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23.

Der kurze Austritt an der Hinterpforte des Wichern'schen Parkes war nicht unbemerkt geblieben. Einzelne Arbeiter, die gerade ihre Verrichtung in der Nähe vorübergeführt hatte, waren betroffen stehen geblieben und hatten die Verhaftung des jungen Barons mit angeschaut.

Dann aber, als Hildegard mit einem jähen Aufschrei zu Boden sank, waren sie herbeigeeilt, um dem neben seiner Schwester knieenden Rechtsanwalt behilflich zu sein.

Der Lärm war endlich auch bis in das Privatcomptoir des alten Herrn Wichern gedrungen. Ungehalten über die ungewohnte Störung trat er in demselben Augenblicke vor das Fabrikportal, als Hildegard von den Arbeitern nach der Villa hinüber getragen wurde.

Ein heftiger Schreck durchzitterte den Körper des alten Herrn. So schnell er nur konnte, eilte er auf dem kürzesten Wege dem Zuge nach.

»Was ist vorgefallen?« rief er, »ist Hildegard ein Unglück zugestoßen?«

Er erschrak noch mehr, als er in das verstörte Gesicht seines Sohnes schaute. »Was ist geschehen? Sprich!« drängte er.

»Später, Vater,« entgegnete Rudolph »Das Verhängniß ist eingekehrt in unserem Hause. Gebe Gott, daß es gnädig vorübergehe.«

Da plötzlich stutzte Wichern und fuhr zusammen, wie von einem Keulenschlage getroffen. Sein spähender Blick war die entlaubte Hauptallee entlang durch das halbgeöffnet stehende Portal gefallen; da sah er eben seinen zukünftigen Eidam, dessen beide Arme durch Polizisten festgehalten wurden, in einen Wagen steigen.

Ein dumpfer Schrei entrang sich den Lippen des alten, auf seinen Namen und seine Ehre so eifersüchtig stolzen Herrn. »Rudolph,« rief er, kaum seiner Sinne mächtig. »Was soll das heißen?«

Dabei deutete er mit seiner Hand auf den sich eben in Bewegung setzenden Wagen.

»Ich sagte Dir schon, ich würde Dir nachher Alles mittheilen. Laß uns jetzt erst für Hildegard sorgen,« entgegnete dieser.

Der alte Herr bezwang sich, aber die zusammengezogenen Augenbrauen verriethen deutlich den Gefühlssturm, der sich in seinem Innern zu regen begonnen hatte.

Die Haushälterin kam jammernd herbei. »Ach Gott, das liebe gnädige Fräulein, was ist geschehen?« wehklagte sie. »Und der Herr Baron –«

Rudolph verwies sie durch einen strengen Wink zum Schweigen. »Eilen Sie voran, Regine,« befahl er. »Oeffnen Sie das Schlafzimmer meiner Schwester und rufen Sie die Mädchen herbei!«

Behutsam trugen die Männer die noch immer Bewußtlose nach dem ersten Stockwerk, in dessen linken Flügel sich ihr Schlafzimmer befand.

Dort gelang es endlich den eifrigen Bemühungen Rudolph's und der Haushälterin, sie zum Bewußtsein zurückzurufen.

Mit wirrem Blick schlug Hildegard die Augen wieder auf und starrte eine Weile vor sich nieder. Dann, als ihre Blicke das Angesicht ihres Bruders trafen, schien die Erinnerung mit erschütternder Macht an sie heranzutreten.

»Du – Du, Rudolph, bist dabei gewesen, es geschah gar auf Dein Anstiften! O, ich kann das Schreckliche nicht ausdenken!«

»Beruhige Dich, Hildegard!« rief Rudolph, ohne auf ihre Worte zu achten, »es wird sich Alles aufklären.«

Der alte Herr Wichern trat jetzt einen Schritt näher an die Beiden heran. »Werde ich endlich erfahren, um was es sich handelt? Ich verlange von Dir Rechenschaft, Rudolph, was ist geschehen?«

»Ich glaube euch Beiden Rechenschaft schuldig zu sein,« versetzte Rudolph, »und bin gern bereit, sie euch zu geben, aber ich fürchte, daß Hildegard nicht stark genug sein wird, das Unerhörte zu vernehmen.«

»Das Schlimmste habe ich bereits durchlebt,« sagte das junge Mädchen mit tonloser Stimme. »Rede, Rudolph, ich habe ein heiliges Anrecht darauf, zu wissen, warum man meinen Verlobten verhaftet hat.«

»Herr v. Engler ist unter dem dringenden Verdachte verhaftet worden, der Mörder seines Onkels und seiner Cousine zu sein, außerdem ist er bereits überführt, heute Nacht den Trödler Schimmel in der Linkstraße durch Tikunagift ermordet zu haben.«

Ein dumpfer Aufschrei folgte seinen Worten. Blaß und zitternd war Hildegard vor Entsetzen auf ihr Lager zurückgesunken, während ihr Vater hoch aufgerichtet dastand und nur mühsam der Athem über seine halb offenstehenden Lippen ging.

