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Der Idealhörige

Ohne Frage sind Hörigkeit und Masochismus eng verwandt. Ja, man darf ruhig sagen, immer ist Masochismus die Quelle jeder sexuellen Hörigkeit.

Viel schwieriger schon ist die Frage klar zu beantworten: Wo beginnt der echte Masochismus, d. h. wo hört der masochistische Trieb auf latent zu sein, wo beginnt er als krankhafter Zustand zu wirken?

Wir können zwischen der Idealhörigkeit und der rein masochistischen Hörigkeit insofern unterscheiden, als sich »ideale Hörigkeit« natürlich nicht ohne weiteres mit dem Begriff Masochismus abtun und erklären läßt, auch wenn sie ihre feinsten Wurzeln in masochistischen Urtrieben hat. Wir wollen uns zu einer solchen Wertung ebensowenig bekennen wie zu den Schopenhauerschen Lehrsätzen von der Liebe: als bloßen Ausdruck, als Gesetz der Natur zur Arterhaltung. Um so schwerer ist es, Entartung in der Liebe zu differenzieren.

»Als Formen der Entartung müssen wir unterscheiden: die ererbten und die erworbenen,« sagt Möbius in »Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens«.

»Der letzteren dürfen die angeborenen Abweichungen gegenübergestellt werden, weil diese bald ererbt, bald während des Lebens im Mutterleib erworben sind. Ist im Mutterleib durch Amnionstränge der Frucht ein Glied abgeschnürt worden, so ist diese Abweichung einer Amputation nach der Geburt gleich zu achten und ebensowenig vererbbar wie eine solche.

Daß ererbte Abweichungen im allgemeinen weiter vererbbar sind, das wird von allen zugegeben werden, dagegen hat man über die Vererbbarkeit erworbener Abweichungen heftig gestritten.

Früher nahm man unbedenklich an, jede Veränderung des Individuums könne auf die Nachkommen übertragen werden. Dann trat eine Reaktion ein, und eine Zeitlang wollte man von der Vererbung erworbener Eigenschaften gar nichts wissen. Wenn auch noch keine vollständige Übereinstimmung erzielt worden ist, so werden doch jetzt die meisten darüber sich geeinigt haben, daß Veränderungen des Organismus, die eine Veränderung der Keimdrüsen bewirken, auch Veränderungen der Keime, d. h. der Nachkommen bewirken können. Die Veränderung der Keimdrüsen ist so zu denken, daß ihnen mit dem Blute geformte oder ungeformte Bestandteile zugeführt werden, die die Beschaffenheit der Keime verändern. Es werden also alle Vorgänge, die die Zusammensetzung des Blutes beeinflussen, von Bedeutung für die Keimbeschaffenheit sein.

Frauenraub
Antoine Wiertz

Nicht nur Vergiftungen von außen, z. B. mit Alkohol, sondern auch Veränderungen des Stoffwechsels durch Änderungen der Funktionen werden in Betracht kommen. Gemütsbewegungen z. B. können mit chemischen Umsetzungen einhergehen und das Blut giftig machen, also auch die Keime schädigen. Vielleicht entstehen aber auch bei der Tätigkeit bestimmter Zellen bestimmte Stoffe, die in den Kreislauf eintreten und zu den Keimen gelangen, so daß deren Ernährung von der Art der Tätigkeit abhängt. Mag es so oder anders sein, auf jeden Fall zeigen solche Erwägungen, daß die Vererbung erworbener Eigenschaften, wenn die Erfahrung für sie spricht, auch theoretisch nicht widersinnig ist.

