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20.

Eine dichte Menschenmenge hielt das Haus des Trödlers umlagert, als Rudolph vor demselben anfuhr.

Zwei Schutzleute standen vor der Hausthür, sie hatten bereits die Weisung von dem Untersuchungsrichter erhalten, dem ihnen bekannten Rechtsanwalt freien Durchgang zu gestatten.

Im Hause selbst wußte Rudolph von früher her noch gut Bescheid. Wie oft war er doch die schmale, enge Treppe, die zum ersten Stockwerk führte, hinaufgestiegen, und um wie viel glücklicher hatte damals sein Herz geschlagen!

Eine bittere, wehmüthige Empfindung war es, die das Herz des Rechtsanwalts bei diesem Gedankengange beschlich, aber entschlossen biß er die Zähne zusammen.

Er wendete sich der offenstehenden Eingangsthüre des Erdgeschosses, die zur Wohnung Schimmels führte, zu. Schon im Vorraume, der augenscheinlich das Magazin des Trödlers darstellte, traf Rudolph auf den Polizeikommissär und einige Kriminalbeamte. Letztere trugen brennende Kerzen und leuchteten dem Kommissär bald da, bald dort in die dunklen Winkel und Ecken der Wohnräume. Unordnung herrschte überall; in buntem Durcheinander waren Kleidungsstücke, Waffen und andere Geräthschaften auf einen Hausen geworfen. Alle Mobilien standen weit von den Wänden gerückt, und mit prüfendem Klopfen untersuchte der Kommissär die Dichtigkeit der Wände.

Er nickte Rudolph freundlich zu, ohne sich indessen in seiner Beschäftigung stören zu lassen. »Sie kommen zur rechten Zeit,« meinte er. »Der Untersuchungsrichter ist nebenan bei der Leiche; der Kreisphysikus ist, glaube ich, eben mit der Untersuchung fertig geworden.«

Als Rudolph in das Nebenzimmer eintrat, einen düsteren, langgestreckten, einfensterigen Raum, fand er die beiden Herren in offenbar erregtem Gespräche.

Der Untersuchungsrichter sah ihn kaum eintreten, als er auch schon auf ihn zueilte. »Hören Sie, das ist fast unglaublich!« rief er mit allen Anzeichen äußerster Erregung. »Der Herr Kreisphysikus hat bei dem Trödler eine Vergiftung durch Tikunagift festgestellt!«

Die Wirkung dieser Worte auf Rudolph war eine gewaltige. »Unmöglich!« murmelte er, näher an das Bett herantretend, auf welchem der Leichnam lag.

Mit zitterndem Widerscheine fielen die Lichtstrahlen der Kerzen auf das vergilbte, wächserne Angesicht des Todten, der scheinbar während des Schlafes im Bette gestorben war.

»Tikunagift? Wie soll denn der Trödler in den Besitz desselben gekommen sein, es ist ja dasselbe seltene Gift, an welchem Dora v. Gerstenberg gestorben ist?«

Alberti nickte vielsagend mit dem Kopfe. »Ich fürchte, wir stehen einer unerwarteten Lösung des ganzen Geheimnisses gegenüber,« versetzte er dann in gedämpftem Tone.

»Lassen Sie sich, bitte, die Einzelheiten von dem Herrn Kreisphysikus berichten. Ich muß gestehen, ich habe eine lange Praxis hinter mir und bin so ziemlich gegen alle Zwischenfälle abgestumpft, aber die heutige Entdeckung gibt mir zu denken.«

»Die Sache liegt einfach genug,« nahm der Kreisphysikus das Wort, indem er dicht an den Leichnam herantrat. »Es liegt hier offenbar kein Selbstmord, sondern ein Verbrechen vor.«

Rudolph entfärbte sich. »Ein Verbrechen, sagen Sie?« murmelte er mit unsicher klingender Stimme, während der Gedanke durch sein Gehirn schoß, daß sein zukünftiger Schwager stundenlang in der vergangenen Nacht bei dem Trödler verweilt hatte.

»Ja, wir haben es mit einem Verbrechen zu thun, das spätestens um ein Uhr Morgens begangen worden sein muß,« bestätigte der Kreisphysikus.

