine gute Laune wieder.
Mit Emil gleichzeitig waren zwei den Anwesenden unbekannte junge Mädchen in Backfischkleidung heraufgekommen, die Udo als seine Modelle, Fräulein Lissy Bock und Hedi Weile vorstellte.
»Zwei unzertrennliche Freundinnen, genannt nach ihren Figuren und der Weise ihres Zusammenhalts, die Damen ›Dick und Dünn‹ –, meine Gäste.«
Mit der Namensnennung der einzelnen bannte er auch die im Atelier ausgebrochene, unangenehme Öde auf einen Schlag. Das hatte er mit seinem rheinischen Humor eben heraus. Man lachte herzlich, und als die dickliche Lissy einen rundlichen Lachsschinken, die dünne Hedi aber ein Körbchen Krebse auf den Tisch des Hauses steuerten, entschied sich Udo unter allgemeiner Heiterkeit dazu, aus Wein und Schnaps eine »kalte Ente« zu brauen, ein Beginnen, dem alle anderen belustigt zustimmten.
Darauf schleppte der Maler eine volle Kartoffelkiepe herein, drückte Lene ein schon schartiges altes Küchenmesser in die Hand, mit der witzigen Weisung, sich jetzt durch emsiges Kartoffelschälen als echtes Weib zu bewähren.
Auf diese Zumutung entsetzlich stolz, griff Lene Strupat nun auch arbeitsfroh in die Erdäpfel und konnte bald sehr erfreut wahrnehmen, daß die Damen »Dick und Dünn«, die eben nach der Küche verschwunden waren, um Krebsen und Würstchen zum Sieden zu verhelfen, mit zwei Taschenmessern bewehrt, zurückkehrten, um sich gleichfalls höchstselbst am Schälen zu beteiligen.
Während seine weiteren Wirtespflichten Udo nun voll in Beschlag nahmen, fand Werner nun endlich Gelegenheit, sich mit Emil in zwei Korbsessel unter das Fensterdach zurückzuziehen.
Emil berichtete mit gedämpfter Stimme über die Vorgänge des letzten Tages, indem er – der Lage Rechnung tragend – sein Monokel aus dem Auge entfernte.
»Also, Chananje hat heute eingewilligt. Definitiv. Erst nachdem ich auch bei ihr, der Chananjen, meine Probe bestanden hatte, wollen sie mir tagsüber das Zimmer ablassen, wo von jetzt ab auf einem Patentsofa ihre mieße Miß schlafen soll.«
»Über diesen Erfolg bin ich mehr als baff,« konnte Werner zu erwidern sich nicht enthalten. »Ich hatte immer noch leise gehofft, daß Moses' Berufung auf die Einwilligung seiner Frau den doch riesig unüberlegten Schritt deines alten Herrn unmöglich machen würde.«
Emil lachte in Gedanken an den Büffel.
»Die Besichtigung durch die Chananjen war auch keineswegs einfach oder nur oberflächlich. Sie hat mich ganz gehörig unter Lorgnette genommen. Aber ich scheine doch schließlich ihr Vertrauen gewonnen zu haben, so daß sie selbst zuletzt dafür war,« berichtete Emil unter weiterem grundlosen Lachen.
