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Ja, ja, es ist so, wie ich Ihnen sage,« bekräftigte die Wirthin Hedwig's, den jungen Rechtsanwalt durch eine Handbewegung einladend, einzutreten, »gestern Abend war Ihr Herr Vater bei dem Fräulein, und heute früh hat sie, ohne mir eine neue Adresse zu geben, Knall und Fall die Wohnung verlassen.«
Rudolph stand fassungslos, seine Augen vergrößerten sich unnatürlich und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll dick an. »Mein Vater?« sagte er nach geraumem Stillschweigen »Wie sollte mein Vater dazu gekommen sein, den Fuß über diese Schwelle zu setzen?«
»Doch, doch!« rief die Wirthin eifrig. »Er war da und hat eine recht erregte Auseinandersetzung mit dem Fräulein gehabt. Als er gegangen war, hat das Fräulein die ganze Nacht geweint, vergeblich habe ich ihr Trost zuzusprechen versucht. Sie hat mir nun heute Morgen erklärt, sofort ausziehen zu wollen … Uebrigens hat sie mir auch einen Brief für Sie übergeben.«
Damit eilte die bewegliche Frau auch schon nach ihrem Wohnzimmer und kam gleich darauf mit einem verschlossenen Schreiben zurück, das sie Rudolph einhändigte.
Mit bebender Hand nahm dieser den Brief entgegen, dessen an ihn gerichtete Aufschrift die ihm so wohlbekannten theuren Schriftzüge des geliebten Mädchens trug. Wie geistesabwesend starrte er bald auf die Wirthin, bald auf den Brief in seiner Hand nieder.
»Und sie hat nicht gesagt, wohin sie sich zu wenden gedachte?« murmelte er.
»Das ist es ja eben,« eiferte die Wirthin. »Es war doch sonst ein so liebes und kluges Mädchen, aber diesmal war sie ganz aus dem Häuschen, ich konnte reden, was ich wollte, sie hörte auf nichts. Da sie mir obendrein die Miethe für den nächsten Monat auf den Tisch legte, so hatte ich schließlich gar kein Recht, sie zurückzuhalten. Sie ließ sich eine Droschke holen und nahm gleich ihr Gepäck mit sich. Sie wird wohl nach einem Hotel gefahren sein, wenn sie nicht gar nach auswärts verzogen ist.«
»Und Sie haben meinen Vater wirklich erkannt?«
»Du lieber Gott, wer sollte Ihren Vater nicht kennen, einen solch' hochangesehenen Herrn?«
Rudolph schwieg, eine lange Weile starrte er finster brütend vor sich nieder, dann hob sich seine Brust unter einem tiefen Seufzer. »Es ist gut, ich danke Ihnen,« versetzte er mit tonloser Stimme, »leben Sie wohl.«
Er wendete sich um und verließ die Wohnung, welche bis dahin seiner geliebten Braut ein Unterkommen gewährt hatte. Nur zu klar war es ihm geworden, welche Motive seinen Vater zu Hedwig geführt hatten.
Ein maßloser Zorn, der lange schon in seinem Herzen gewühlt und gebohrt hatte, loderte jetzt in ihm auf. Gewiß waren harte, böse Worte zwischen Hedwig und seinem Vater gefallen; verwundeten, gekränkten Herzens hatte sie sich gewendet und war entflohen – entflohen für immer!
Mechanisch schritt Rudolph Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Als er den Hausflur erreicht hatte, blieb er stehen; verstört blickte er auf das Schreiben, das er noch immer uneröffnet in der Hand trug. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust, dann öffnete er schnell und entschlossen den Brief und las ihn bei dem gedämpften Widerscheine des durch die bemalten Fensterscheiben dringenden Lichtes.
»Mein lieber, theurer Rudolph!
Verzeihe mir, wenn ich Dir von Neuem Schmerz bereitete muß, aber die letzte schlaflose Nacht hat in mir die schon lange gehegte Ueberzeugung neu gekräftigt und zur unwiderruflichen Thatsache umgeschaffen, daß Dein Glück nur gedeihen und sich befestigen kann, wenn wir Beide uns trennen.