Von Neuem erschrak Rudolph heftig; er öffnete seine Lippen, wie um zu sprechen, aber er vermochte keinen Laut hervorzubringen, denn die Eröffnung des Arztes hatte ihn furchtbar erschüttert.

Um ein Uhr sollte das Verbrechen in diesem Raume begangen worden sein, nach der Aussage des Polizeikommissärs hatte Hugo bis dreiviertel vier Uhr Morgens im Hause verweilt, dessen einziger Bewohner zur Zeit der Trödler war.

»Aber wie kommen Sie dazu, hier ein Verbrechen anzunehmen?« stammelte Rudolph endlich, um nur etwas zu sagen.

Der Kreisphysikus rückte seine Brille zurecht. »Die Sache liegt einfach genug,« versetzte er, indem er das Deckbett zurückschlug, so daß der ganze Körper sichtbar wurde. »Sehen Sie diese unnatürliche gekrümmte Lage der Glieder, die niemals ein auf natürlichem Wege im Bett Gestorbener einnimmt; im Gegentheil, der Tod streckt die Glieder, aber er krümmt sie niemals. Daraus geht zweifellos hervor, daß der Tod dieses Mannes nicht im Bette stattgefunden, und daß man ihn erst nach erfolgtem Tode entkleidet und zu Bette gebracht hat. Dafür, daß er dies nicht selbst gethan haben kann, spricht schon die Art des Giftes, dessen Wirkung, wie Ihnen als Vertheidiger in dem Prozeß wider Beck bekannt sein wird, eine sofortige ist.«

»So würde es sich also wirklich um einen Mord handeln?« murmelte Rudolph verstört.

»Daran kann kein Zweifel sein,« versetzte der Arzt. »Aus diesem Glase hat der Unglückliche seinen Todestrunk gethan; es befindet sich noch ein schwacher Rest im Glase, und selbst mit bloßem Auge sind Spuren einer mineralischen Substanz wahrnehmbar.«

»Ich glaube Ihnen,« stammelte Rudolph beklommen, indem er zugleich einen unsicheren Blick auf den Untersuchungsrichter warf. »Aber wenn ein Mord vorliegt, so muß es nothwendigerweise einen Mörder geben, und wer – wer könnte dieser Mörder sein?«

Seine Stimme brach während der letzten Worte, er mußte die Augen vor dem theilnahmsvollen Blick des Untersuchungsrichters niederschlagen.

Doch dieser legte ihm ermuthigend die Hand auf die Schulter. »Noch ist nichts bewiesen,« versetzte er, »obwohl freilich ein furchtbarer Verdacht vorliegt; Sie sehen mich selbst äußerst ergriffen, aber wer hätte denken können –«

Ein Seufzer glitt über die Lippen Rudolph's. »Arme, arme Schwester,« murmelte er unhörbar und wendete dann, unfähig, die in ihm gährende Erregung länger zu verbergen, hastig sein Gesicht zur Seite. Gleich darauf jedoch meinte er, dem Untersuchungsrichter wieder zugewandt: »Noch Eines. Ein Mord, dieses fürchterlichste aller menschlichen Verbrechen, will eine Ursache haben, selbst der verthierteste Verbrecher schreckt ohne gegründete Ursache vor einer brutalen Mordthat zurück. Warum also hat der Mörder jenes Mannes dort ihn mit demselben Gifte getödtet, welchem Dora v. Gerstenberg vor Monaten erlegen ist?«

Der Untersuchungsrichter sah ihn lange schweigend an.

»In Ihrer Frage liegt auch schon die Antwort,« versetzte er. »Ich glaube, wir Alle, einzig Sie ausgenommen, haben dem armen Beck furchtbar Unrecht gethan! Aber wer konnte ahnen –«

»Was werden Sie jetzt thun?« unterbrach ihn Rudolph »Im Namen meines Klienten muß ich Sie bitten, keinen Augenblick zu verlieren.«

Alberti erfaßte die eine der ausgestreckten Hände Rudolph's und drückte sie warm. »Ich werde meine Pflicht thun, so schwer sie mir auch in diesem Falle ankommen mag,« versetzte er in eindringlichem Tone.