Wir sind seit Morel gewöhnt, die fortgeerbte und die erworbene Entartung als eins zu fassen, indessen so natürlich es ist, jene als eine früher erworbene und diese als eine in Zukunft forterbende zu fassen, so können doch Bedenken gegen diese Auffassung nicht unterdrückt werden.«

Josephine Beauharnais, die schöne Kreolin, als Gattin Napoleons I. Kaiserin von Frankreich. General Bonaparte war Josephine hörig und hat ihr selbst ihre offenkundige Untreue verziehen

Und an späterer Stelle:

»Zunächst müßte man sich darauf besinnen, daß es den Menschen an sich nicht gibt, sondern nur konkrete Menschen, die einem bestimmten Geschlechte, einem bestimmten Alter, einem bestimmten Volke, einem bestimmten Stande angehören. Es würde nicht ein Canon genügen, sondern man müßte einen Canon für Männer, einen für Weiber, einen für Kinder, einen für Erwachsene, einen für Greise u. s. f. haben. Man müßte z. B. wissen, welche geistigen Leistungen von einem erwachsenen deutschen Weibe des Bauernstandes zu verlangen sind, inwieweit ein solches von dem zugehörigen Manne, von einer gleich alten Stadtdame usw. verschieden sei.

Charlotte v. Stein, der Goethes langjährige Liebe galt. Durch ihre stark ausgeprägte Launenhaftigkeit hat sie sich den Dichter ebenso oft entfremdet, als sie ihn durch ihre starke Frauennatur zu fesseln wußte.

Wenn ich von geistigen Leistungen spreche, so geschieht das nicht im intellektualistischen Sinne, sondern ich meine die Gesamtheit der Fähigkeiten, und es wird bei der Beurteilung der Menschen tatsächlich viel mehr auf die Stärke und Richtung ihrer Triebe, als auf die sogenannten rein intellektuellen Leistungen ankommen. Gerade bei der Frage nach der Entartung wird die Prüfung der Grundtriebe das wichtigste sein, denn hier ist eine Abweichung von ganz anderer Bedeutung, als etwa bei der oder jener Lernfähigkeit. Z. B. ist die Kinderliebe ein wesentlicher Zug des weiblichen Geistes.

Senta Söneland.
»Nach meiner Ansicht müßte überhaupt jedes männliche Wesen ausgerottet werden«

Wenn ein Mann kleine Kinder abscheulich findet, so erregt das kein Bedenken, tut das ein Weib, so ist sie mit Bestimmtheit als entartet zu bezeichnen. Nun gibt es aber Grade zwischen der vollendeten Gefühllosigkeit und normalen Gefühlen, diese müßte man kennen und die Breite der Norm müßte festgestellt werden.

Ein anderes Beispiel ist die Grausamkeit. Leider müssen wir sagen, daß dem normalen Menschen ein gewisser Grad von Grausamkeit eigen zu sein scheint, daß die vollkommene Unfähigkeit, grausam zu sein, auf eine bestimmte Abnormität schließen läßt. Anderseits ist große Grausamkeit ein wichtiges Zeichen der Entartung, es entsteht also die schwierige Frage nach dem Maße der normalen Grausamkeit.

Der Polygamist
Rowlandsen

Die Mineralien können leicht nach einer Härteskala geordnet werden, bei den Menschen ist die Sache nicht so einfach. Eines der wichtigsten Gebiete bildet der Geschlechtstrieb. Hier liegen schon Vorarbeiten vor, und es hat sich gezeigt, wie fruchtbar die Bearbeitung dieses Themas ist.

Freilich sind wir auch hier noch ganz und gar nicht am Ende. Wie groß ist nicht die Zahl der Fragen, die allein hier beantwortet werden müssen! Wie stark ist beim normalen Menschen unter verschiedenen Bedingungen der Trieb? Wo ist die Grenze nach unten gegen abnorme Frigidität, wo die nach oben gegen die Satyriasis? Wie früh darf der Trieb normalerweise auftreten, wie wandelt er sich im Laufe des Lebens? Inwieweit fallen unnatürliche Gewohnheiten noch in die Breite der Norm? Inwieweit sind andere geistige

Schwierige Verhaftung
Ufa

Fähigkeiten der Stärke des Triebes proportional? usw. Jede Frage zerfällt wieder in eine Menge Unterfragen. Man wird z. B. finden, daß bei gewissen menschlichen Typen der Maßstab verschieden sein muß, denn nicht nur die Unterschiede des Geschlechts, der Rasse usw. bewirken Verschiedenheiten, sondern auch die Art der Beschäftigung, das, was man früher das Temperament nannte, u. a.