»Wenn du dich darüber freust, muß ich mich natürlich damit abfinden; da du aber gestattest, daß ich etwas erfahrener die Lebensentfernungen ermesse, hätte ich gerade dir bei deinem leicht lenkbarem Wesen eine schnellere Selbständigkeit gewünscht. Für die Bereithaltung der erforderlichen Barmittel hätte ich gern gesorgt.«
»Du bist rührend in deiner Herzensgüte, Bollusch!« drückte ihm Emil die Hand. »Aber ipso iure bin ich ja selbständig. Es ist doch lediglich eine Bureaugemeinschaft. Mehr soll sich daraus nicht entwickeln. Und außerdem wollte ich dich auch nicht weiter in Anspruch nehmen. Hast doch wirklich schon genug Gutes an mir getan.«
»Ich hätte dir lediglich einen Bankkredit für ein bis zwei Jahre verschafft. Das wäre für dich eine ganz andere Entwicklungsmöglichkeit gewesen, in einer eigenen Wohnung als dein eigener Herr! Nu' aber wart's ab. De facto wirst du kaum selbständig sein, wirst Rücksichten üben müssen. Die nächste Zukunft wird dich darüber schon belehren. Na, Schwamm drüber! –«
Doch wollte er seinen Bedenklichkeitsfaden weiterspinnen, als plötzlich Udos bartumwuchertes Haupt zwischen den beiden hochlehnigen Korbsesseln auftauchte.
»Kinder, seid nett und spendiert noch einen harten Taler! Wir brauchen ein Viertel Butter, ein Dutzend Knüppel oder Schrippen, für'n Groschen Eis und vier Pullen Selter zur kalten Ente. Ich spring schnell runter zum Koofmich und Bäcker und hole selbst ein!«
Gähnend griff Emil in seine Westentasche, weil er in Kleinigkeiten gern den Kavalier markierte, und reichte ihm das Geld.
Aber gleicherzeit wurde aus dem Hintergrund ein energischer Protest durch »Dick und Dünn« laut.
»Um Jottes will'n, bloß keen Selta. Sekt woll'n wa. Kribbelwasser. Wir bede stiften jeda 'n Blockstick. Da holste zwei Bubbeln Hausmarke Rotkäppchen, for brei Mark fuffsich det Stück, und bringstse mit oben.«
Mit diesem Vorschlag kamen sie sofort vom Podium her nach vorn gefegt, um ihm je ein Fünfmarkstück in die offene Hand zu drücken, die Stettner beide gerührt in die Hosentasche gleiten ließ, um dann eiligst nach der Küche zu verschwinden.
Und während Udo den Festbedarf bei seinen Lieferanten decken ging, konnte Werner nicht umhin, jeder der gebefreudigen Dämchen ihren Geldanteil – zu einem Goldstück verdoppelt – zurückzuzahlen, was nach kurzem Sträuben von »Dick und Dünn« hochnäsig angenommen wurde.
Dann fragte er sie einzeln nach ihrer Lebensgeschichte, worauf sie verteilt mit gewisser Treuherzigkeit erzählten, Jugendfreundinnen aus Thüringen zu sein, bester Bürgerfamilie zu entstammen und, nur von gewissenlosen Männern verlassen – nach verschiedenen Irrfahrten und Lustlandungen – schließlich in der Brandung des Lebensmeeres mit ihren Schifflein auf dem Modellmarkt der Weltstadt gestrandet zu sein.
»Nu, quatscht ock nich a solche Mährden, Mädels!« fuhr Lene ganz erbost dazwischen. »Das sagt ihr alle. Immer ist der Vater wenigstens Oberst gewäsen. Das wär' mir doch zu dumm. Und ich sage die Wahrheit: Meiner war Lokomotivführer und wohnte in Ohlau, wo er seine zwölf Jahre bei den braunen Husaren abgerissen hat. Eurer wird sicher Portier in Rixdorf sein. Aber ohne Renommiererei geht's e mal nicht ab!«
»Dick und Dünn« schienen einen Moment starr vor Entrüstung, beruhigten sich aber, als Emil seine Lene mit einem »Biste stille!« zur Ordnung gerufen hatte.
Gleich darauf tauchte Udo mit einem Eimer voll Eis und zwei rotgekrönten Sektflaschen auf, drei volle Tüten in den aufgetriebenen Taschen. Die Erdbeerbowle, die nunmehr an Stelle der erst beabsichtigten »kalten Ente« entstand, wurde in einem Tontopf auf den ebenso unabgeräumten wie ungedeckten Tisch gestellt, während die Ersatzreserven an Wein und Sekt im Eiseimer darunter Platz fanden. Dazu gesellte sich der mosaikartige Imbiß über der Tischplatte, und dann schenkte Udo mit einer zerbeulten Kochkelle sein Gebräu für die Herren in Zinnbecher, für die Damen in Groschengläser aus.
