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XII.

Notgedrungen mußte Emil durch das rührend pünktliche Eintreffen des Vetters am Stettiner Bahnhof die Fahrkarte ›Falle halber‹ nach Warnemünde lösen und auch zunächst wirklich in den Kopenhagener D-Zug einsteigen, ohne die Fahrtrichtung später ändern zu können.

Um Werner aber auch keinen Argwohn schöpfen zu lassen, hatte er ihn noch vor Abgang des Zuges herzlich gebeten, ihm telegraphisch im dortigen Strandhotel ein Zimmer vorzubestellen.

Kurz nach Mitternacht traf er, in seinem Leben zum ersten Male die Vorzüge der zweiten Klasse genießend, in Warnemünde ein und frühstückte nach fest durchschlafener Nacht anderen Morgens sehr ausgiebig auf der luftigen Seeterrasse am Breitling … Dabei hatte er die beste Gelegenheit, die ihm vom Ober bezeichneten Damen Winter und Reifland geringschätzig durchs Monokel anzuglotzen.

Dann schrieb er eine gutgelaunte Ansichtskarte an Werner, mit der er ihn treu als »einzigen Freund auf der ganzen Welt« apostrophierte.

Da er sich aber mit Vorbedacht ein ganzes Dutzend Karten hatte bringen lassen, füllte er auf den Rat des Büffels die übrigen elf mit Muße an den gleichen Empfänger aus. Der erlogene Text steigerte planmäßig den Verlauf seines Siegeszuges in der ›Sache‹ Winter-Wurzen durch geschickt gewählte Schlagworte … Hierauf übergab er alle elf schlau zurechtgemachten Karten dem durch ein Goldstück gewonnenen Hotelportier mit der genauen Anweisung, täglich der Reihenfolge nach je eine Karte in den Briefkasten zu werfen … So war Werner ganz sicher gemacht und für wenigstens vierzehn Tage als Nebenbuhler außer Gefecht gesetzt.

Nun erst ging es mit dem Dampfer nach Heringsdorf, an dessen dreiteiliger Landungsbrücke er gegen 5 Uhr nachmittags anlief …

Unterwegs hatte er erfahren, daß heute abend im Kurhaus getanzt werden sollte, also blieb ihm noch eine kurze Zeitspanne dazu, sich in Lindemanns Hotel auf seinem gemütlichen Zimmerchen etwas ins Bett zu legen, um abends, frisch ausgeruht, drüben auf dem Plan zu erscheinen. Fortwährend dachte er nur an diesen Abend …

Denn sicher entschied die heute stattfindende Réunion über seine ganze Zukunft. Nach dem Erwachen ließ er sich einen Tee mit Rum ans Bett bringen und schlürfte zur Belebung seiner Nerven mit prickelndem Behagen zwei volle Tassen.

Endlich raffte er sich aus den ungewohnt weichen Daunenkissen auf, sprang aus dem Bette und riß mitten aus den von seiner Mutter wohl eingepackten Anzügen Werners ihm vererbten, noch tadellosen Smoking heraus, um ihn für den Tanzsaal glattbügeln zu lassen, was in diesem Hotel mit geradezu fabelhafter Schnelligkeit besorgt wurde.

Sodann begann er mit halbem Angstgefühl allein seinen festlichen Anzug, der ihm bisher ohne Helfer zum Kragenverschluß und Schlipsbinden nie recht gelang, heute jedoch gleich auf den ersten Versuch glückte.

Diesen seltenen Umstand empfand er als gutes Omen und betrat kurz vor halb acht die lichtprunkenden Säle des Kurhauses, um seinen bei der Ankunft telephonisch vorbestellten Tisch zu suchen. Das Auge zum Ausgang gerichtet, nahm er daran Platz.

Der Büffel hatte ihm sein Verhalten genau vorgezeichnet, jeden Schritt bis ins einzelne einstudiert und ihm das breitspurigste Auftreten ausdrücklich ans Herz gelegt, damit der ›große Bluff nicht schief jehe …‹ Aus seinen besseren Jugendtagen wußte er wohl, was in der großen Welt vonnöten ist, und hatte ihm deshalb eines immer wieder vorgehalten: »Hauptsache – jute Figur machen!«

So bestellte Emil affenartig nach Vater Adams Vorschrift das ›große‹ Souper, dazu eine Flasche Champagner.

Allmählich füllte sich der noch wenig besetzte Hauptsaal, und gerade beim Nippen am ersten Kelche sah er über den geschliffenen Glasrand hinweg zwei sehr elegante Damen plaudernd hereinkommen, von denen sein Personengedächtnis die jüngere nach dem Lichtbilde sofort als Fräulein Hartstein feststellte. Die andere mußte der Familienähnlichkeit wegen die Mutter sein.

Geschniegelte Gecken mit jenem blasierten Chick übertriebener Eleganz strömten – mondäne Frauen, deren Gesichter voll Schminke und Puder, deren falsches Haar mit Zirkuspferden gleichendem Kopfputz aufgeschirrt war, am Arm – nun bald scharenweise in den Saal. Fade Lebejünglinge in schlapp herabhängenden Fracks mit ihren unfein aufgetakelten Kokottchen mischten sich aus ihrem Talmidasein frech dazwischen, um lusthungrig mit zu genießen.

Reiche Berlin-W-Börsianer wechselten im bunten Farbenspiel der Flitterkleider ihrer seiderauschenden Damen vorbei und schoben – sich brüsk vordrängend – durch die flanierende Menschenmenge.