»Solch' ein Schimpf,« keuchte er dann plötzlich. »Wie darfst Du es wagen, Rudolph, nur derartiges auszusprechen? Hugo v. Engler, den Bräutigam Deiner Schwester, hältst Du für einen Mörder, und jener Mann, den sie heute verurtheilt haben werden, soll am Ende wohl gar unschuldig sein!«

»Ja, Vater, das ist er,« erwiederte Rudolph. »Ihr Alle habt ihm bitteres Unrecht gethan, endlich ist die Nacht gewichen, und es ist Tag geworden für den armen, schwergeprüften Mann.«

»Und wie will man denn das Alles wissen?« brauste der alte Herr auf. »Und Du, mein Sohn und Erbe, der die doppelte Verpflichtung hat, meine Ehre hochzuhalten, Du selbst bist es, der Schimpf und Schande auf mein Haus herabwälzt!«

Ruhig schaute Rudolph seinem Vater in die zornsprühenden Augen. »Ja, mit Stolz und Befriedigung wenn auch andererseits mit herbem Schmerze, bekenne ich es,« versetzte er, sich hoch aufrichtend, »daß meinen unablässigen Bemühungen der heutige Erfolg zum großen Theile zuzuschreiben ist.«

»Solch' eine Schmach,« keuchte der Fabrikant.

»Wenn Du es eine Schmach nennst, daß ein Unschuldiger endlich seinem Schicksale entrissen, und ein Elender, der bisher unbescholtene Menschen durch seine Nähe zu schänden wagte, entlarvt und vor seine Richter gestellt ist,« unterbrach ihn Rudolph voll edler Aufwallung, »dann will ich mich gern schmähen lassen; aber ich hoffe, Du wirst noch einsehen, daß ich nur handelte, wie mir Ehre und Pflicht geboten.«

Hildegard hatte sich trotz ihrer sichtlichen Schwäche aufgerichtet; jetzt trat sie mit gefalteten Händen dicht an Rudolph heran.

»Was sagst Du?« stammelte sie mit bebenden Lippen.

»Du nennst Hugo einen Mörder? O Rudolph, wie bitter weh thust Du mir! – Hugo ist kein Mörder! Nein, nein, sage nichts dagegen. Ich fühle es in tiefster Brust, daß er wohl leichtsinnig gewesen sein kann, aber nicht schlecht.«

Rudolph faßte zärtlich ihre Hände. »Arme, arme Schwester,« murmelte er mit leiser Stimme. »Ich begreife, wie nahe Dir dieser unerwartete Schicksalsschlag gegangen ist. Es ist freilich meine Schuld, daß Dich der endliche Eintritt der Katastrophe getroffen hat wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich habe ja dieselbe schon lange vorher geahnt, aber immer wagte ich Dir nichts zu sagen. Es war ja bisher nur ein Gefühl des Mißtrauens gewesen, das mich gegen Deinen Bräutigam erfüllt hatte. Erst heute Morgen sind mir, in dem Augenblicke, als ich mich in die Schwurgerichtsverhandlung begeben wollte, derart erschwerende Verdachtsmomente mit getheilt worden, daß ich kaum mehr an seiner Schuld zu zweifeln vermochte. Ueberraschend schnell folgten sich die Ereignisse, die mir Recht gegeben haben, und die zu seiner Verhaftung führten.«

»Und wenn alle Welt gegen ihn zeugt, so sage ich: ihr irrt euch, Hugo ist kein Verbrecher, er ist kein Verlorener!« – Sie wandte sich plötzlich an ihren Vater. »Ich bitte Dich, ich beschwöre Dich, Du wirst Deinen Einfluß aufbieten, um Hugo aus seiner gräßlichen Lage zu befreien,« bat sie, »man wird ihn sicherlich gegen Kaution freilassen. Dir, als einem einflußreichen Manne, kann es nicht schwer fallen –«

»Nun und nimmermehr,« rief der Fabrikant in höchster Erregung. »Was ich mein langes Leben hindurch aufgebaut habe, sehe ich jetzt von meinen eigenen Kindern vernichtet. Mag's drum sein, aber mich laßt aus dem Spiel!«

Er wendete sich um und verließ das Zimmer, die Thür dröhnend hinter sich zuschlagend.