Unter beizenden Bemerkungen der Herren, deren Deutlichkeit durchaus dem Werte der Damenwelt entsprach, aß man, was die »Tafel« bot.
Während Werner und Emil sich mehr an die festere, warme Nahrung hielten, sprachen Udo und die Weiblichkeit entschieden lieber dem eiskalten und stramm mit Schnaps versetzten Trunke zu. Besonders waren es die Damen »Dick und Dünn«, die dem Maler immer aufs neue zuprosteten, und sogar Lene ließ sich schließlich von dem trinkfesten Rheinländer mit fortreißen.
Emil und Werner indessen bremsten, die Folge eines morgigen Katers verabscheuend, mäßig ab. Udo jedoch genoß hemmungslos mit vollen Zügen das süße Naß und fühlte sich bald in Feierstimmung versetzt – glücklich aus dem Alltagsekel herausgehoben.
Lene wurde nun auch wieder lustiger, freundete sich unter der Weinwirkung mit »Dick und Dünn« schon wieder an, da sie beide ihr im Zechen mit bestem Beispiel vorangingen und eine Zigarette nach der anderen in die Luft pafften. Nach einer halben Stunde biederen Becherschwingens hielt Udo auch seine erste Weinrede auf Werners Wohl, und nach einer weiteren waren er, wie die drei Dämchen, durch den ungezähmten Zustrom an Alkohol vollkommen fertig.
Bezecht stieg er – in der unsicher zitternden Hand den vollen Becher – das Podium. Seine blutprallen Wulstlippen hatten sich dunkelblau verfärbt, das ganze Gesicht quoll gedunsen auf, und verglast glotzten die stieren Augen in den rauchgeschwängerten Raum, denn auch die Herren waren längst zur Zigarre geschritten. Mit lallender Stimme versuchte er zu sprechen. Aber erst nach einer Pause glückte ihm der Beginn: »Gute Freunde und holdeste Fräuleinchen! Wir fordern von der – vorgeschrittenen Stunde – die Forderung zu feiern. Da bin ich ein komischer Mensch drin. Und überhaupt, wo Werner Uhlig heute dabei ist. Dieser Bankmann und Großkoftan! Zum Feste, das wir stolz bereiten, geziemt sich auch ein ernster – uuch nee – ein deutscher Tanz. Kein Bauchtanz etwa! Nee, i wo, das liebt Herr Werner sicher nich. Aber dagegen – vergönne – ich – ihm – nach alter deutscher Vätersitte – einen – Waffentanz.« Damit taumelte er torkelnd vom Podium, immer noch seinen Zinnbecher in der Rechten, so daß der randvolle Inhalt überschwippte. Er näherte sich den beiden Modellen, die er in Weinglut heftig anbrüllte: »Ausziehn! Und jede holt sich – dalli! – eine Fackel! Aus der Küche! Ein Stück Holz! Zum Schwertertanz. Den kennt ihr doch längst! Denn da bin ich ein komischer Mensch drin, im Schwerttanzen!«
Behend drehte er sich zu Werner und Emil um, während die Mädchen suggestiv seinem Befehl gehorchten. Vergeblich versuchte er seine Zitterhand mit Werners Becher anstoßend in Berührung zu bringen, was ihm aber nur mit seinem weinerfüllten Atem gelang, den er ihm ins Antlitz hauchte.
Scheinbar taten ihm Werner und Emil Bescheid, indem sie die Humpen zum Trunke erhoben und daran nippten.
