Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Mammusch, mir noch ein Paar Wiener!« bettelte Otto Uhlig zu seiner Mutter auf und hielt ihr seinen leeren Teller hin.

Die Familie saß im Speisezimmer um den recht unsauber gedeckten Tisch herum beim Abendessen. Die Familie, das heißt: die Mutter mit ihren beiden Jüngsten, Ellen und Otto.

»Der Emil kommt heut' wieder so spät, und wir wissen doch nie, ob er auch schon bei Werner Abendbrot gegessen hat,« entgegnete ihm verhärmten Tones die Mutter, wobei sich ihr noch ein tiefer Seufzer entrang.

In das abgemagerte Gesicht ihres Jüngsten blickte sie … Wie elend sah der dreiundzwanzigjährige Mensch auch aus! Hochaufgeschossen und entschieden unterernährt, mochten seine eingefallenen Züge ein treffliches Modell der Hungersnot für den bildenden Plastiker abgeben. Seine braunen Augen lagen tief in den großen Höhlen, und das nur sparsam sprießende Haar auf der Oberlippe war semmelblond, trug also nicht dazu bei, diesem Kindergesicht etwas wie Mannbarkeit aufzuprägen. Der Mutterblick glitt sanft über das dunkelblonde Haupthaar und koste streichelnd über die begehrlichen Lippen des Jünglings. –

»Brauchst du denn immer noch eine Extrawurscht?« mischte sich die um zwei volle Jahre ältere Schwester Ellen ins Gespräch, die bis dahin schweigend durch ein Glasröhrchen ihre eisenhaltige Medizin geschlürft hatte, während sich aus dem von reichem Blond eingerahmten Kopfe ein Paar stechend graue Augen auf das gelbliche Gesicht des Bruders hefteten …

»Halt die Gosche!« gab ihr der junge Student ruhig und ohne sie weiter zu beachten zur Antwort. –

»Aber Kinder!" wollte Frau Hulda die beiden beschwichtigen, und eine Träne rollte über ihre geröteten Wangen, als aus dem Nebenzimmer plötzlich und unvermittelt lautes Geschrei an die Ohren der friedlosen Tischrunde klang …

»Ein Leibgedinge! Ausgerechnet ein Leibgedinge!« Widrig greinend stieß es der tiefe Baß eines alten Mannes heraus. »Ein Leibgedinge!« wiederholte er und setzte, sein Organ dabei immer höher steigernd, mehrfach brüllend hinzu: »Hexen und Heiden! Hexen und Heiden! Hexen und Heiden! Hexen und Heiden macht man erblos!« –

Das laute Geschrei des Alten im Nebenzimmer versöhnte die Drei am Tisch auf der Stelle, vereinte die Geschwister sofort mit der Mutter gegen ihren rasenden Vater …

»Der Büffel wird wohl schon wieder mal verrückt?« fragte Otto gelassen seine Mutter, die sich ihr früh ergrautes Haar schlicht aus der faltenreichen Stirn strich.

»Schon den ganzen Nachmittag tobt er wieder wegen Großmamas Vermächtnis an Tante Frieda,« gab ihm Frau Hulda scheinbar gleichgültig zur Antwort, ohne doch ihre geheime Scheu vor der Brutalität ihres Gemahls ganz verbergen zu können …

»Wenn der Emil erst sein Examen gemacht hat,« warf das junge Mädchen hier rasch ermunternd ein und ergriff die roten, abgearbeiteten Hände der Mutter … Wie ein Zauberwort wirkte der Name »Emil« auf die gequälte Frauenseele. Ihre vom Weinen dauernd entzündeten Augen blitzten heller, und ihre einst so schön gewesenen Züge überhuschte ein freudiger Schein …

»Ja! Ellen, wenn wir das erst erreicht haben! Da sind wir endlich alle Armut los! Dann hat unsere Not auch ein Ende! Das wird die Rettung aus dem furchtbaren Unglück, in das dar Vater uns alle gestürzt hat! Und schon darum müßt ihr das unsere letzte Zuversicht sein lassen, Kinder! Und nicht immer zanken und streiten!« hastete sie wieder schwer aufseufzend heraus.