Endlich begann die unter dichter Palmenverkleidung verborgene Streichmusik mit einem kecken Twostep den Tanz einzuspielen. –

Mutter und Tochter Hartstein hatten eben unweit von Emil Platz genommen, und er verschluckte schleunigst den ihm gerade servierten Nachtisch, um seine ihm zugedachte Braut ja rechtzeitig zum Tanze zu bitten.

Aber schon kam er zu spät …

Gabriele Hartstein schob bereits in den Armen eines breitkantigen Amerikaners, dessen bläulich schimmernde Backenhaut seltsam von seiner sonst kupfernen Gesichtsfarbe abstach, über den spiegelgleichen Parkettboden.

Ärgerlich ging Emil an seinen Tisch zurück und goß hastig einen Schluck Sekt in die Gurgel.

Dann beobachtete er eifersüchtig das gut tanzende Paar, und sein Rechtsgefühl fürchtete schon für eine Strafe der Nemesis … Da traf ihn Mutter Hartsteins blaues Augenpaar, und gleichzeitig hob sie, ihm zuwinkend, die Hand.

Sofort schnellte er – innerlich wieder ermutigt – auf, eilte zu ihrem Tisch und machte seine tiefste Verbeugung.

Frau Hartstein, in einer weißen Atlasrobe mit Brüsseler Spitzenbehängen, nickte hoheitsvoll ihr blondes, graumeliertes Haupt, das ein Diadem funkelnder Brillanten krönte.

»Herr Rechtsanwalt Uhlig aus Berlin?« reichte sie ihm nachlässig ihre gleichfalls edelsteinbesäte Hand.

»Sehr wohl, gnädige Frau,« neigte er sich – dem Befehl des Büffels eingedenk – darüber.

»Ich bin orientiert,« nickte Frau Hartstein. »Nehmen Sie bitte Platz. Meine Tochter tanzt gerade. Ganz gut, daß Sie etwas zu spät kamen. Da können wir uns vorher ein wenig ausplaudern.«

»Meinen besten Dank«, gnädige Frau,« verbeugte sich Emil jetzt steif ein zweites Mal und zog bescheiden einen Rohrstuhl unter der Tischplatte heraus.

»Bitte, setzen Sie sich doch!« ermunterte ihn die Dame nochmals. »Frau Dille hat mir Ihr Kommen gestern telephoniert. Ihre Familie ist mir – dem Namen nach bekannt. Sie sind Cousin des Herrn Bankier Werner Uhlig? Den kenne ich vom Hörensagen. Er soll ja so fabelhaft tüchtig sein.«

Emil sank das Herz vor Schreck in die Hosen, als sie mit stark russischem Akzent gerade Werners Namen im Munde führte. Aber Frau Hartstein brachte ihn bald über alle Klippen des heiklen Wortwechsels hinweg. Und eine kleine Vertraulichkeit war schon erreicht, als ihn eben ein Berliner Kollege im Vorbeitanz scharmant auf den Rücken tippte, um ihn dann mit der breiten Handfläche grüßend zuzuwinken.

Dies Bekanntsein brachte ihm bei der in Frage kommenden Schwiegermutter schon einen ansehnlichen Anfangskredit ein, und als nun Fräulein Gabriele am Arme des Fremden erschien, war Emil mit der Mama bereits etwas warm geworden.

Die Tochter wurde ihm unter einem tiefen Diener seinerseits von der Mutter vorgestellt; der Amerikaner maß ihn mit einem mokanten Blick und verschwand.

Gabriele tat es Emil auf den ersten Blick an, so daß er sich kaum von ihr losreißen konnte … ihr blondes Haar trug sie an der Stirn in Ponys gekämmt, mit einer Langlocke über dem linken Ohr. Und die feuerblitzenden Vergißmeinnichtaugen vertieften die Empfindung um so mehr, als ihre blendend weiße durchsichtige Haut vom flotten Tanzen rosig angehaucht war. Ein runder, voller Mund lachte ihn mit zwei schneeweißen Zahnreihen lebenslüstern an, so daß er vor einem modernen englischen Gemälde zu stehen glaubte. Als sie ihm ganz ungezwungen ihre feine Hand reichte, die er nur zimperlich-lasch berührte, faßte sie gleich energisch zu und rüttelte ihm die Rechte doch so derb, daß er einen kleinen Schmerz empfand.

»Serr erfreut!« schnarrte auch sie mit gewollt russischem Anlaut. »Aber wie gebben Sie die Hand? So sind wirr gewohnt, die Hand zu reichen, wir Russen. – Wir Russen, zu denen ich mich gern zähle, legen Gefühl hinein in Händedruck!« sprudelte – wie ein Springquell – der rote Mund.

Ein winziger Sprachfehler, der seinen Sitz im Gaumen zu haben schien, weckte in Emil noch einen Sonderreiz.

Sektbeflügelt bat er sie um den nächsten Tanz, einen Walzer, und sie folgte ihm auch schnell in den Saal. Während des Tanzes fühlte er unter dem blauseidenen Ballhänger im Empirestil ihre feinen Formen und warb mit vollen Sinnen um ihre gazellenschlanke Figur.

Die Mutter begleitete das sich im Walzertakte wiegende Paar mit hoffnungsfrohen Gedanken und Blicken, und als beide wieder an den Tisch kamen, ließ Emil seinen Eiskübel vom Kellner herübersetzen und bot den Damen, die bisher noch nichts bestellt hatten, von seinem Trunke an.

Bald perlte das goldene Gift in den breiten Schalen, und der Zauberer Sekt tat zur Hebung der Stimmung nun auch das Seine.

An den Nebentischen knallten die Korke gleichfalls schaumspritzig zur Decke; Emil bestellte herrisch die zweite Flasche; der Tanz im Saale wurde heißer und toller.