Dein Vater kam gestern Abend zu mir und bat mich, Dich frei zu geben. Ich antwortete ihm, daß ich Dich schon längst Deiner Verpflichtung mir gegenüber entbunden habe, und daß es nur ein freiwilliges Ausharren Deinerseits gewesen sei. Er glaubte mir nicht, sondern forderte von mir den Ring, den Du mir in einer unvergeßlich süßen und glücklichen Stunde einstmals an den Finger gesteckt hast. Ich gab das Kleinod Deinem Vater mit, verzeihe, wenn ich Dich dadurch gekränkt habe, aber ich konnte nicht anders.
Zürne aber auch, ich bitte Dich darum, Deinem alten Vater nicht, denn siehe, er meint es herzlich gut und treu mit Dir. Seine Besorgniß um Deine Zukunft war es ja einzig und allein, welche ihn dazu bewogen hat, persönlich zwischen uns zu treten, um das durch Schicksalsschläge aller Art ja ohnehin schon stark gelockerte Band, welches uns bis dahin verbunden, vollends zu trennen. Dein Vater hat Recht. Er sprach mir gegenüber nur nochmals aus, was ich schon in der Sterbestunde meiner unvergeßlichen seligen Mutter als unumstößliche Wahrheit in der Tiefe meines Herzens empfunden habe, daß ich nämlich niemals Dein Weib sein kann und werde.
Glaube mir, mein theurer Rudolph, es wird mir nicht leicht, den Schritt zu unternehmen, der bereits geschehen ist, wenn diese Zeilen in Deine Hände kommen.
Inständig bitte ich Dich, forsche nicht nach mir, laß mich allein in Zukunft für mich leben, denn Dein Anblick würde die mühsam errungene Entschlossenheit meines Herzens wieder zunichte machen und über dieses von Neuem die bitteren, furchtbaren Kämpfe heraufbeschwören, die ich die letzten Wochen durchzuleiden hatte.
Laß mich jetzt in der Scheidestunde, die unser Geschick unwiderruflich trennen soll, Dir nochmals sagen, daß ich mir kein größeres Glück hätte denken können, als die Deine zu werden. Laß mich Dir aber auch zugleich versichern, daß nach dem Vorgefallenen all' Dein Bitten und Bestürmen mich nie mehr bewegen könnte, Dein Weib zu werden, selbst wenn mein Vater mangelnder Beweise halber, wie Dein Vater sich ausdrückte, freigesprochen werden würde. Erst gestern Abend ist mir voll und ganz die Kluft klar geworden, welche mich und meinen unglücklichen Vater von jenen beneidenswerthen Menschen trennt, die sich in der Gunst ihrer Mitmenschen sonnen dürfen.
Nimm diese Worte hin, als wenn sie von einer Sterbenden an Dich gerichtet wären, denn ich bin und werde todt für Dich sein in Zukunft!
Gottes Segen auf Dich, mein Liebling, er lasse es Dir gut gehen und lasse Dich recht bald den Frieden des Herzens wieder finden.
Hedwig.«
Der junge Rechtsanwalt stand noch eine halbe Stunde unbeweglich an dem Treppenfenster und las den inhaltsschweren Brief des heißgeliebten Mädchens immer von Neuem wieder durch. Er achtete nicht darauf, daß vorübergehende, die Treppen auf und ab gehende Personen stehen blieben und ihn neugierig musterten. Er wußte nicht einmal, wo er sich befand.
Zuletzt verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und vor seinem thränenden Blicke stieg die schlanke, jugendlich-anmuthige Gestalt der ihm nunmehr auf ewig Verlorenen verlockend auf. Er wußte es, daß Hedwig nun eher sterben als die Seinige werden würde. Sein Vater mußte ihren Stolz schwer gekränkt haben.
Sein Vater! Wie ihn dies eine Wort schon verbitterte, wie es maßlosen Zorn in seinem Herzen auflodern ließ! –
Rudolph wußte kaum, wie er aus dem Hause kam. Wie traumverloren schritt er durch die Straßen der Stadt. Instinktiv strebte er den Parkanlagen zu; dort ließ er sich auf einer verborgen stehenden Bank nieder und saß stundenlang in dumpfes Brüten versunken da.