»Ja! Ja!« setzte Otto noch hinzu, und das sollte für die Mutter eine neue Hoffnung sein: »Wenn der Emil erst Assessor ist, soll er diesen verfluchten Büffel entmündigen lassen! Dann bist du ihn für alle Zeit los, diesen niederträchtigen Quälgeist!« –

»Hexen und Heiden!« scholl es da wieder stark und laut ins Speisezimmer, und verängstigt fischte Frau Hulda das letzte Paar Würstchen aus der Terrine und legte es auf den Teller Ottos, von dem es mit drei Bissen verschlungen wurde …

»Hexen und Heiden! Hexen und Heiden! Hexen und Heiden!« brüllte der Mannesbaß inzwischen weiter, ohne auch endlich – wie man erwartete – einmal sichtbar zu werden, während die Mutter scheu die Tür nach dem Flur öffnete und nach der Küche rief: »Selma, bringen Sie das Essen für das gnädige Fräulein!«

Ein noch unentwickeltes, kaum siebzehnjähriges Dienstmädchen erschien nach kurzer Zeit und brachte zunächst einen Teller Kartoffelsuppe auf einem vor Schmutz starrenden Holztablett herein, den sie vor Ellen ungelenk hinsetzte, wobei ihr Daumen ein kurzes, unfreiwilliges Warmbad in der Suppe nahm …

»Iß nur, so lange es warm ist, mein Kind!« streichelte die Mutter ihren Liebling, die einzige Tochter.

Die warf einen prüfenden Blick nach dem Teller …

»Kartoffelsuppe! – Ae! – Warum keine Hühnerbrühe, Mammusch?« mäkelte sie. »Wenn man den ganzen langen Tag an der Schreibmaschine geschuftet hat, will man doch wenigstens was Anständiges zum Abend vorgesetzt haben!« schmollte sie weiter und stieß den Teller unwillig zurück …

»Hühnchen sind doch jetzt zu teuer, Ellen! Jedenfalls für uns unerschwinglich! Unter zwei Mark vierzig bekommt man selbst in der Markthalle kein Suppenhuhn. – Und, wo wir gerade kurz vorm Ersten sind, muß ich jeden Groschen doch erst dreimal umdrehen, bevor ich daran denken darf, ihn auszugeben! Probier's doch mal ruhig, Kind! Kartoffelsuppe ist gerade für deinen kranken Magen so gut und gesund!« begütigte sie die schon ganz verschüchterte Mutter und setzte ihr den tiefen Teller wieder vor …

»Nein, nein! Ich will nicht!« schob ihn das junge Mädchen recht energisch zurück. »Grade mag ich keine Kartoffelsuppe essen! Und wenn die Mahlzeiten sich weiter so verschlechtern, mach ich's doch noch mal wahr und ziehe fort – in eine Pension! – Für achtzig Mark, die ich dir monatlich von meinem schmalen Gehalt abgebe, kann ich doch wenigstens auch anständige Kost verlangen!«

Verzagt wußte Frau Hulda nichts zu erwidern. Dagegen tat es Otto um so drastischer.

»Halt die große Gosche,« sprang er – für die Mutter sprechend – ein, so daß Ellen wütend auffuhr und gegen ihn loslegte: »Du unverschämter Lümmel, halt du erst dein loses Mundwerk! Stiehlt dem lieben Gott den ganzen Tag und hat die Frechheit, mir armen Arbeitsbiene gegenüber hier noch so 'ne Lippe zu riskieren! Das dicke Bierglas hau ich dir vor deinen dürren Schädel, wenn du dir diesen Ton mir gegenüber noch einmal erlaubst!« Und sie griff die auf dem Tisch stehende irdene Bierkuffe von Emils Platz auf.

Sofort faßte sie Ottos Faust hart um ihr feines Handgelenk. Und so standen sie eine Weile wortlos. Die Mutter aber sah ihnen ohnmächtig zu wie eine Henne, die junge Entlein ausgebrütet hat – Entlein, die ihr nun fortschwammen, ohne daß sie sie weiter beschützen konnte. Schon fürchtete Frau Hulda eine neue, hier an der Tagesordnung stehende Prügelei der Geschwister …

In diesem Augenblicke öffnete sich plötzlich die knarrende Stubentür: Der Alte brummte, schon halb ausgekleidet, herein.