Wenn man die Proportionen untersucht, wird man finden, daß nicht wenig Fähigkeiten von der Stärke des Geschlechtstriebes abhängig sind, z. B. die künstlerische Phantasie, daß mit ihm sich alles das, was man als Laune, Stimmung zusammenfaßt, ändert.«

Also mit andern Worten: Es fällt auch der Wissenschaft schwer, die vielen von der Norm abweichenden Einzelheiten jeweils als Abnormität zu erfassen und unter Entartung einzureihen. Denn würden wir jede Lebensäußerung, die der Gewohnheit der Majorität nicht entspricht, als Entartung bezeichnen (wobei noch die physische Beschaffenheit des betreffenden Menschen und seine psychischen Anlagen mit in Betracht zu ziehen wären) – würden wir also bei jeder außergewöhnlichen Handlung oder bei jedem uns abnorm erscheinenden Trieb Entartung annehmen, dann gäbe es keine Heroen und keine Genies. Wie sich aber alle Äußerungen, die uns sichtbar oder fühlbar werden, aus einer Summe von Einheiten zusammensetzen, so stufen sich auch die Handlungen der Menschen in jeder, besonders in sexueller Beziehung ab, und es ist nicht leicht, von einer Hörigkeit zu sprechen, wo vielleicht nur eine Summe von besonderer Zartheit und Empfindlichkeit in den sexuellen Vorgängen vorhanden ist. Umgekehrt dürfen wir nicht jedem Masochisten ohne weiteres Entartung zum Vorwurf machen oder überhaupt ihn in eine bestimmte Kategorie von »Andersgearteten« einreihen.

Wir wollen also unterscheiden zwischen Idealhörigen und Masochisten, denen Hörigkeit ein Trieb ist, abhängig von ihrer Veranlagung, während bei den Idealisten sich Hörigkeit aus einer Überempfindlichkeit der Liebe, aus seelischen Wunden, sagen wir aus einer Hypertrophie des Seelenlebens ergibt. Hunger nach Zärtlichkeit kann masochistisch sein, muß aber nicht mit Masochismus einhergehen. Es wird sich da auch immer um das Maß der Hörigkeit handeln, um sublimste Differenzierungen. Denn daß ein Mensch nicht mehr »normalhörig« ist, der sein eigenes Ich vollkommen aufgegeben hat, also das Gegenteil des egozentrischen Individuums, des Narzißtypus (dem er unterliegt) geworden ist, leuchtet ein. »Geschlechtliche Hörigkeit,« sagt Krafft-Ebing, »ist eine allerdings auch psychisch abnorme Erscheinung. Sie beginnt eben da, wo die äußere Norm, das von Gesetz und Sitte vorgezeichnete Maß der Abhängigkeit eines Teiles vom andern oder beider voneinander infolge individueller Besonderheit in der Intensität an sich normaler Motive verlassen wird. Die geschlechtliche Hörigkeit ist aber keine perverse Erscheinung. Die hier wirkenden Triebfedern sind dieselben, die auch die gänzlich innerhalb der Norm verlaufende psychische Vita sexualis – wenn auch mit minderer Heftigkeit – in Bewegung setzen.

Furcht, den Genossen zu verlieren, der Wunsch, ihn immer zufrieden, liebenswürdig und zum geschlechtlichen Verkehr geneigt zu erhalten, sind hier die Motive des unterworfenen Teiles. Ein ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit, der – namentlich beim Weibe – durchaus nicht immer einen ungewöhnlichen Grad von Sinnlichkeit bedeutet, und Charakterschwäche anderseits sind die einfachen Elemente des ungewöhnlichen Vorganges.

Das Motiv des andern Teiles ist Egoismus, der freien Spielraum findet.