Die ungarische Musik lockte und ließ Gabriele nicht lange ruhen. Emils Leistungsfähigkeit mußte erprobt werden. Jeden möglichen Schieber, Trott oder Tango tanzte nur er mit ihr, so daß sie bald an ihn vergeben schien und fremde Herren sie nun nicht mehr aufforderten.

»Wir haben uns sehr nett eingetanzt,« sagte er freudig zur schlau lächelnden Mutter, als sie gelegentlich mal einen langweiligen Rheinländer ausließen.

Mama Hartstein war zuversichtlich und frohgelaunt.

Das Mädchen war ihr längst im Wege. Emil schien ihr ganz der Mann zu sein, der ihr diesen Stein des Anstoßes wegräumen würde …

Um Mitternacht erst hatte man endlich des Guten genug getan, und mit den letzten Besuchern verließen die Damen unter seinem Schutze den Ballsaal. In der Halle versuchte Emil sehr ungeschickt, Gabrieles überhitzten Körper gehörig gegen den rauhen Nordwind einzumummeln, half dann auch der Mutter in ihren Abendmantel und brachte als galanter Kavalier beide Damen über die dunkle Strandpromenade nach Hause.

Nach kurzem Gange durch die seekalte Nachtluft blieben die Damen vor einer weiß aus tiefem Dunkel ragenden Villa stehen.

Auf Gabrieles Klingeln wurde das Gittertor elektrisch erhellt, und ein barhäuptiger Diener in gestreifter Kattunjacke erschien geschäftig, um zu öffnen.

»Spielen Sie Tennis?« näselte Gabriele noch gespannt, als die Pforte bereits geräuschlos aufging.

»Mäßig bewegt,« erwiderte Emil verlegen.

»So holen Sie mich morgen früh um 8 Uhr hier ab. Ich habe sowieso meinen Trainer bestellt.«

»Zu so nachtschlafender Zeit!« nörgelte er, um aber sofort: »Ich komme selbstredend,« hinzuzusetzen.

Mit einem »Schön – auf morgen!« von seiten der Tochter und dem gleichzeitigen Gute-Nachtgruß der Mama gingen beide Damen knirschend über den Gartenkiesweg ins Haus.

Mühsam und des Weges unkundig tastete sich Emil in das schon verdunkelte Hotel zurück, vor dessen noch offener Glastür ihn der immer liebenswürdige Hotelwirt, Herr Herrmann, begrüßte, um selbst die Flurbeleuchtung einzuschalten.

Ein sicheres Gefühl des Gelingens geleitete ihn über die Hoteltreppe nach seinem Zimmer, und mit einem: »Mensch, die Kiste schmeißt du!« auf den Lippen schlief er schließlich ermüdet ein …


Nach einem halbstündigen Morgengang durch dichten Laubwald in lungenweitender Seeluft kamen sie frisch und lebenslustig zu der breiten, für die Sportplätze geschaffenen Lichtung.

Beim Ballschlagen aber gab sich Emil manche Blöße, obwohl er zum Doppelzwecke des äußeren und unteren Auftretens im frühen Morgengrau extra noch ein paar neue Tennisschuhe erstanden hatte.

Gabriele mußte sofort einsehen, daß alle seine Bälle mit einer geradezu verblüffenden Ungeschicklichkeit gegeben wurden. Sie erteilte ihm darum nur flüchtig einige Lehren für weitere Übungen und beschied dann den Trainer zur Selbstbedienung …

Nach zwei Stunden gräßlicher Langeweile durfte er sie endlich heimgeleiten, um am Portal ihre Parole zum Familienbad für 12 Uhr entgegenzunehmen.

Dieser Abholung ging abermals eine Neuanschaffung, und zwar die eines eleganten Badeanzuges, sowie -Mantels voraus, mit denen er sie pünktlich erwartete. Von manchem Neiderblick verfolgt, brachte er seine Dame in stolzer Hoffnung zum Badehaus, um sich am Eingang von ihr zu trennen, weil laut Amtstafel die Zusammenkunft der beiden Geschlechter erst im Wasser gestattet war.

Emil beeilte sich mit dem Auskleiden und trabte bald von der Zelle her die engen Holzgänge entlang zur Wassertreppe.

Nachdem er sich eine Weile in der flachen See getummelt hatte, sah er sie über den dichtbelagerten Strandsand kommen. In ihrem grünweißen Trikot mit der gleichfarbigen Badekappe sah Gabriele ganz entzückend aus.

Und ein Schauer des Begehrens erfaßte den verliebten Beobachter.

Langsam schritt sie durch die buntgestreifte Menschenmenge dem Ufer zu, netzte sich erst Brust und Stirn und lief dann stracks in den wogenden Wellengang.

Emil strebte ihr durch die abdrängenden Flutmassen zu, und triefend trafen sie im nassen Element zusammen.

Kecke Wellen umschmeichelten plätschernd ihren nun im feuchten Trikot plastisch hervortretenden Körperabdruck und leckten kosend auch um ihre ganz freien Gliedmaßen.

Die wimmelnde Fülle der Mitbadenden störte aber Gabrieles Ästhetik und Wohlbefinden.

»Kommen Sie mit? Aus dieser Masse von fettem Fleisch!« forderte sie ihn munter auf, ein Stück mit ihr hinauszuschwimmen.

Emil war kein Freund von kühnen Wagnissen, besonders liebte er ausgelassene Wasserkunststücke keineswegs. Aber immer von seinem Endziele gespornt, schwamm er mit ihr – gegen sein Vergnügen – ein Stück aus dem abgezäunten Badebezirk heraus, bis die Warnungstute des Wasserwartes beide laut blökend zurückblies.