Werner zog ein Taschentuch heraus, um es als Trutzschild gegen weitere Gasangriffe zu benutzen, und Emil begnügte sich damit, kindisch wiehernd Udos üble Witze zu belachen, die er mit unverblümter Gemeinheit beim Ausziehen der vollberauschten Modelle anbrachte.
Als diese fertig waren und nach der Küche eilten, um zwei Scheite mit Petroleum zu präparieren, stellte sich Udo hinter eine Stuhllehne, die er – wie blind um sich tastend – erfaßte und hub blökend und radebrechend aufs neue an: »Kriegstänze sind Germanenbrauch. Im Mittelalter führten meine Ahnen, das waren Waffenschmiede in Solingen – das sind meine Vorfahren! Da bin ich ein komischer Mensch drin! Also, die – Ahnen, die hatten eine große Ahnung von Messern und Schwertern. – Die führten – Waffentänze – auf. In der – Eifel sind sie noch – heute – im – Schwang. Da hab' – ich – sie – als junger Bursche gelernt. – Bäh! – Ich mach's vor!«
Noch während der Rede hatte er seinen Rock und die Weste aufgerissen und beides über den Stuhl geworfen, dann folgten mit entsprechend grotesken Verrenkungen Hosen und Unterkleider. Zuletzt zog er das in der Farbe nicht mehr bestimmbare graubraune Wollhemd vom Leib, so daß sein bewaldeter Körper sich splitternackt den baß erstaunten Blicken der einzig noch nüchtern gebliebenen Vettern preisgab. Lene prustete bei dem Anblick vollen Mundes heraus, so daß Udo sie barsch anfuhr: »Ich hab' doch keine Brause bestellt!«
Inzwischen waren mit je einem brennenden Holzscheite in der Hand »Dick und Dünn« auf den Plan getreten. Im Urzustande ihrer einerseits sehr geschmeidigen, anderseits recht überfetteten Formen schalteten sie zunächst mit einer letzten Scham das Elektrische aus und faßten – wie dafür abgerichtet – rechts und links vom Podium Posten, das Udo eben mit keineswegs gewaschenen Füßen behüpfte. Genial stieß er den dabei entsetzlich polternden Drehsessel nach hinten herab, zückte zwei schon bereitgehaltene Infanterieseitengewehre und begann – wie ein Wahnwitziger dazu gröhlend – auf- und niederwallenden Bartes nicht ohne Rhythmus zu tanzen und die blitzblanken klingen im Takt aneinander zu schlagen.
Sein wildes Kriegsgeheul ermutigte Werner auf jeden Fall, ohne vom Tänzer bemerkt zu werden, aus dessen Hose heimlich seinen Hausschlüssel herauszuholen. Als sich Udo gerade anschickte, dem nackten Fräulein Dünn die lodernde Fackel fortzureißen und diese rücksichtslos ins Zimmer schleuderte, hob er das brennende Holz fürsorglich auf und steckte es rasch unter den Tisch in den Eiseimer, wo er auch gleich die zweite, Fräulein Dick abgeforderte Fackel verzischen ließ.
Dann erst winkte er Emil und Lene lautlos zu, ihm zu folgen.
Während des Aufbruchs blieb ihm nicht erspart, zu beobachten, wie Udo eines der Modelle lüstern packte und gierig auf den Busen zu küssen begann, um sich dann sofort der zweiten Nacktheit zuzuwenden, die er, flackernd vor aufgestachelter Gier, in die brünstigen Arme schloß.
Dieses Tun Udos wurde für Werner das endgültige Zeichen zum Weichen …
Auf Zehenspitzen schlichen sie alle drei hinaus, öffneten ganz geräuschlos die Korridortür, um von Udo unbemerkt und unbehelligt ins Treppenhaus zu gelangen.
Denn der war jetzt durchaus und in solchem Maße beschäftigt, daß keine Macht auf dieser Welt ihn zu stören vermocht hätte.
Da war er »eben ein komischer Mensch drin«.