Die Erscheinungen der Geschlechtshörigkeit sind in ihren Formen mannigfach, und die Zahl der Fälle ist eine ungemein große. In geschlechtliche Hörigkeit geratene Männer finden wir im Leben bei jedem Schritt. Hierher gehören bei den Ehemännern die sogenannten Pantoffelhelden, namentlich die alternden Männer, die junge Frauen heiraten und das Mißverhältnis der Jahre und der körperlichen Eigenschaften durch unbedingte Nachgiebigkeit gegen alle Launen der Gattin auszugleichen trachten.

Hierher sind zu zählen auch außerhalb der Ehe die unreifen Männer, die ihre letzten Chancen in der Liebe durch ungenossene Opfer zu verbessern trachten. Hierher aber auch Männer jeden Alters, die, von heißer Leidenschaft für ein Weib ergriffen, bei ihm auf Kälte und Berechnung stoßen und auf harte Bedingungen kapitulieren müssen.

Verliebte Naturen, die von notorischen Dirnen sich zur Eheschließung bewegen lassen und ihre Zukunft aufs Spiel setzen, Gatten und Väter, die Weib und Kind verlassen und das Einkommen der Familie einer Hetäre zu Füßen legen.

So zahlreich aber auch die Beispiele männlicher Hörigkeit sind, so muß doch jeder halbwegs unbefangene Beobachter des Lebens zugeben, daß sie an Zahl und Gewicht der Fälle gegen die weiblicher Hörigkeit weit zurückbleiben.«

Hier darf vielleicht von einem grundlegenden Irrtum gesprochen werden, der allerdings sofort verständlich wird, wenn man berücksichtigt, daß Krafft-Ebing seine Werke im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts geschrieben hat. Wenige Jahre später kam der Weltkrieg, und wieder zehn Jahre später befand – und befindet sich – die Menschheit in einer der gewaltigsten sozialen und ethischen Umwälzungen aller Zeitalter. Diese Umwälzung wird erst in ihrem vollen Ausmaß viele Jahrzehnte später, wenn die Beurteiler Distanz gewonnen haben, voll gewürdigt und erkannt werden.

Sicher ist, daß sich in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit das Verhältnis der Geschlechter gewaltig verschoben hat. Und zwar hat es sich nicht nur in solchen untergeordneten Angelegenheiten wie dem Eherecht, der sozialen Stellung der unehelich Geborenen und so weiter verschoben. Es ist also auch mit Ehereformen und Strafrechtsverbesserungen nicht getan. Etwas viel Gefährlicheres und Erschütternderes spielt sich heute ab: Ein Geschlechterkampf, zum Unglück für die lebende und die kommende Generation.

Die Frau hat den von Kriegen und Zivilisationsgeschäften ermüdeten Mann »mürbe« gemacht. Eros hat neue Formen angenommen – altgekannte, gewiß, aber seit dem Zusammenbruch des Römischen Kaiserreichs, als die Frauen edler Männer mit Gladiatoren schlafen gingen, hat sich eine solche Verwilderung der erotischen Naturbegriffe kaum mehr gezeigt.

Nicht die Hörigkeit der Frau ist das hervorstechende Merkmal unserer Zeit – obgleich es natürlich rein hörige Frauen genügend gibt, am meisten unter den Lesbierinnen. Der hörige Mann aber überwiegt zahlenmäßig bei weitem die hörige Frau, was heute sicherlich nicht mehr bestritten wird.

Aber auch Krafft-Ebing sieht in geschlechtlicher Hörigkeit nicht ohne weiteres eine Perversion oder einen krankhaften Zustand.

»Die Elemente, aus denen sie entsteht, Liebe und Willensschwäche, sind nicht pervers, nur ihr gegenseitiges Stärkeverhältnis erzeugt das abnorme Resultat, das den eigenen Interessen, oft auch Sitten und Gesetzen, so sehr widerspricht. Das Motiv, aus welchem der unterworfene Teil hier handelt und die Tyrannei erduldet, ist der normale Trieb zum Weibe (resp. Manne), dessen Befriedigung der Preis seiner Hörigkeit ist. Die Akte des unterworfenen Teiles, in denen die geschlechtliche Hörigkeit zum Ausdruck kommt, geschehen auf Befehl des herrschenden Teiles, um seiner Habsucht usw. zu dienen. Sie haben für den unterworfenen Teil gar keinen selbständigen Zweck. Sie sind für ihn nur Mittel, den eigentlichen Endzweck, den Besitz des herrschenden Teiles zu erlangen oder zu bewahren. Endlich ist Hörigkeit eine Folge der Liebe zu einem bestimmten Individuum. Sie tritt erst ein, wenn diese Liebe erwacht ist.