Sie aber mochte eigensinnig darauf wenig acht geben und lockte ihn mit lachenden Lippen und stetem Vorwärtsdrange weiter hinaus ins offene Meer.

Mit einigen kräftigen Stößen ihrer muskulösen Arme und Beine arbeitete sich Gabriele ein kleines Ende vor, so daß er über ihren Übermut bedenklich den Kopf schüttelte.

Wassertretend folgte er ihr und genoß dabei innerlich die geschmeidigen Kraftbewegungen ihrer biegsamen Mädchenhaftigkeit …

Jetzt machte sie sogar schelmisch Halt, legte sich kampflustig auf den Rücken und spritzte ihm – mit den Beinen paddelnd – eine schaumrieselnde Husche zu, daß er – von einer jungenstollen Regung erfaßt – pladdernd widerspritzte und sie ganz mit Wasser eindeckte.

Da erfaßte sie plötzlich ein tückischer Wasserwirbel im Strudel!

Im gleichen Augenblick sah Emil seine eben noch lachende Partnerin spurlos in den Fluten versinken.

Sofort stieß er neben sie hin, tauchte in wahnwitziger Angst an der Brandungsstelle in den Erdtrichter und brachte sie mit übermenschlicher Anstrengung – durch den Salzwasserzudrang schon blau verfärbt – zum Meeresspiegel empor.

Erst nach einigen Sekunden öffnete sie die Lider … Jede tändelnde Lust und Spielfreude war wie verflogen! Und ernst sahen ihn die blauen Augen an.

Mit dem Wiedergewinst ihrer Geistesgegenwart gab Emil sie vorsichtig frei. Denn der leichte Schwindel, der sie für kurze Zeit erfaßt hatte, wich ebenso schnell wieder … Gern hätte er sie wohl noch eine Weile in seinen Armen gehalten, aber er wagte es nicht, durch einen dummen Taktfehler den Enderfolg leichtsinnig aufs Spiel zu setzen.

Vom Ufer her wurde jetzt der mahnende Wächterton dringender, und Emil bat sie nun darum, langsam mit ihm zum Ufer zurückzuschwimmen, was sie aber nur sehr ungnädig tat, weil sie ihm ihre kleine Schwäche keineswegs eingestehen mochte.

»Lachhaft!« schüttelte sie seine weiteren Vorstellungen sogar achselzuckend ab, als sie erst wieder Boden unter den Füßen spürte. Wortlos gingen sie dann durch den glitschigen Ufergrund zum Badestrand.

Dort legten sie sich sonnensüchtig in den weißen Seesand, um – als sei draußen gar keine Gefahr gewesen – abwechselnd boshafte Bemerkungen über all die anderen Badegäste zu machen oder deren unförmige Gestaltung zu belachen. –

Da planschten dickleibige Männlein und Weibchen im unfernen Wasser, die hier – wie vorhin sie – kindhaft tollten und trudelten. Dürre, knochige Klappergestelle torkelten – wellengesetzlich getrieben – dazwischen, um in feiger Wasserscheu mit beiden Händen fortwährend nach dem auf- und niederpendelnden Badeseil zu haschen …

»Bädefrau!« schrie da die schrille Krähstimme einer hysterischen alten Kokotte nach ihrem Bademantel, und ließ sich ihn – prinzessinnenhaft – um die einst üppig gewesenen Schultern legen.

Indessen hatte der pralle Seesonnenschein Emil und Gabriele vom letzten Glitzernaß getrocknet.

Kurz entschlossen rafften sich beide räkelnd dazu auf, in ihre Zellen zu verschwinden und nach der elementaren Stärkung wieder in die Kleider zu fahren …


Nach einem weniger langweiligen, als für Emil einsamen Mittagsmahl im Kurhaus – entsetzt sah er die meisten Gesichter von Réunion, Promenade und Familienbad wieder – machte er sich für den Antrittsbesuch in der Villa Hartstein fertig.

Denn Gabriele hatte ihn für vier Uhr zum Kaffee geladen. Und pünktlich auf den Glockenschlag stand er mit einem riesigen Rosenstrauß in der geräumigen Empfangshalle, wo »sie« ihm in einem seidenen Teekleid überaus gnädig entgegentrat.

»Ah – sieh da, unser Doktor!« schnarrte sie. »Nemmen Sie – ich bitte – nur Platz. – Mammullek erscheint gleich.«

Er küßte ihr galant die Hand, die sie ihm jedoch mit einem vielsagenden »Nicht da kissen!« entzog.

Nach einigen ziemlich gleichgültigen Wendungen der ersten Begrüßung, trat auch die Mutter – ebenfalls seiderauschend, aber ohne jeden Schmuck – dazu. Emil erhob sich und überreichte ihr die Blumen, die sie dankend entgegennahm, um ihre Spitznase für einen Moment darin zu vertiefen.

Lachend deutete Gabriele dabei auf Emil.

»Mein Lebensretter, Mammullek! Wenn err nicht mit mirr gewesen wäre, läge ich jetzt als Fischfraß auf küllem Meeresgrunde. –«

»Schauerlich! – Entsetzlich! Gabi, um Gottes Willen!" stemmte sich die Mama gegen diesen frivolen Gedankengang und bat ablenkend zum Balkon.

Durch einige mit aller Behaglichkeit ausgestatteten Gesellschaftsräume ging man nach hinten ins Freie.

Auf der glasgedeckten Gartenterrasse stand sehr einladend der buntbestellte Kaffeetisch. Das lichte Hellgrün des hier geschmackvoll zwischen Tassen und Teller verstreuten Zittergrases stand seltsam zu den vollreifen, schwarzen Kirschen, die wahllos in reicher Fülle über die Kaffeedecke hingeworfen waren.