Der unvermutete Auftritt des Vaters, sein in dieser Verfassung halb komischer, halb grotesker Anblick schreckte die Streitenden auseinander und hieß sie, sich um die Mutter gruppieren …

Der Vater glotzte Ellen aus der Türfüllung wild an …

»Willst du dein Großmaul in meinem Hause halten, oder soll ich dich sofort rausschmeißen? Hier bin ich Herr, verstehste? Ich pack dich beim Wickel und bring dich dahin, wo du hin gehörst! Du freches Frauenzimmer du!«

Bärbeißig hatte sich Adam Uhlig von der breiten Schwelle, auf der er stehen geblieben war, jetzt ganz ins Speisezimmer geschoben und grunzte der Tochter weitere unverständliche Drohungen ins Gesicht …

Seine untersetzte Figur war jetzt nur noch von einem weißen Nachthemd bekleidet, das nach unten in groben Lederhosen verschwand, die wieder schachtelhalmartig in zwei bis an die Knie reichenden Schaftstiefeln steckten. So erinnerte der gedrungene Menschenleib, wie auch sein dicker runder Kopf wirklich an den Typus des australischen Büffels, wie ihn Otto denn auch seit den Tagen der Kindheit erst wohl nur scherzhaft, dann später aber bleibend getauft hatte. Der Vater nahm ihm das auch gar nicht übel. In der Familie der Uhligs bestand nämlich von alters her eine Neigung, allen Mitmenschen einen Spitznamen anzuhängen. So fauchte der Alte noch eine Weile weiter … Sein stupides Antlitz veränderte dabei keinen Augenblick den Ausdruck. Von einem wolligen Braunbart völlig eingerahmt, wurde der zottige Haarwuchs nur von der kurzen Stupsnase und zwei dunkelblauen, toten Fischaugen unterbrochen, seine glänzende Glatze als Krönung nach oben, wie auch sein feistes, unbewaldetes Doppelkinn als massiven Abschluß nach dem kurzen Halse nicht zu vergessen …

Ellen stellte die Kuffe, die sie noch krampfhaft in der schmalen Mädchenhand hielt, jetzt wieder auf den Tisch, versagte ihrem Erzeuger aber jeden Respekt und wandte sich wortlos zum Korridor, um eilig aus dem Zimmer zu verschwinden, was den Alten nur noch weiter reizte, so daß er hinter ihr herlief.

»Verdammtes Biest! Zerbrich's Genick!« schrie er ihr verdutzt nach, als die Tür blitzschnell vor seiner Nase ins Schloß fiel …

»Du dicker Büffel, was geht dich denn überhaupt unser ganz persönlicher Disput an?« lenkte Otto seinen etwas schwerfälligen Gedankengang von der zugeschlagenen Tür fort, an der Uhlig vorläufig weiterfluchte …

Otto, als Nesthäkchen, war Adams ausgesprochener Liebling und durfte sich jeden, auch den gewagtesten Ulk mit dem sonst nicht gerade sehr gemütlichen Vater erlauben, der sich auf diese Anrede seines Jüngsten langsam umdrehte.

Die festen wasserdichten Reitstiefel stampften in kleinen Schritten auf Otto zu, während Uhligs kräftige kurze Arme sich einladend ausbreiteten, wobei sich das Nachthemd weit öffnete und die behaarte Brust des Alten unverhüllt den an solche Visionen längst gewohnten Blicken von Mutter und Sohn preisgab … Mit breitem Grinsen umarmte er Otto in zärtlicher Liebkosung.