Ganz anders verhält sich dies alles beim Masochismus, welcher entschieden krankhaft, eine Perversion ist. Das Motiv für die Handlungen und Duldungen des unterworfenen Teiles ist hier der Reiz, den die Tyrannei als solche für ihn hat. Er mag daneben den herrschenden Teil auch zum Koitus begehren. Jedenfalls ist sein Trieb mehr auf die Akte, die zum Ausdruck der Tyrannei dienen, als auf direkte Objekte der Befriedigung gerichtet.

Diese Akte, in denen der Masochismus zum Ausdruck kommt, sind für den unterworfenen Teil nicht Mittel zum Zweck, wie bei der Hörigkeit, sondern selbst Endzweck. Endlich tritt bei Masochismus die Sehnsucht nach Unterwerfung a priori auf, vor jeder Neigung zu einem bestimmten Gegenstand der Liebe.

Der Zusammenhang zwischen Hörigkeit und Masochismus, der bei der Übereinstimmung beider Erscheinungen im äußeren Effekt der Abhängigkeit, bei allem Unterschied der Motivierung, wohl anzunehmen ist, der Übergang der Abnormität in die Perversion dürfte sich zunächst auf folgendem Wege vollziehen.

»Neue Revue«

Wer sich lange Zeit hindurch im Zustand der geschlechtlichen Hörigkeit befindet, wird disponiert sein, leichtere Grade des Masochismus zu akquirieren. Die Liebe, die gern Tyrannei um des Geliebten willen erträgt, wird dann direkt Liebe zur Tyrannei. Wenn die Vorstellung des Tyrannisiertwerdens lange mit der lustbetonten Vorstellung des geliebten Wesens eng assoziiert war, so geht endlich die Lustbetonung auf die Tyrannei über, und es ist Perversion eingetreten. Das ist der Weg, auf dem Masochismus gezüchtet werden kann.

Französisches satirisches Flugblatt 1860

Ein leichter Grad von Masochismus kann also wohl aus der Hörigkeit entstehen, erworben werden. Der echte, vollkommene, tiefwurzelnde Masochismus mit seiner glühenden Sehnsucht nach Unterwerfung von frühester Jugend an, wie die von dieser Perversion Ergriffenen ihn schildern, ist aber angeboren.

Die Erklärung für die Entstehung der – immerhin seltenen – Perversion des ausgebildeten Masochismus dürfte sich am richtigsten in der Annahme finden lassen, daß dieselbe aus der viel häufiger auftretenden Abnormität der »geschlechtlichen Hörigkeit« hervorgeht, indem hie und da diese Abnormität durch Vererbung auf ein psychopathisches Individuum in der Weise übergeht, daß sie dabei zur Perversion wird. Daß eine leichte Verschiebung der hier in Betracht kommenden psychischen Elemente diesen Übergang bewerkstelligen kann, wurde schon erörtert. Was aber für mögliche Fälle des erworbenen Masochismus die assoziierende Gewohnheit tun kann, das tut für die sicher konstatierten Fälle des originären Masochismus das variierende Spiel der Vererbung. Es tritt dabei kein neues Element zur Hörigkeit hinzu, sondern es entfällt eines, das Raisonnement, das Liebe und Abhängigkeit verbindet und damit eben Hörigkeit von Masochismus, Abnormität von Perversion unterscheidet. Es ist ganz natürlich, daß sich nur das Triebartige vererbt.