Emil dachte blitzartig an seine Kaffeetische zu Hause und wurde ganz mißmutig bei dem Vergleich.

Gabriele ergriff zappelig ein im Stiel zusammengewachsenes Kirschenpaar und nahm es am Stielende kokett zwischen ihre roten Lippen.

»Kommen Sie, Doktor! Als Rettungsmedaille dürfen Sie eine Kirsche von meinem Munde pflücken!«

Mit seiner Schellfischschnute schnappte Emil frech nach beiden und riß sie rasch ab.

Die Mutter lachte gekünstelt ob des Scherzes. Gabriele aber gab ihm energisch einen gelinden Backenstreich, weil er zu viel des Guten geraubt hatte.

»Eine war doch für mich. Das sollte eine Art Vielliebchen sein,« murrte sie dann und hatte damit plötzlich auch den russischen Akzent vergessen.

»Nach schwarzen Kirschen steigt man hoch!« zitierte Emil auf polnisch ein altes polnisches Sprichwort, während sich Gabriele verständnisinnig eine Zigarette anzündete.

»Papyrossa gehört bei mir zum täglichen Leben,« erläuterte sie diese Unsitte vor dem Kaffee.

Mit dem augerfrischenden Ausblick in die prächtigen, weitverzweigten Baumkronen des alten Besitzes schlürfte Emil arglos seinen schweren, schwarzen Mokka, als Gabriele plötzlich diesen Gedankensprung tat: »Wie stellen Sie sich als Jurist zur Frauenfrage, Doktor?«

»Offengestanden, überhaupt nicht! Weder für Frauen-, noch für Männerpolitik habe ich etwas übrig. Ich bin keine Kampfnatur,« gab er sich – ohne nachzudenken – eine geistige Blöße.

»Aber Doktor!" fuhr Gabriele vom Goldstühlchen auf. »Da muß man Sie ja politisch schulen, bevor man – sich näher mit Ihnen befreundet.«

»Ich bin ein neutraler Unpolitischer. Ein unbeschriebenes Blatt,« lachte Emil meckernd, und Mama Hartstein klatschte: »Bravo!«

»Aber ich bin – Edelanarchistin,« sagte Gabriele sehr bestimmt. »Wir fordern die absolute Freiheit aller Lebewesen und vor allem – der Frau – in jeder Beziehung.«

»Können Sie meinetwegen bei mir haben!« winkte Emil mit dem Zaunpfahl.

Aber die Mutter fürchtete immerhin Schwierigkeiten und wollte solche sofort ausschalten.

»Meine Tochter meint das nur theoretisch – natürlich. In der Praxis sieht das alles ganz anders aus. Ich bin ja auch eine alte Frau, während Gabi erst eine junge werden will.«

»Ei – ei! Kaum glaublich!« stichelte Emil. »Aber wenn sie jede doch überlieferte Abhängigkeit vom Manne ablehnt, wie soll ihr da ein holdes Eheglück blühen?« wurde er plötzlich poetisch.

»Eheglück?« hielt sie ihm vor. »Ich bitte Sie, wie behandeln die meisten Männer ihre Frauen? Als Lustwerkzeug oder Lasttier?«

»Das ist halb so wild,« neckte Emil zwinkernd und verfiel in seine knappe Studentenweisheit. »Die Stellung der Ehefrau richtete sich bei den alten Völkern nach den Begriffen des stärkeren Geschlechts von ihrem Werte.«

»Sie wollen sagen, Geldwerte?« ereiferte sich Gabriele etwas.

»Kaum, gnädiges Fräulein,« gab Emil überheblich zurück. »Denn den Alten war der Götze Geld noch nicht so autochthon.«

»Je unkultivierter ein Volk ist, desto unwürdiger gestaltet es die Stellung des Weibes,« fiel jetzt Mutter Hartstein beruhigend ein, während ihre Tochter ziemlich schroff wurde.

»Bei den farbigen Rassen sind die Frauen – kraß gesagt – Sklavinnen. Arbeitende Haustiere!«

»Das weiß ich wohl –« Emil wurde aber am Weitersprechen durch Gabrieles Temperamentsausbruch verhindert.

»Die Fidschi-Insulaner huldigen noch heute dem Frauenraub. Und beim Islam ist der Frauenhandel immer noch Tageserscheinung,« entsetzte sie sich.

»Aber wir leben ja in Deutschland, gnädiges Fräulein. Da haben es die Frauen doch ganz nett. Wie Figurae zeigen, stecken sie weder in einem Harem, noch tragen sie sonst irgendwelche Spuren von Knechtschaft oder Leibeigentum. Wozu also nur Ihr Edelanarchismus?« wandte Emil jetzt ein und schlug breitspurig ein Bein über das andere.

Aber Gabriele wollte ihn auf alle Fälle geistig unterkriegen.

»In Deutschland ist die scheinbare Lösung der Frauenfrage nur ein schlechter Firnis. Jede auch geistige Einschränkung des Weibes muß verschwinden, Herr Doktor!! Die einstige Prunkhöhe der deutschen Frau zur Zeit des Rittertums als Beherrscherin des Mannes ist mein Maßstab.«

Emil machte es Spaß, mit ihr weiterzustreiten.

»Das war doch eine unsittliche Vergötterung und verließ nur zu oft jede Grenze der erlaubten Vernunft … Wenn Sie solchen Vorbildern nachstreben, züchten Sie ihr ganzes Geschlecht zurück zu einer epidemischen Hysterie, die aus dem sicher ganz erträglichen Harem der Osmanen nur ein Riesenirrenhaus folgern würde,« scherzte er selbstgefällig und lachte wieder grundlos.