»Püdde, mein geliebter Püdde« – das war Ottos Spitzname – »kannst mit deinem Büffel ja machen, was du willst! Der alte Büffel hat sich seine Hörner längst abjestoßen! Nu komm, jib mir 'nen Kuß!«

Mühsam nur entzog sich Otto dieser Zumutung …

»Ach, Quatsch! Leg dich schlafen und verschone uns hier mit deinem blödsinnigen Gebrülle!« riet er ihm, weil es des Vaters Gewohnheit war, spätestens um acht Uhr abends zu Bett zu gehen, dafür aber bereits um fünf aus den Federn zu kriechen …

Adam Uhlig schien aber heute davon noch nichts wissen zu wollen. In ihm toste die Wut, zischte eine fixe Idee. Er wandte sich jetzt seiner Frau zu, und seine eben noch vor Vaterstolz breit lachenden, wulstigen Lippen verzerrten sich wieder zu bitterem Hassen …

»Ein Leibgedinge! In 'ne schöne Familie hab' ich reingeheiratet … ein Leibgedinge! – Für den Positiven ist gesorgt worden – und mich hat man hintergangen! Pziakreff! – Geh! zu deiner Schwester! – Geh! zu deinem Schwager, dem Positiven! – Dem getauften Sanitätsrat! – Dem Ordensjäger! – Dem Geschmarrten! – Geh! nach der Frankfurter Allee! – Geh zum positiven Kirchenältesten! – Hexen und Heiden enterbt man! – Ersticken hätt se sollen, als sie das Testament niederjeschrieben hat! – Erstick du auch! – 's ist die höchste Eisenbahn für dich, du Hexe!« –

Des Mannes wirre Worte, die er abrupt mit großen Zwischenpausen zum Atemholen hervorstieß, dröhnten durch den nicht sehr großen Raum, daß die leicht und flach gemauerten Wände der Neuberliner Mietskaserne erzitterten, und die von der Decke herabhängende Gaskrone klirrend mitklang.

»Aber Adam!« raffte sich Frau Hulda endlich zu einer Erwiderung auf, »ich kann doch wahrhaftigen Gott nichts dafür, daß meine selige Mutter für die Frieda und ihren Mann die paar tausend Mark retten wollte. –«

Weiter kam sie nicht. Schon schrie sie Adam in sinnloser Wut, wild mit den Händen vor ihrem Gesicht gestikulierend, an.

»Ersticken sollst du mit deiner Schwester und dem Positiven zusammen! – Hinterm Zaun! Aber bald! – Denn du hast mit jeholfen! – Hinter meinem Rücken ham se ein Testament jemacht, diese Schieberjesellschaft! – Ein Leibgedinge für den Positiven! – Hahaha! Ersticken soll er dran am schönsten Sommertag! Und nicht abschieben soll er können vor Gewissensbissen, der Lump! – Mich enterbt man! – Wie Hexen und Heiden! – Hexen und Heiden! – Hexen und Heiden enterbt man!«

Der Schaum stand ihm vorm Munde, als er endlich einhielt … Und langsam sickerte sein Speichel in den wüsten Vollbart herab …

Frau Hulda hatte sich auf das Sofa gesetzt und weinte … Otto lümmelte sich neben die Mutter, um sie wenigstens vor tätlichen Angriffen, die immer zu befürchten waren, nach Kräften schützen zu können. Denn der Alte verfiel nun fast dem Tropenkoller! Der Anblick dieser Eintracht von Mutter und Sohn brachte ihn vollends zur Raserei. Unter den gemeinsten Flüchen lief er zum Tisch und ergriff rasch einen Zipfel des grauschmutzigen Tafeltuches. Mit einem starken Ruck riß er die Decke und alles darauf befindliche Geschirr vom Tisch, so daß Porzellan, Glas und die Bestecke mit der Bierkuffe in einem Klump zerbrochen zu Boden geschleudert wurden …

Dabei lachte und lallte er eine Weile stier vor sich hin; dann erst setzte er sich äußerlich beruhigt an den so radikal abgeräumten Tisch, zog ein Spiel Karten aus der hinteren Hosentasche, mischte sie ganz apathisch und teilte zwei Häufchen auf dem zurückgebliebenen Wachstuch aus, um in Ermangelung eines Spielpartners mit sich allein einen Räuberskat zu beginnen …

Als ob nichts Besonderes sich ereignet hätte, vertiefte sich Adam Uhlig, munter vor sich hinpfeifend, bald in die möglichen Kombinationen dieses ihn ganz interessierenden Kartenspiels, während seine Gattin trostlos in sich hineinschluchzte, und Otto blasiert und gelangweilt bald zum Vater nach dem Tisch herüber blickte, bald aber wieder seinen Arm um die weinende Mutter schlang.