In Rudolph's Augen leuchtete es jäh auf. »Nehmen Sie keine Rücksicht, weder auf mich, noch auf meine Familie,« stieß er hervor. »Die Ehre eines unschuldigen Mannes liegt zertrümmert am Boden, seine Zukunft ist vernichtet. An uns ist es jetzt, den im Dunklen verborgen gewesenen wirklichen Thäter zu brandmarken und zu entlarven.«

In diesem Augenblicke erschien der Polizeikommissär auf der Thürschwelle; sein Angesicht wies einen ganz eigenthümlichen Ausdruck von Triumph und Ueberraschung auf. »Wenn ich Sie bitten darf, meine Herren.« rief er. »Wir haben soeben einen höchst eigenthümlichen Fund gemacht. Ich bitte, treten Sie näher, Herr Untersuchungsrichter.«

Die beiden Herren sahen beim Herzutreten eine Anzahl verrosteter Instrumente auf dem Tische liegen.

Von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, hob der Untersuchungsrichter eines der Instrumente prüfend in die Höhe. Eine unverkennbare Bestürzung prägte sich sogleich in seinen Zügen aus.

»Also doch!« stieß er fast rauh hervor »Sie haben Recht behalten, lieber Grösser!«

»Ich wußte es von vornherein.«

»Aber um des Himmels willen, wie sind Sie zu diesem Funde gekommen?«

»Ich glaubte die Gelegenheit benutzen zu sollen. In diesem Falle war eine Haussuchung so wie so gesetzlich vorgeschrieben, da ja eine Beschlagnahme des Nachlasses gerichtlicherseits erfolgen muß. Umsonst aber ließ ich alle Möbel von den Wänden abrücken und suchte nach hohlen Stellen in der Wand; es fand sich zuerst nicht das Geringste. Schon wollte ich von meinen Bemühungen ablassen, als es mir auf einmal einfiel, auch in den oberen Räumen, in der leer stehenden Wohnung des Mechanikers Beck Umschau zu halten. Die Vergeblichkeit meines bisherigen Suchens hatte die Vermuthung in mir zur Gewißheit erstarken lassen, daß der schlaue Fuchs fürsorglich es einzurichten gewußt hatte, selbst im Falle einer Haussuchung seinen Rücken gedeckt zu behalten. Meine Vermuthung hatte mich nicht getäuscht. Zuerst blieb freilich auch oben innerhalb der kahlen Wände mein Bemühen vergeblich. Da kam ich auf den Einfall, in dem früheren Arbeitszimmer Beck's die blechernen Becher, welche unterhalb des Fensterbrettes in dessen Mitte zur Aufnahme des einfließenden Regenwassers angebracht waren, abzuheben. Zu meiner Ueberraschung gewahrte ich hinter derselben eine Höhlung in der Mauer, die sich, wie ich bestimmt weiß, zur Zeit der Haussuchung bei der Verhaftung Beck's noch nicht in der Wand befunden hatte. Ein einziger Griff brachte mich in den Besitz der darin verborgen liegenden Instrumente. An den anderen Fenstern fand ich überall die Becher vorsichtig befestigt. Aber während die übrigen als Beweis, daß sie seit Monaten unverrückt am Platze geblieben, mit Spinngeweben dicht überzogen waren, fehlten letztere an dem das Versteck der Instrumente verbergenden Becher, ein sicheres Zeichen, daß derselbe neuerdings abgehoben worden ist. – Ich fand auch noch etwas Anderes in dem Versteck,« fuhr der Kommissär fort. »Wollen Sie die Güte haben, Herr Untersuchungsrichter, diese Papiere zu prüfen?«