Erst das zu ihm herüberdringende Geläute der Abendglocke brachte ihn wieder zu sich. Verstört starrte er um sich. Golden strahlte die scheidende Abendsonne durch das schon herbstlich gefärbte Laub auf ihn hernieder. Von da und dort kamen mit fröhlichem Gezwitscher die Vögel heimwärts gezogen, um ihre Nester aufzusuchen.
Ein bitteres Lächeln umspielte den Mund des jungen Mannes, wenn er daran dachte, daß auch er den Schritt heimwärts lenken solle. Ihm graute vor der Möglichkeit, mit seinem Vater zusammenzutreffen.
Im nächsten Augenblicke hatte sich seine Stimmung wieder umgewandelt sein, im Gegentheil, er wollte, er mußte es zur Aussprache mit seinem Vater kommen lassen.
Dieser war ihm Rechenschaft schuldig, denn er war kein unmündiger Knabe mehr, über dessen Lebensglück Andere, ohne ihn selbst zu fragen, verfügen konnten.
Ein finsterer Entschluß blitzte in seinen Augen auf; er erhob sich und eilte schnellen Schrittes der Villa zu.
Er fand den alten Herrn wie gewöhnlich in dessen Wohnzimmer.
Andreas Wichern saß hinter dem geöffneten Fenster. Beide Fensterflügel standen weit auf. Als er Rudolph eintreten sah, verdüsterte sich seine Stirn, und sein Blick haftete forschend auf dem finsteren Blick seines Sohnes.
Dann erhob er sich plötzlich hastig von seinem Stuhl, schloß das Fenster und trat auf Rudolph zu. »Ich habe Dir eine Eröffnung zu machen, Rudolph,« begann er mit einigermaßen unsicherer Stimme. »Du weißt, krumme Wege haben nie zu meinen Liebhabereien gehört. Ich habe es für meine Vaterpflicht gehalten, Rücksprache mit Hedwig Beck zu nehmen.«
»Ich weiß es bereits,« entgegnete Rudolph, »siehe hier die Früchte Deines Handelns!«
Damit zog er den Brief Hedwig's aus der Tasche und überreichte denselben seinem Vater.
Zögernd nahm Andreas Wichern das Schreiben entgegen. Aber schon, nachdem er die ersten Zeilen gelesen, veränderte sich seine Miene, immer gespannter wurden seine Züge, und als er das inhaltsschwere Schreiben gelesen hatte, da nickte er gedankenvoll vor sich hin.
»In der That, ein selten braves, hochherziges Mädchen,« murmelte er wie in einem Selbstgespräche vor sich hin. »Schade, daß sie solch' einen Vater haben muß!«
Rudolph war ganz nahe an ihn herangetreten »Du sagst die Wahrheit, Vater,« begann er, »Hedwig ist ein Engel an Güte und Hochherzigkeit! Und dieses herrliche Geschöpf hast Du mir entfremdet. Kurzsichtig, verblendet hast Du um des schnöden Urtheils der Menge willen das Liebste geopfert, was es für mich gibt. – Laß mich ausreden,« fuhr er heftiger fort, als sein Vater ihn unterbrechen wollte, »vielleicht zu lange habe ich geschwiegen und Dir durch dieses Schweigen in Deinen Augen ein Recht eingeräumt, das Du nun mißbraucht hast. Ich danke Dir für alles Gute, Vater, was Du mir je erwiesen hast. Ich würde ein Unrecht begehen, wenn ich nicht zugeben wollte, Du seiest mir immer ein treubesorgter, liebevoller Vater gewesen. Selbst in diesem Augenblicke, wo ich Dir wegen Deiner Handlungsweise zürnen muß, will ich anerkennen, daß diese selbst nur aus Deiner besorgtem wohlmeinenden Liebe für mich entsprungen ist. Aber dennoch, dennoch, Vater, Du kannst nicht begreifen, daß es im Menschenherzen Saiten gibt, an die man nicht rühren darf, daß die wahrhaftige, echte Liebe nicht nach den Menschen fragt und nach deren Urtheil, daß es sie gleichgiltig läßt, ob mit ihr Glück, Rang und Ansehen einzieht, oder ob sie bettelarm allein kommt, ärmlich und bloß. Doch solchen Erwägungen und Gefühlen bist Du – ich weiß es – leider unzugänglich. Wie hättest Du auch sonst das Mädchen von mir reißen können, das mich verstand, das ich liebte aus ganzem Herzensgrunde, weil ich es würdig fand, geliebt zu werden. – O Vater, es war Unrecht, Du glaubtest mir zu dienen und Du hast mich so unglücklich gemacht, daß das Leben nun wüst, öde und schal vor mir liegt –«
Andreas Wichern sah seinen Sohn mit solch' kummervollem, besorgtem Blicke an, daß Rudolph unwillkürlich die unmuthigen Worte, die ihm noch auf den Lippen schwebten, unterdrückte.