Gleichzeitig tickte der Regulator über dem Sofa seinen regelmäßigen Takt dazu …

Eine halbe Stunde mochte so vergangen sein …

Adam hatte gerade seine vierte Partie mit dem großen Unbekannten natürlich gewonnen, als von draußen deutlich vernehmbar die Korridortür aufgeschlossen wurde …

Von der Wand schlug die Uhr zehn reine Schläge.

Der Alte spielte seelenruhig weiter, während die in Tränen schwimmende Frau gleichsam erlöst aufsprang, um behend die Zimmertür zur Diele zu öffnen.

»Gott sei Lob und Dank, das ist der Emil!« entrang es sich ihrem gequälten Herzen, und schon klang das lustige Lachen zweier junger Männer auch an ihr gespannt horchendes Ohr …

»Guten Abend, Mammusch!« grüßte sie ihr Ältester. –

»So spät, Emil!« warf sie ihm vorwurfsvoll entgegen, so daß Emils blasses Gesicht sich mißmutig abwandte.

»Hurra, Frau Hulda! 's gibt Appelkuchen und Schlagsahne! Und noch was ganz Extrafeines für Sie allein! Da, raten Sie mal –?«

»Ach, Herr Werner, Sie kommen auch wieder mal zu uns nach Moabit?« reichte ihm Frau Hulda die Hand und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen …

Werner Uhlig, dem Vetter des Gatten und Freund des Sohnes, entging dies jedoch nicht … Er wollte aber die Stimmung der unglücklichen Frau etwas heben und lachte gezwungen lustig auf.

»Also raten! – Was habe ich hier? –« Als aber Frau Hulda weiter schwieg, schüttelte der mit dem Sohne gekommene Gast endlich die ihm entgegengestreckte Hand und hob ihr mit der anderen zwei ziemlich groß ausgefallene Pakete zu.

»Ananas! Für Sie, und ein paar Apfelsinen für die Kinder! Wo steckt denn Ellen? Was, – schon zu Bett? Ach, die wecken wir einfach wieder auf!«

Sprach's und machte eine Bewegung nach links, um sich Ellens Schlafzimmertür zuzuwenden.

Frau Hulda faßte ihn jedoch leicht am Arm und hielt ihn zurück.

»Pscht! Hübsch ruhig! Pscht! Sie müssen wissen, Werner, daß der Adam wieder seine tolle Woche hat! Eben gab es gerade einen starken Ausbruch! Ich war ganz glücklich, daß der Emil endlich zurückkam. Und nun gehen Sie auch ein bißchen rein und reden Sie mit ihm, daß er sich etwas zusammen nimmt!«

Referendar Emil Uhlig hatte inzwischen die Überkleider abgelegt und öffnete jetzt die Tür zum Speisezimmer, so daß man im Lichtschein der grellen Gaslampe über dem Tisch Adams fest ins Kartenspiel vertieftes Gesicht gewahrte …

Man trat ein.

Ohne den Vater eines Wortes zu würdigen, reichte Emil dem immer noch auf dem Sofa sitzenden Bruder die Hand.

»Hast du gearbeitet, Bursche?«

Otto gähnte erst …

»Ja natürlich!« gab er dann gereizt zur Antwort.

»Hentschel war bei uns! Bis um sechs! Wir haben zusammen Rechtsgeschichte und Pandekten geschuftet.«

»Ah, Bollusch aus dem Geschlechte der Bolloiden!« wandte sich Werner Uhlig jetzt überlaut an seinen Vetter zum Tisch, der nun endlich vom Spiel aufblickte und dem Gaste seine dicke kleine Hand lasch hinhielt, um sie ihm nach knapper Berührung wieder zu entziehen …

Da Adam schon schwerhörig war, liebte er es, so laut zu schreien, wie er es jetzt tat.