Ueberrascht nahm Alberti aus den Händen seines Untergebenen einige vergilbte, beschriebene Wechselformulare entgegen. »Hm, hm,« sagte er dann kopfschüttelnd, »das ist mehr wie sonderbar, das sind ja längst verfallene Accepte. Hier die Querschrift lautet: Ludwig v. Engler. Acceptant ist Hugo v. Engler. Ludwig v. Engler ist ja der Name des ermordeten Rentiers, und der Aussteller Hugo ist sein Neffe. Aber wie kommt der Trödler in den Besitz dieser Accepte? Sie sind längst verfallen und es handelt sich immerhin um beträchtliche Summen: 1700, 2100, 1850 Mark. Um so befremdlicher ist es, daß Schimmel diese nun schon beinahe werthlos gewordenen, weil nicht protestirten Wechsel so sorgsam in Verwahrung gehalten hat.«

Der Polizeikommissär schaute sich die Wechsel ebenfalls nochmals an. »Noch sonderbarer ist es,« schaltete er nachdenklich ein, »daß der Trödler, der doch in Geldsachen äußerst genau gewesen sein soll, die längst verfallenen Accepte nicht bei dem Erbschaftsgericht eingereicht hat, das sich mit dem Nachlaßprozesse des Ermordeten zu befassen hat. Der Ermordete war doch Acceptant, die Wechsel mußten auf jeden Fall honorirt werden.«

Rudolph stand abseits, das Haupt tief auf die Brust gesenkt. »Jetzt begreife ich auf einmal die nächtliche Anwesenheit Hugo's,« stöhnte er. »O, es will gräßlich Tag werden in mir! Meine arme, arme Schwester!«

Alberti war einige Male in tiefem Nachsinnen auf und nieder geschritten. Als er eben wieder an Grösser vorbeikam, redete ihn dieser an.

»Ist es Ihnen bekannt, Herr Rath, daß der Trödler Schimmel zu seinen Lebzeiten oft schmutzige Geldgeschäfte mit jungen Lebemännern gemacht hat?« fragte er.

Alberti blieb stehen und nickte mit dem Kopfe. »Allerdings,« versetzte er. »Ich habe manche Untersuchung leiten müssen, die auf des Trödlers Betreiben wider Mitglieder unserer besseren Stände eingeleitet worden ist. In allen Fällen handelte es sich ausnahmslos um recht schmutzige Geldgeschäfte.«

»Dasselbe wird auch hier der Fall sein,« fiel Grösser ein. »Ich habe, soviel ich das im Geheimen thun konnte, genaue Erkundigungen über den jungen Baron v. Engler eingezogen. Derselbe ist durchaus vermögenslos, er hat sich mit seinem Oheim seines leichtsinnigen Schuldenmachens wegen verfeindet. Derselbe hatte wiederholt seine Schulden bezahlt, aber schließlich seine Hand gänzlich von ihm abgezogen. Nur dem Umstand, daß es dem jungen Baron gelungen ist, sich mit der Tochter unseres hochangesehenen Fabrikanten Wichern zu verloben, hat ihn noch über Wasser gehalten. Natürlich wurde ihm jetzt wieder Kredit gewährt.«

Der Kommissär warf einen bedauernden Blick auf Rudolph. Alberti aber ergriff dessen Hand. »Tragen Sie das Unvermeidliche,« sagte er in warmem Tone. »Die Antheilnahme aller billig Denkenden ist Ihnen sicher. – Aber zur Sache,« wendete er sich gleich darauf zu Grösser, »sämmtliche Appoints sind an ein und demselben Tage ausgestellt, und zwar am 28. Januar dieses Jahres.«

»Das wäre also gerade um die Zeit der Verfeindung zwischen Oheim und Neffe gewesen,« fiel der Kommissär ein.

»Jawohl,« bestätigte Rudolph. »Die Ausstellung der Wechsel muß sogar erst nachher stattgefunden haben. Ich fragte ja den Diener heute in der Verhandlung darnach, er konnte den Zeitpunkt genau bestimmen. Oheim und Neffe verfeindeten sich an des Ersterem Geburtstage, am 24. Januar.«

Die Herren tauschten einen vielsagenden Blick miteinander aus.

»Dann wären die Accepte wohl schwerlich echt,« nahm Alberti wieder das Wort.