Hildegard stand einige Sekunden fassungslos mit fast entgeistertem Gesichtsausdruck da, dann aber wendete sie sich in leidenschaftlicher Bewegung plötzlich an ihren Bruder.

»Rudolph, Du hast ein edles Herz. Ich kann nicht glauben, daß Du den Unglücklichen so schnell und ungehört verdammen wirst. Bedenke, Rudolph, Menschenmeinung kann trügerisch sein! Ich schwöre Dir zu, Hugo ist nicht so schuldig, wie Du glaubst, und annehmen zu können, er habe mit mordbeladenem Gewissen Wochen, Monate hindurch tagtäglich bei mir verkehrt, er habe süße Liebesworte mir zuzuflüstern gewagt, heißt mich selbst beleidigen. O, glaube mir, Rudolph,« setzte sie hinzu, als dieser sich mit finsterer Miene abwendete, »es liegt ein unglückseliges Mißverständniß vor, das sich lösen muß.«

»Arme Schwester,« versetzte er mit gepreßter Stimme, »er ist der That so gut wie überwiesen.«

Und der junge Rechtsanwalt berichtete der athemlos zuhörenden Schwester alle Verdachtsmomente, die gegen Hugo vorlagen.

Aber seine Worte machten durchaus keinen überzeugenden Eindruck auf Hildegard. »Nein, Hugo ist nicht schuldig, er hat auch diesen Trödler nicht gemordet,« beharrte sie. »Uebrigens mag geschehen sein, was da will, ich muß ihn sprechen, heute noch, man darf mir, als seiner Braut, nicht verwehren wollen, mit ihm zu reden. Ich darf ihm nur in die Augen schauen, und ich weiß mehr als ihr Alle!« Sie faßte beide Hände des Widerstrebenden. »Wenn Du mich wirklich lieb hast, begleitest Du mich. In Deiner Eigenschaft als Vertheidiger Beck's wirst Du es durchsetzen können, daß man mich, und sei es unter Zeugen, einige Worte mit Hugo reden läßt. Ich bitte Dich, sage nicht Nein, Du kannst nicht den furchtbaren Sturm in meinem Herzen ahnen, sonst würdest Du Dich keinen Augenblick besinnen!«

Sie war so erregt, daß der junge Rechtsanwalt Mühe hatte, sie aufrecht zu halten. »Ich sterbe vor Herzeleid, wenn Du meine Bitte nicht erfüllst! Sei barmherzig, ich muß ihn sprechen!«

Sie brach in bitteres Schluchzen ans.


Eine Viertelstunde später fuhr das Geschwisterpaar bereits durch die entblätterte Ahornallee nach der Stadt.

Vor dem Gerichtsgebäude angekommen, stiegen Beide aus, und Rudolph geleitete seine Schwester nach der um diese Stunde völlig leeren Anwaltsstube.

Dort bat er Hildegard, ruhig auf ihn zu warten.

Er selbst eilte nach der Amtsstube des Untersuchungsrichters Alberti und ließ sich von dem Diener melden.

Indessen der Bote meinte, schon ehe er noch das Zimmer betrat: »Es wird wohl schwer halten, jetzt bei dem Herrn Untersuchungsrichter anzukommen, der verhaftete Herr von heute Nachmittag befindet sich noch immer im Zimmer. Der Herr Rath hat ihn schon stundenlang vor, er will aber bis jetzt nicht mürbe werden. – Na, das gibt sich mit der Zeit,« schloß der Beamte mit dem Brusttone tiefster Ueberzeugung, die offenbar das Resultat längerer Erfahrung war, seine Rede und begab sich in das Amtszimmer.

Zwei Minuten darauf kehrte er, von dem Polizeikommissär Grösser gefolgt, zurück. Letzterer eilte auf den jungen Rechtsanwalt zu und tauschte einen herzlichen Händedruck mit demselben aus.

»Sie führt jedenfalls begreifliche Wißbegierde hierher,« versetzte er, Rudolph in eine der vor dem Gaslicht nicht so grell beleuchteten Fensternische ziehend. »Der Herr Untersuchungsrichter wird Sie aber heute nicht mehr empfangen können, er ist immer noch im ersten Verhör mit dem Baron v. Engler begriffen.«

»Ich erfuhr es bereits durch den Boten,« entgegnete Rudolph ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Die lange Dauer dieses Verhörs will mir wenig günstig erscheinen.«

»Da mögen Sie Recht haben. Wir haben es mit einem hartgesottenen Burschen zu thun, der sich jedes Wort ans dem Munde reißen läßt und nur widerwillig zugibt, was ihm als bewiesene Thatsache vorgehalten wird.«

»Er legt sich also auf's Leugnen?« frug Rudolph bekümmert.