»Du bist es schon wieder, Bollusch? Deine Besuche sind mir zu häufig! Das tut nicht gut! Was willst du überhaupt zu nachtschlafender Zeit noch hier bei uns armen Leuten? Mach, daß du nach Hause kommst – in die Klappe!« grunzte er in seiner tiefen Tonart den um dreißig Jahre jüngeren Vetter an. Als Kind hatte er ihm schon in der polnischen Heimat den Spitznamen »Bollusch« angehängt, ohne etwas dagegen einzuwenden, wenn ihm der junge Mann seit Jahren auch Gleiches mit Gleichem vergalt …

Werner war über Adams sonderbare Begrüßungsformel keineswegs verwundert. Er zog seine Zigarrentasche vor und hielt sie dem Alten hin.

»Bollusch, Großgrundbesitzer a. D.! Willst 'ne anständige Zigarre paffen, du alter Narr?« fragte er nur, ohne weiter auf den ihm gemachten Vorwurf des komischen Kauzes einzugehen …

»Gib her! – Und schenk' mir vor allem fufzich Fenje! Du! Ich muß mir nämlich mal wieder die Haare schneiden lassen!« revanchierte sich Adam …

»Das ist allerdings mehr als dringend notwendig!« platzte Werner heraus, steckte Adam eine Zigarre in den Mund und setzte hinzu: »Ich werde mit dir jetzt schnell eine Partie Sechsundsechzig runterspielen; vielleicht hast du Dusel und gewinnst? Dein Haarschnitt ist sogar schon überfällig! Also sagen wir, die Partie zu 'ner Mark. Mit Pauken und Trompeten.«

Lechzend lachten die Fischaugen des Alten und betrachteten freudig Werners feine Züge.

Hochgewachsen stand der noch immer vor ihm. Sein schwarzes, links glatt gescheiteltes Haar paßte prachtvoll zu dem kupferfarbigen Gesicht, daß in seiner ganzen Zusammenstellung etwas Cäsarenhaftes verriet. Ein leuchtendes Augenpaar sprühte in graugrün unter der freien, hohen Stirn, während die kühn geschwungene Nase und der frauenhaft zarte Mund mit der etwas herabhängenden Unterlippe sprechende Beweise für eine alte Kultur der Familie erbrachten …

Adams Augen schweiften von Werners bartlosem, so recht an Napoleon gemahnendem Gesichte hinüber zum Sofa, wo sein ältester Sohn sich neben den Bruder gesetzt hatte …

Zwar glich Emil am Wuchse dem Vetter. Aber sein Kopf war von ganz anderer Art … Emil Uhlig war der Urtyp des sogenannten schönen Mannes.

Blond war sein vom Friseur fest angeklatschtes Haar, blond das englisch gestutzte kleine Schnurrbärtchen. Fischblau und tot sein dem väterlichen völlig gleiches Augenpaar, und blasiert sein ganzer übriger Gesichtsausdruck. Die kerzengerade, ein wenig zu lang vorspringende Nase und der viel zu kleine Mund wurden in ihrer weibischen Wirkung nicht im geringsten durch einen furchtbar breiten Durchzieher auf der linken Backe gemindert, wie auch sein feistes Bierbäuchlein kaum dazu angetan war, ihm die Zuneigung der Frauenwelt zu erobern.

Adam wurde aber bald aus seinen Betrachtungen gerissen …

»Na, willst nu mit mir spielen, Bollusch? Oder nicht?« rief ihm Werner energisch ins Ohr; denn er wußte es wohl, daß Adam Uhlig grob angefaßt werden wollte.

»Ich weiß nicht, von wem du solche noblen Passionen hast? Die Partie zu einer Mark! Wenn ich sie verliere, muß ich se schuldig bleiben. Denn ich hab' nischt! Aber du mit diesen noblen Manieren! Dein Vater war doch der jemeinste Lump auf der ganzen Welt! Das ist mal klar wie dicke Tinte! Aber deine Mutter! Siehste, deine Mutter, die war fein! Vornehm war sie! Die war eine edle, feine Frau! Das muß ihr selbst der Neid im Grabe lassen! Aber dein Vater –! Ich hab'n doch genau jekannt. Wir waren so befreundet, wie du mit Emil! Er war ein ganz jemeiner Halunke –«