»Sie bewilligen also der Frau keine Rechte – weder im Staate – noch im Hause?« stellte Gabriele fast verzagt fest.

»Wozu diese Reibungen, Kind? Das Leben ist selbstsüchtig genug, um jedem Menschen soviel Püffe, wie er braucht, zuzuteilen,« wollte die Mutter sie weiter besänftigen. Und Emil sprang ihr sofort dozierenden Tones bei.

»In sozialer Hinsicht ist hierzulande den Frauen eine genügende Gleichberechtigung mit dem männlichen Geschlechte bereits zugestanden, wenn auch ihre Rechtsmündigkeit und Staatsstellung vom Gesetzgeber teilweise eingeschränkt blieb. – Und das ist vielleicht ganz gut. Wenigstens vorläufig.« Dieser Schlußsatz reizte Gabriele zu einem empörten Ausfall.

»Die Befreiung der Frau von jeder irgendwie einzwängenden Bevormundung wird meine Lebensaufgabe sein,« warf sie sich fuchsteufelswild in die Brust.

Nun griff die Mutter ängstlich ein letztes Mal durchgreifend ein, um zu guter Letzt Emils beste Absichten nicht noch erschüttert zu sehen.

»Also jetzt Schluß mit der Politik, Kind! Setze dich lieber an den Flügel und spiele etwas,« sprach sie ihr gut zu.

»Ja bitte – etwas Wagner,« schmeichelte dann auch Emil; denn das Ziel, sie auf alle Fälle, trotz ihrer verschrobenen Ansichten, zu ködern, durfte er sich auf keinen Fall entgleiten lassen.

Kuchenkauend stand Frau Hartstein auch sofort auf, schritt gleich voran ins Nebenzimmer, öffnete die Klaviatur und winkte der Tochter.

Gabriele folgte ihr beflissen und griff voll in die Tasten.

Der Feuerzauber ertönte mit jener anschwellenden Klangkraft, die höhergeartete Menschen so ganz gefangen nimmt.

Emil aber machte es sich in einem Liegestuhl bequem, nachdem er sich vorher eine dicke Importe aus Sally Hartsteins bester Kiste dazu angeraucht hatte. ›Der alte Herr muß eine Genießernatur sein‹ schloß er aus der Güte des Tabaks.

Indessen phantasierte Gabriele mit musikalischem Feingefühl weiter, und träumend lauschte er den zwingenden Tönen zu Wotans Abschied.

Während er dicke blaue Rauchschwaden in die freie Luft blies, trat die Mutter bedeutsam lächelnd zu ihm und begann jetzt ein kaum erwartetes Melodram: »Herr Doktor. Wozu sollen wir noch länger miteinander Versteck spielen? Sie und ich wissen, weshalb Sie da sind. Meine Tochter ahnt es. Auch sie sehnt sich – Sie hörten es – nach Selbständigkeit, genau wie ich mich als Mutter danach sehne. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Sie ein anständiger, charakterfester Mensch sind und mein Kind glücklich machen werden.«

Emil triumphierte innerlich über die Vertrauensseligkeit dieser Frau. Damit kam ihm der Gedanke an den Papa.

»Vorausgesetzt, daß Ihr Herr Gemahl nichts dagegen hat,« wandte er darum ein, da er ja als Brautwerber schon seine Erfahrungen gesammelt hatte.

Mama Hartstein legte bei der Nennung des Wortes »Gemahl« ihr schon verblühtes Antlitz in strenge Falten und übertönte mit gehobenem Organ sogar Gabrieles Klavierbegleitung.

»Herr Doktor!« sagte sie mit schneidender Stimme. »Beantworten Sie mir vor allem die eine Frage: Wollen Sie mein Kind heiraten?«

»Aber gerne! Selbstredend!« jubelte Emil, den offenen Himmel lebenslänglichen Faultiertums lechzenden Auges erblickend.

»Also dann ist es gut. Geben Sie mir mal ihre Hand!« wurde sie noch ernster.

Emil wollte sich hierzu erheben, Frau Hartstein drängte ihn aber, seine Rechte ergreifend, auf den Liegestuhl zurück.

»So, –« atmete sie dann beruhigt auf. »Das Weitere wird sich finden. Sie können ja jetzt meine etwas verschlossene Tochter langsam erobern. Gelegenheit haben Sie hier genug dazu. – Mein Kind ist keusch – aber leicht lenkbar! – Was nun meinen Mann anbetrifft, so muß ich Ihnen sagen, daß er dabei nicht das Geringste mitzusprechen hat –.«

»So – so!?« wurde Emil baß erstaunt.

»Er ist ein Taugenichts und Frauenjäger –. Auch jetzt – wieder dämpfte sie ihre Stimme etwas und zog die hohe Stirn in krause Runzeln.

»Ich weiß,« wollte Emil es ihr erleichtern. »Er ist mit einer Metropolchoristin in der Schweiz.«

Beschämt senkte Frau Hartstein ihr Haupt.

»Ich muß Sie in diese Verhältnisse einweihen. Sonst erfahren Sie es später von fremden Leuten. – Er ist ja stadtbekannt: 57 Jahre alt und hat noch nicht genug.«

Durch einen lindernden Zuspruch suchte Emil ihren Schmerz zu begütigen. »Gegen die menschlichen Leidenschaften ist wenig zu machen, gnädige Frau. Alter schützt vor Torheit nicht. Damit müssen Sie sich abfinden.«

Die Dame sah ihm voll ins Auge. Ihre Stirn glättete sich sichtlich wieder.