»So ist es,« versetzte der Kommissär. »Trotzdem die Beweise niederschmetternde sind, will er nicht das Geringste von den ihm zur Last gelegten Verbrechen wissen.«

»Dann fürchte ich, daß der Wunsch meiner Schwester wohl kaum erfüllt werden kann,« erwiederte Rudolph und theilte hierauf dem Kommissär das Verlangen seiner Schwester mit.

Dieser zuckte die Achseln. »Ja, wenn der Baron bereits ein Geständniß abgelegt hätte, dann wäre Alberti schließlich kein Unmensch, so aber –«

»Ich wußte es von vornherein,« schaltete Rudolph ein. »Aber bringen Sie einer halb Verzweifelten Vernunft bei! Ich habe meine Schwester noch niemals in solch' beispielloser Erregung gesehen, wie heute, sie kennt sich selbst nicht mehr.«

»Hm, hm, warten Sie einmal,« meinte Grösser, dem es ersichtlich darum zu thun war, dem Wunsche des jungen Rechtsanwaltes zu entsprechen. »Könnte ich es auf meine eigene Kappe nehmen, dann würde ich Ihrem Verlangen, obwohl es gegen den offiziellen Gebrauch ist, ohne Weiteres entsprechen. Aber Sie kennen ja Alberti, er ist die Höflichkeit selbst, dabei aber ebenso fest. Nun, ich will sehen, was sich machen läßt.«

Er nickte dem jungen Rechtsanwalt zu und begab sich dann in das Amtszimmer Alberti's.

Es dauerte eine geraume Weile, bis er zurückkehrte Schon im Heraustreten aus dem Zimmer zuckte er vielsagend mit den Achseln.

»Ich habe es mir gedacht, Alberti läßt es unter keinen Umständen zu,« meinte er. »Dagegen will er es Ihnen gern gestatten, ja es ist ihm sogar wünschenswerth, daß Sie dem weiteren Verhör beiwohnen. Sie haben ja als Vertheidiger Becks großes Interesse dabei.«

»Ich mache von dem Anerbieten des Untersuchungsrichters natürlich gern Gebrauch,« entgegnete Rudolph. »Wenn ich nur erst meiner armen Schwester –«

»Nun, ich weiß ein Mittel, die herbe Pille zu versüßen,« wendete Grösser ein. »Auf mein Zusprechen hin hat Alberti wenigstens erlaubt, daß sie dem Verhafteten einige Zeilen des Trostes schreiben darf. Natürlich wird Alberti dann erst zu entscheiden haben, ob er das Geschriebene dem Baron zu lesen geben wird.«

Rudolph athmete auf. »Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Freundschaftsdienst,« versetzte er. »Hildegard wird hoffentlich vernünftig sein und einsehen, daß man nicht Unmögliches verlangen darf.«

»Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie, ich kann alsdann sofort den Zettel in Empfang nehmen und ihn Alberti überbringen.«

Damit eilten beide Herren nach dem Anwaltszimmer zurück.

Hildegard vermochte nur mühsam die Thränen zurückzuhalten, dann aber meinte sie: »Sie haben Recht, es ist schon eine große Gunst, meinem Verlobten einige Zeilen schreiben zu dürfen.«

»Dort findest Du Schreibmaterial,« unterbrach sie Rudolph, auf einen der in dem geräumigen Zimmer aufgestellten Tische weisend, die sämmtlich mit schwarzen Papiermappen belegt waren.

Hastig ließ sich Hildegard vor einem der Tische nieder, und in fieberhafter Hast, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, warf sie einige Worte auf einen halben Bogen Papier. Ohne deren Inhalt noch einmal zu durchlesen, faltete sie dann das Papier leichthin doppelt zusammen.

Hierauf stand sie auf und händigte das Blatt dem Kommissär ein.

»Wenn Sie die Güte haben wollen, dies dem Herrn Untersuchungsrichter zu übergeben. Ich glaube kaum, daß er gegen die Aushändigung an meinen Verlobten etwas einzuwenden haben wird.«

Beide Herren begleiteten sie darauf bis an den Wagen, dann kehrten sie nach dem Amtszimmer des Untersuchungsrichters zurück.



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