»Reden wir nicht davon! Es ist doch stets das alte Lied, wenn wir Uhligs zusammenkommen –« unterbrach Werner den gern in der Vergangenheit wühlenden Vetter …

»Wir Uhligs sind Adel!« behauptete Adam mit vollem Ernst und warf sich stolz in die hemdverdeckte Brust. »Ja ja! Ganz gewiß! Jüdischer Adel,« betonte er. »Dein seliger Großvater Abraham Uhlig war ein kleiner König in Posen … Und wenn er durch die Straßen ging, verneigten sich alle Leute – ganz gleich ob Polen, Deutsche oder Juden – vor ihm! Aber dein Vater war, wie gesagt – ein großer Lump! Mit vierzehn Jahren hat er dich aus der Schule jenommen und ins Jeschäft jesteckt als Lehrling –«

»Du siehst doch, daß ich trotzdem noch ein ganz brauchbarer Mensch geworden bin –,« wollte Werner ihn widerlegen.

»'ne Frage! Mit dreißig Jahren Prokurist der Ostdeutschen Hypothekenbank! Dazu in Berlin! Vielleicht bald auch gar Direktor! Aber das wurdest du aus dir selber! Dein Vater, der Haderlump, hat das doch gar nicht jewollt! Der wollte dein Geld! – Der hatte nur sich und seinen Vorteil im Auge und wollte seine Kinder am liebsten um ihr reiches Muttererbteil betrügen –«

»Und was hast du Besseres oder Schlechteres getan?« mischte sich Emil mit seinem Juristendeutsch hier ins Gespräch. »Du hast Frau und Kinder durch deine Hirnverrücktheit sogar dem Notstande preisgegeben, hast Schande über uns gebracht. Aus der Abraham-Uhlig-Stiftung müssen wir von zweihundert Mark monatlichem Almosen leben, du verstiegenes Rindvieh, du altes!«

Adam grinste …

»Peipe!« so nannte er seinen ältesten Sohn, »Peipe! Auch 'n Mensch! Wenn ich nich sein Vater jewesen wär, hätt' er nie das Abitür jemacht! Ach, Gott bewahre! Nich mal sein Einjähriges! Aber ich hab' immer wieder jesagt, wenn er vom Gymnasium abjehen wollte: Er muß auf der Penne bleiben, und wenn er auch 'n Vollbart kriegt! Nich locker hab' ich jelassen, bis er sich alles ersessen hat! Und nu will so'n Luderlümmel mich Mores lehren! Er will mir jetzt vorkauen, was ich längst verjessen habe! Man kann die Krepangse kriegen!«

»Du hast ganz recht, Bollusch!« beschwichtigte Werner seinen Redefluß. »Du hast deinen Kindern das beste Vermögen mitgegeben, das ein Vater für seinen Nachwuchs anschaffen kann: die gediegene exakte Ausbildung! Und darum darf man dir schon keinen Vorwurf mehr machen, daß du oft Pech im Leben gehabt –, Geld verloren hast.«

»Ja, das kann jedem einmal passieren! Du bist der einzige Mensch, der mich und meine Misere versteht! Die Hauptsache ist, daß die Weste dabei sauber bleibt! Und dafür habe ich wenigstens jesorgt! ›Geld verloren – nichts verloren! Ehre verloren – alles verloren!‹ war und bleibt mein Wahlspruch,« hastete Adam erregt und abgehackt heraus …

»Ein dunkler Ehrenmann, ein übler Vertreter deines Wahlspruchs bist du!« widersprach ihm der Referendar und wies Werner auf das zertöpferte Geschirr am Fußboden hin. »Was er nur hier bloß wieder angerichtet hat, dieser verstiegene Gehirnathlet! Sieh mal her – und gib ihm nur noch weiter recht! Bestärke ihn in seinem Betragen!«

»Hexen und Heiden!« entschuldigte Adam verlegen seinen Exzeß vor dem Auge des Gastes … Dann zündete er sich endlich die Zigarre an, um so einen Übergang für die peinliche Pause, die entstand, zu schaffen.

»Was war denn wieder los?« fragte Werner immerhin neugierig.