»Das habe ich auch bereits getan. Mir liegt lediglich die Zukunft meiner einzigen Tochter am Herzen. Wenn die definitiv gesichert ist, will ich mich von meinem Gatten trennen, um fürder nur auf Reisen zu leben.«

Emil drückte ihre Hand noch etwas fester.

»Was an mir liegt, Sie dabei – wie ein Sohn – zu schützen, soll geschehen,« bekräftigte er sein Versprechen noch mit einem Handkuß und hatte sie damit ganz gewonnen.

»Die rein pekuniäre Regelung ihrer Mitgiftfrage liegt gleichfalls in meinen Händen. Gabi bekommt von ihrem Großvater in Lodz, meinem Vater, allein eine Million Rubel in bar,« war ihre mehr als beglückende Auskunft, die Emil vollends zu ihrem Vasallen stempelte.

Aus dem Nebenzimmer wuchtete im Crescendo Wagners wildlustiger Walkürenritt mit dröhnendem Fortissimo in diese sehr prosaische Aussprache hinein. Wie ertappte Schulsünder erhoben sich nach dem musikalischen Abschluß ihres Geheimbundes beide Zuhörer und traten ganz beschämt zu Gabriele an den Flügel.


Nach Verlauf von zwei Wochen war Dr. Emil Uhlig zum zweiten Male glücklicher Bräutigam. Gerade einen Tag vor der Ankunft des Alten war Gabriele seinem girrenden Schmachten erlegen, nicht etwa – weil Emil ihr besser gefiel als so und so viel andere männliche Wesen, sondern sie lieferte sich, wie ein dummes Schäflein, dem ersten besten Widderböckchen aus, der zunächst ihre sinnlichen Begierden sicher reichlich befriedigen würde, und von dessen verweichlichtem Wesen sie ein Leben voller »Entwicklungsmöglichkeiten« erhoffen durfte … Kraft ihres Barbesitzes glaubte sie, durch den Gewinn einer eigenen Häuslichkeit – als Gattin eines ganz annehmbaren Rechtsanwalts – sich diejenige gesellige Stellung schaffen zu können, die ihr nach und nach die Verwirklichung aller angelesenen Phantastereien eintragen würde.

Sehr beklommen und mehr als vorsichtig hatte Emil tropfenweise das immer deutlicher werdende Endergebnis seiner Badereise nach Hause berichtet.

Und der Büffel konnte vor verhaltener Vorfreude nicht umhin, den Wunsch zu äußern, »am liebsten drei Monate verschlafen zu wollen, um nach glücklichem Abschluß der janzen ›Sache‹ wie neujeboren zu erwachen«.

Mit ähnlich ängstlicher Spannung erwartete Emil in Heringsdorf das Eintreffen seines unbekannten Schwiegerpapas.

Endlich kam mit einer ziemlichen Verspätung sein Telegramm aus Territet, das ihn zum Wochenende anmeldete.

Schon einen Tag vor seinem Erscheinen hatte der Rechtsanwalt, der indessen wie der Hausherr in der Villa Hartstein aus und ein ging, besondere Vorbereitungen für erhöhtere Tafelfreuden bemerkt.

Als er den alten, weißhaarigen Mann nun kennen lernte, der über das »Schicksalswalten« während seiner Abwesenheit auch nicht im mindesten bedrückt war, hatte er die unsichere Empfindung, einer Art Lukullus vorgestellt zu werden. Der Alte bewegte in einem fort seine lüsternen Lippen wie ein Kaninchen, auch wenn er nicht sprach … Seine sinnliche Unterlippe hing dabei soviel tiefer, als er die viel zu kurze Oberlippe gleichzeitig verkniffen zurückzog … Bei der Begrüßung sah Emil ferner, daß Papa Sally, außer einem einzigen echten, nur Goldzähne – wie die sprichwörtliche Morgenstunde – im Munde hatte. Über der Weste seines hocheleganten Bastanzuges, zu dem er blütenweiße Gamaschen auf braunen Lackschuhen trug, baumelte an einer schwarzen Seidenschnur ein goldumrändertes Einglas, was ihn Emil sofort sehr sympathisch machte.

Bei der Mahlzeit aber kamen Hartsteins Geheimtriebe erst zur rechten Entfaltung.

Als Emil seine Kraftbrühe kaum zu löffeln begonnen hatte, fiel ihm der Alte freundschaftlich in den Arm.

»Herr Uhlig – essen Sie nicht so viel Suppe. Sie nimmt ihnen ja den besten Platz im Magen weg,« rief er warnend und für das leibliche Wohl seines Gastes fürchtend. Dabei erhob er das mit dem eben liegend servierten Rotwein gefüllte Weinglas. Seine Lippen lachten, und die dauernd etwas entzündeten Augenlider riß er plötzlich weit auf.

»Pröstchen! Das hier ist mehr wert als Suppe … Die Suppe dient lediglich als magenwärmender Vortrab. Als Hauptsache gilt mir der Gemüsegenuß – und – last not least – die Fleischgerichte … Auf kalte Sachen, Austern, Hummer, Schwedenplatten legt man in meinem Alter weniger Wert! Unter zwei Fleischgerichten, natürlich garniert, darf aber meines Erachtens eine anständige Tafel niemals gehalten werden.«

»Um Gottes willen!« liebäugelte Emil mit diesen Schlemmeraussichten. »Verdirbt man sich da nicht täglich den Magen?«

»I wo,« beruhigte ihn der Alte, langsam an seinem Wein schnuppernd, um ihn dann gierig auf die Zunge zu gießen … Schnalzend nickte er darauf befriedigt. »Mein System! – Sie kennen die Poesie des Essens noch nicht, junger Mann … Die Hauptsache für mich sind die Genüsse des Gaumens. Russischen Kaviar will ich allenfalls als Anreger gelten lassen! Ich bin ein ernster Poet des Essens. Meine Menus sind Lyrismen, Sonette, am liebsten Balladen, die ich aus mir selbst innerlich erzeuge. Ohne die kulinarischen Künste der Küche hätte das ganze Dasein für mich gar keinen Sinn mehr.«

»Bravo!« sagte Emil, um es mit ihm nicht zu verderben.