»Das ist auch meine Mehrung,« rief Grösser. »Der alte Baron, der äußerst genau gewesen ist, würde schwerlich dem von ihm seiner Verschwendung wegen verstoßenen Neffen diese Summen in Accepten eingehändigt haben.«

»Sie fanden die Papiere oben in der früheren Wohnung Beck's?«

»So ist's. Der Trödler mag sich in der eigenen Wohnung nicht sicher gefühlt haben. Es lag ihm offenbar Alles daran, die Papiere verborgen zu halten, vielleicht auch vor dem heimlichen Besucher von heute Nacht.«

Der Untersuchungsrichter richtete sich auf. »Angesichts der hier zu Tage getretenen Umstände bin ich genöthigt, zur sofortigen Verhaftung des Barons zu schreiten. Sie werden die Verhaftung vollziehen, Herr Polizeikommissär, und zwar, da mir zur Ausfertigung eines Haftbefehls keine Zeit übrig bleibt, in Form einer vorläufigen Sistirung.«

»Wenn Sie gestatten, schließe ich mich Herrn Grösser an,« fiel Rudolph erregt ein; »ich glaube schon im Namen meines Klienten diese Bitte aussprechen zu dürfen.«

»Selbstredend, Herr Wichern. Wir verdanken ja Ihrem Scharfsinn das Meiste in diesem Falle. Schließen Sie sich dem Kommissär an. – Wir inzwischen,« wendete er sich an den Kreisphysikus, »können unsere Arbeit in diesem Hause beenden. Zwei Schutzleute bleiben zu unserer Verfügung hier,« ordnete er alsdann an. »Zwei Kriminalbeamte werden Ihnen gleichfalls genügen, Herr Grösser?«

»Ich komme so wie so am Justizgebäude vorüber,« entgegnete der Angeredete. »Bei dieser Gelegenheit kann ich ja, da ich das für wünschenswerth halte, mir noch einige weitere Leute mitnehmen.«

»An's Werk denn,« entschied Alberti. »In spätestens einer Stunde werde ich in meinem Amtszimmer sein.«

Rudolph und der Kommissär empfahlen sich von den anderen Herren. Tief bewegt schritt der junge Rechtsanwalt neben dem Kommissär.

Noch nie in seinem Leben, selbst nicht damals, als sein eigenes Lebensglück so furchtbar durch die wider Beck erhobene Anklage bedroht worden war, hatte ihn eine solche Erschütterung erfaßt, wie sie eben sein Herz durchbebte.

Im Hausgang blieb Grösser vor dem Rudolph ebenfalls bekannten Kriminalschutzmann Pohl stehen. »Ihnen ist der junge Baron v. Engler bekannt?« fragte er.

»Gewiß, Herr Kommissär,« entgegnete der Beamte.

»Nehmen Sie noch Schröter und Braun zur Hilfe, begeben Sie sich mit denselben nach dem Bahnhofe. Eine Abreise des Barons muß auf jeden Fall verhindert werden. Schlimmsten Falles schreiten Sie zur Verhaftung.«

Grösser sann einen Augenblick nach, dann winkte er noch einen zweiten Kriminalschutzmann zu sich heran.

»Eilen Sie auf das nächste Polizeirevier und holen Sie sich etwa vier Mann zur Unterstützung; mit diesen begeben Sie sich in die Nähe der Wichern'schen Fabrik vor dem Neuen Thore. Ist Ihnen die Oertlichkeit dort bekannt?«

»Ganz genau,« versicherte der Beamte. »Ich arbeitete, ehe ich beim Militär eintrat, bei dem Vater des Herrn Doktors.«

»Gut, Sie werden genau die ein- und ausgehenden Personen beobachten. Falls der junge Baron v. Engler die Villa verlassen sollte, verfolgen Sie ihn unauffällig und lassen mir sofort Meldung erstatten, wohin er sich begibt.«

Dann stieg der Kommissär mit Rudolph in den noch auf Letzteren harrenden Wagen und rief dem Kutscher einige Worte zu, die ihn zum beschleuuigten Fahren antrieben.

In wenigen Minuten schon hatten sie das Justizgebäude erreicht.