Dieser Übergang der Abnormität in Perversion bei der erblichen Übertragung wird insbesondere dann leicht eintreten können, wenn die psychopathische Veranlagung des Nachkommen den andern Faktor des Masochismus liefert, das, was soeben seine erste Wurzel genannt wurde, die Neigung geschlechtlich hyperästhetischer Naturen, alle Einwirkungen, die vom geliebten Gegenstand ausgehen, der geschlechtlichen Einwirkung zu assimilieren.

Japanerin beim Waschen
Aus C.H. Stratz: Die Körperformen in Kunst und Leben der Japaner

Aus diesen beiden Elementen – aus der »geschlechtlichen Hörigkeit« einerseits, aus jener oben erörterten Disposition zur geschlechtlichen Ekstase, welche nebst Mißhandlungen mit Lustbetonung apperzipiert, anderseits – aus diesen beiden Elementen, deren Wurzeln sich bis in das Gebiet physiologischer Tatsachen zurückverfolgen lassen, entsteht auf einem geeigneten psychopathischen Boden der Masochismus, indem die sexuelle Hyperästhesie allerlei zuerst physiologisches, dann nur abnormes Beiwerk der Vita sexualis zur krankhaften Höhe der Perversion steigert.

Kwanonn
Tanya

Jedenfalls stellt auch der Masochismus als angeborene sexuelle Perversion ein funktionelles Degenerationszeichen im Rahmen der (fast ausschließlich erblichen) Belastung dar.

Daß die eigenartige, psychisch anormale Richtung der Vita sexualis, als welche der Masochismus erscheint, eine originäre Abnormität darstellt und nicht sozusagen gezüchtet bei einem Disponierten aus passiver Flagellation sich entwickelt auf dem Wege der Ideenassoziation, wie Rousseau und Binet annehmen, ist wohl leicht zu erweisen.

Es ergibt sich das aus den zahlreichen, ja die Majorität bildenden Fällen, in welchen die Flagellation beim Masochisten niemals aufgetreten ist, in welchen der perverse Trieb sich ausschließlich auf rein symbolische, die Unterwerfung ausdrückende Handlung ohne eigentliche Schmerzzufügung richtet.

Der Idealhörige ist keine ausgesprochen moderne Erscheinung, wohl aber ist er zahlenmäßig eine Erscheinung unserer Zeit.

Im übrigen gab es ihn in allen Jahrhunderten und in allen Ländern. Am deutlichsten tritt er in den Epochen romantischer Überschätzung der Liebe und des Weibes hervor, in sentimentalen Epochen (Werther!) und in Jahren der sittlichen Entartung.

Es ist unmöglich, den Verstiegenheiten der Hörigkeit, besonders der Idealhörigkeit, rein pathologisch beizukommen. »Vom Pathologischen aus gelangt man nie zum Großen, sondern immer nur zum Kleinen«, sagt Friedrich Jodl, der berühmte Philosoph, der bis 1914 in Wien gewirkt hat. »Man gelangt nie zum Unsterblichen, sondern immer nur zum Vergänglichen.« Und Dr. Karl Birnbaum, Anfang 1920 in Herzberge:

»Wer menschliche und sonstige Werte und Größen in ihrer ganzen Bedeutsamkeit und inneren Tiefen dargeboten haben will, darf nicht in den pathologischen Dokumenten suchen.« (Obgleich derselbe Dr. Birnbaum für den Standpunkt der Psychiatrie ist.)

»Jugend« 1899
Arthur Hirsch

Ich bin der Meinung, daß die Hörigkeit, soweit sie natürlich nicht ins rein Pathologische abgeleitet, nur menschlich betrachtet und von den Dingen an sich erklärt werden kann. Sonst müßten wir bei Adam beginnen und ein gelehrtes Buch über die psychiatrische Konsistenz seiner Liebe zu Eva schreiben. Dann müßte die Bibelforschung den Wahrspruch Gottes ablehnen und Adam den »Jagdschein« zubilligen, d. h. ihn für so stark belastet erklären, daß seine Verantwortung für die juristische Vorliebe für die Evasäpfel abgelehnt werden müßte.


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