Innerlich liebäugelte er aber schon als noch unbewußter Poet dieser Magenlustbarkeit mit dem »System« …

Frau Hartstein schüttelte bei den gespreizten Bemerkungen ihres Gemahls mißbilligend ihren Kopf, während sich Gabriele gähnend jeder Kundgebung für und wider enthielt.

Nach dem doppelt genossenen Nachtisch winkte Papa Hartstein Emil geheimnisvoll in sein Rauchzimmer und goß ihm eigenhändig einen echt französischen Likör ein.

Gesprächsweise berührte er dabei auch Emils Verlobung.

»Es bleibt mir wohl nur übrig, Ja und Amen zu sagen, nach den bereits gefallenen Erklärungen meiner Frau und Tochter.«

Nur hielt er es seiner Vaterwürde wegen doch für angebracht, seinen Schwiegersohn lässig nach Familie, Einkommen und Religion zu fragen.

Bis auf die letzte der drei Antworten renommierte Emil das Blaue vom Himmel herunter.

Seine Praxis war die weitaus größte und seine Familie die allerfeinste in ganz Berlin!

Bei der Religion fürchtete er die spätere Entlarvung auf dem Standesamt und bekannte darum etwas schüchtern die volle Wahrheit.

Da aber warf sich der sonst so gemütliche Lebegreis ganz verärgert in die Brust.

»Freundchen, das gibt's nicht – bei uns Hartsteins: Wenn Sie ein waschechter Christ gewesen wären, für den ich Sie auf den ersten Blick auch hielt, hätte ich, vielleicht, nicht nein gesagt. Aber da Sie ›Jude-getauft‹ sind, kann ich Ihnen aus Prinzip meine Tochter nicht geben.«

Emil fühlte die Welt vor sich versinken. Der Fluch der Taufe verfolgte ihn beharrlicher, als ein Kirchenbann.

»Ich trete ja selbstverständlich sofort zum Judentum zurück, Herr Hartstein!« winselte er widerlich mit weinerlicher Stimme, um auch dieses letzte Hindernis aus seinem Wege zu räumen.


Nach einigen Tagen gemeinsamen Aufenthalts hatte der Vater sich den Verfügungen der Mutter endlich beigesellt und unter der ausdrücklichen Rücktrittsbedingung Emils schließlich seinen Segen erteilt.

Jetzt erst fuhr die vereinigte Familie Hartstein in der Begleitung des Bräutigams nach Berlin zurück.

Werner sollte währenddessen von Emils bevorstehender Verlobung durch einen Anruf Otto Uhligs in Kenntnis gesetzt werden, wobei man vorläufig den Namen der Braut recht raffiniert verschweigen wollte.

Dieses ganze Täuschungstheater erwies sich jedoch als unnötig, weil Otto am Fernsprecher Werners Abwesenheit von Berlin feststellte.

Auf der Bank hieß es dann, er sei mit einer längeren Revisionsreise in die östlichen Provinzen beauftragt worden.

Emil hatte also Muße genug, seine erneute Eingemeindung ins Judentum mit einer geradezu heftigen Energie ins Werk zu setzen.

Zunächst begab er sich zu einem besonders glaubensstarren Rabbiner – so wollte es der Schwiegerpapa der orthodoxen Gemeinde … Dieser fromme Geistliche hielt Emil unter ehrlichster Verachtung den schimpflichen Frevel vor Augen, seinen angestammten Glauben leichtfertig durch die verwerfliche Untat der Taufe verleugnet zu haben.

Nach dieser eindringlichen Gewissenspredigt des Gottesmannes hatte er sich auf dessen Anweisung im Keller des jüdischen Gemeindehauses zunächst einem Proselytenbade zu unterziehen.

Vor zwei selbstgewählten Zeugen mußte er seinen als unrein erachteten Körper vollständig entblößen und wurde durch dreimaliges Untertauchen in der »Mikwe« leiblich von seiner Todsünde entsühnt, während ein eigens hierfür bestellter Vorbeter nach dem religiösen Ritus der Schriftgelehrten den vorgeschriebenen Segensspruch laut klagend dazu deklamierte. Hierauf folgte ein voller Fasttag zur ausgiebigen Reinigung der inneren Organe.

Dieser körperlichen Waschung schloß sich die bei weitem schwerere der Seele an …

Emil mimte mehr als vierzehn Tage nur den Reuig-zerknirschten und ochste die ganze biblische Geschichte von A bis Z auswendig, bis er nach einem sehr strengen Examen vor drei Rabbinern als erlöster Büßer wieder in den Schoß des Volkes Israel zurückgenommen wurde.

Nun erst genehmigte Herr Sally Hartstein, der dem neuen Glaubensbekenntnis seines Schwiegersohnes persönlich beigewohnt hatte, die Verlobungsanzeige im Berliner Tageblatt.

Vater Adam – seit zwanzig Jahren nur mehr Dissident, um dem schmerzlichen Tribut an den jüdischen Gemeindesäckel zu entgehen – war heilsfroh, daß nicht auch von ihm die so beschwerliche Rückkehr zum Judentum gefordert wurde …

Denn Beten und Kasteien gehörte vor all den anderen Auflagen kaum zu seinen Annehmlichkeiten.


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