Und Emil fühlte sich veranlaßt, ihn aufzuklären.

»Wie du schon weißt, sprang Mammuschs Vater, der verstorbene Doktor Flügel, als dieser blödsinnige Bollusch da« – er wies auf seinen Vater – »zweimal hintereinander auf unserem Rittergut Karrewo Konkurs anmelden mußte, jedesmal mit großen Summen zur teilweisen Befriedigung der Gläubiger ein, um einen außergerichtlichen Vergleich mit diesen zu erzielen! Nach seinem Tode wollte unsere Großmutter ihrer zweiten Tochter, der Tante Frieda, ein geringes Entgelt für diese ihm doch schon zugeflossenen Vermögensteile schaffen und hat ihr –«

»Ein Leibgedinge eintragen lassen! Hast du schon so was Ausjefallenes gehört? Mein geliebter Bollusch! Ein Leibgedinge! Und meine Frau hat man behandelt wie 'ne Hexe oder 'ne Hure! Ja! So! Genau so! Mich hat man enterbt!« keuchte Adam Uhlig asthmatisch dazwischen und sah seinen Vetter treuherzig an, als erwartete er von ihm einen Urteilsspruch zu seinen Gunsten …

Aber er sollte sich irren …

»Ich menge mich prinzipiell niemals in solche Familienstreitigkeiten oder Erbschaftsgeschichten. Davon mag ich nichts weiter hören! Das geht mich nichts an!« winkte Werner brüsk ab …

»Geh', ein altes Weib bist du! Zieh' ab! Mit dir spiel' ich keinen Stich Sechsundsechzig!« wurde Adam eigensinnig wie ein kleines Kind.

»Laß ihn nur laufen, diesen verrückten Kerl!« tröstete Emil den Freund und wandte sich zur Mutter: »Mammusch, kann das Mädchen nicht ein paar Obstteller reinbringen? Wir wollen doch endlich Werners Apfelsinen essen!«

»Und die anderen guten Sachen,« setzte Otto lüstern hinzu.

Frau Hulda, die bis dahin schweigend am Tisch gesessen hatte, stand auf, um das Gewünschte selbst aus dem Küchenschrank zu holen.

Denn sie schämte sich wegen Adams angerichteter Bescherung vor dem Dienstmädchen, obwohl das längst aus ähnlichen Vorfällen genügende Beispiele von Adams Zerstörungswut kennen gelernt hatte.

Inzwischen öffnete Emil am Tisch die Pakete und verteilte Kuchen und Obst auf die vom Büfett herübergenommenen Schalen, wobei Ottos glitzerndes Augenpaar gierig jede Bewegung des großen Bruders verfolgte.

Vier Glasteller zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer abgearbeiteten roten Hand haltend, kam Frau Hulda bald zurück und fragte besorgt: »Emil, hast du denn schon gegessen?«

»Aber sehr, bei Kempinski! Werner hatte mich eingeladen,« gab der Referendar satt zurück, so daß der Alte sich nicht enthalten mochte, ihm eins auf den Mund zu geben.

»Werner wird schon alles ankreiden! Was du frißt, wirst du einmal bezahlen müssen … Was? Du?« wandte er sich greinend an Werner. »Hast nich schon eine Agenda eigens dazu angelegt? Eine Agenda für Emil?«

»Was ich selber denk' und tu!?« lachte ihm Werner keineswegs gekränkt ins Gesicht …

»Schreib' nur alles uff! Alles in die Agenda! Die Anzüge, die du ihm jibst; die Stiefel, die er von dir trägt; die Paletots und die Hüte; die Handschuh und die Oberhemdchen –! Alles in die Agenda!« spann Adam seinen unsauberen Faden fort …

Otto verschlang währenddem eine Apfelsine nach der anderen … Er stillte Hunger und Durst …

Und als Frau Hulda in ihrem harten Deutsch dem Vetter ihres Gatten gar einen neuen Vorwurf machte: »Werner, Sie haben ja dem Emil schon wieder eine nagelneue Weste geschenkt!« grunzte Adam Uhlig im Heulton sein Finale dazu: »Alles in die Agenda!«


 << zurück weiter >>