Der Kommissär bat Rudolph, ihn im Wagen zu erwarten, dann stieg er aus und eilte in das Gebäude. Schon nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück, von sechs Geheimpolizisten begleitet.

Zwei derselben nahmen auf der Vorderseite des Wagens Platz, während die vier Anderen der nahe gelegenen Droschkenhaltestelle zueilten und sich dort in einen Wagen schwangen.

»Kaiserstraße 87,« befahl der Kommissär.

Beide Wagen setzten sich eilfertig in Bewegung. Zehn Minuten später hatten sie das Ziel erreicht, und die Herren stiegen aus.

Ueber die teppichbelegte Treppe eilte der Kommissär mit Rudolph, gefolgt von zwei der Kriminalbeamten, nach dem ersten Stockwerk empor.

Vor einer eleganten Glasthür blieben sie stehen.

Ein Porzellanschild und eine Visitenkarte fanden sie an derselben angebracht. »Verwittwete Magistratssekretär Godesberger« lautete die Aufschrift des Schildes. Die feingestochene, mit einer Freiherrnkrone geschmückte Karte trug den Namen Hugo's.

Auf das Klingeln Grösser's wurde die Thüre sofort geöffnet. Eine ältliche, hagere Dame erschien und frug erstaunt nach dem Begehr der Herren.

»Ich wünsche den Baron v. Engler zu sprechen,« nahm der Kommissär sofort das Wort, während er an der alten Dame vorüber in den Korridor eintrat.

»Ich bedaure, der Herr Baron ist ausgegangen.«

»So führen Sie uns in die Wohnung desselben.«

Die Dame zögerte und schaute mißtrauisch den Kommissär an. »Wenn ich mich nicht irre, waren Sie schon einmal hier und fragten nach dem Herrn Baron,« meinte sie alsdann. »Ich kann Sie doch nicht so ohne Weiteres in die Wohnung des Herrn Barons während dessen Abwesenheit geleiten.«

Der Kommissär knöpfte statt jeder Antwort seinen Rock auf und wies auf das unter demselben angebrachte Dienstschild »Ich komme im Austrage des Herrn Untersuchungsrichters,« sagte er; »führen Sie uns nach der Wohnung des Herrn Barons.«

Die alte Dame erschrak so heftig, daß sie an allen Gliedern zu zittern begann. »Mein Himmel, was ist geschehen? Das Gericht und die Polizei in meiner Wohnung?«

Aber Grösser wies die Jammernde kurz zur Ruhe und trat durch die inzwischen geöffnete Zimmerthür in das Wohngemach des Abwesenden ein.

Es war ein sehr elegant ausgestatteter zweifensteriger Raum.

Der Kommissär ließ einen flüchtigen Blick durch denselben gleiten, dann schritt er nach der nebenan gelegenen Schlafstube und betrachtete dieselbe ebenfalls.

Hierauf kehrte er zu den auf der Thürschwelle Stehengebliebenen zurück.

»Wann ist der Herr ausgegangen?« fragte er die noch immer zitternde alte Dame.

»Es ist noch ziemlich früh gewesen, vielleicht zwischen elf und zwölf Uhr. Sonst pflegt der Herr Baron erst um drei Uhr wegzugehen. Auch war derselbe heute so ganz anders, als sonst – Mein Himmel, es wird sich doch nichts Schlimmes ereignet haben?«

»Wissen Sie zufällig, wann er gestern nach Hause gekommen ist?«

»Ich habe ihn nicht gehört, aber mein Dienstmädchen meinte, es sei schon stark auf den Morgen gegangen, denn sie habe bereits an's Aufstehen gedacht.«

Grösser verneigte sich dankend. »Sie Beide,« wendete er sich an die mitgenommenen Schutzleute, »werden ein genaues Inventar der Wohnung des Barons aufnehmen und alsdann das Zimmer unter amtlichen Verschluß legen,« befahl er. »Wir aber,« setzte er zu Rudolph gewendet hinzu, »werden uns schleunigst nach der Fabrik Ihres Herrn Vaters begeben. Ich glaube nicht mit Unrecht annehmen zu dürfen, daß wir den Gesuchten dort finden werden.«



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