»Laß mich Dir etwas sagen, mein Sohn,« begann der Fabrikant mit eigenthümlich gepreßtem Tone. »Du sagst selbst, daß Du glaubst, ich sei nur um Deinetwillen und weil ich es für Dein Bestes halte, schroff gegen jenes Mädchen aufgetreten. Das allein ist auch in der That mein Beweggrund gewesen, aber jetzt thut mir's wehe, daß ich zu ihr gegangen bin. Sie ist ein Mädchen, vor dem man den Hut tief abziehen muß, und ich glaube, ich habe ihr weher gethan. als sie es verdient hat.«
»O Vater,« unterbrach ihn Rudolph, während ein bitteres Lächeln seine Lippen umzuckte. »Was sollen jetzt noch alle Worte, wo mein Glück unwiderruflich dahin ist. – Du hast Hedwig's Brief gelesen. So spricht kein Mädchen, das nicht ganz und gar mit der Vergangenheit abgeschlossen hat.«
Andreas Wichern nickte gedankenvoll mit dem Kopfe, dann in plötzlicher Aufwallung legte er beide Hände auf die Schultern seines Sohnes und zwang diesen förmlich, ihm lange und tief in die Augen zu schauen.
»Mag ich ihr Unrecht gethan haben,« begann er endlich, »doch lasse Dich überzeugen, daß ich auch ihr Bestes gewollt habe. – Hedwig Beck paßt nicht mehr für Dich. Laß Dir das von einem alten, viel erfahrenen Manne sagen, der tiefe Einblicke gethan hat in Menschenschicksal und Menschenleben. Glaube mir, Rudolph, die Stunde wird kommen, wo Du das gestrige Auftreten Deines Vaters segnen wirst, in welcher Du einsiehst, daß es Dein und Deiner Braut Verhängniß geworden wäre, wenn ich angesichts der unerbittlich eure Trennung erzwingenden Umstände geschwiegen und euch mit sehenden Augen in ein unabsehbares Unglück hätte rennen lassen!«
Rudolph sah vor sich nieder. Er hatte den treuen, wohlmeinenden Blick seines Vaters nicht länger zu ertragen vermocht; er wußte es ja, daß es nur die selbstsüchtige Liebe des alten Mannes gewesen, die diesen zum Handeln bewogen hatte, aber dennoch vermochte er der Erbitterung, die in seinem Herzen wogte, nicht Herr zu werden. Er seufzte tief auf und trat einen Schritt zurück.
»Du sprichst immer, als ob Karl Beck schon verurtheilt wäre, Vater,« meinte er mit nervös zuckenden Lippen. »Du stellst Dich auf den Standpunkt, als ob Du es mit der Tochter eines gebrandmarkten Raubmörders zu thun hättest. Wie nun, wenn der arme Märtyrer nächste Woche schuldlos und makelrein aus der Schwurgerichtsverhandlung hervorgeht? Wird auch dann noch das Bewußtsein in Dir mächtig bleiben, daß Du nur Deine Pflicht gethan hast, indem Du zwei sich treu liebende Herzen auseinander rissest?«
Die Falten um die Mundwinkel des alten Herrn verschärften sich; er richtete sich straffer empor. »Der Mann, den alle Welt verurtheilt, weil die Beweise gegen ihn geradezu niederschmetternde sind, ist nicht unschuldig. An seinen Fingern klebt Blut, und die Tochter eines solchen Mannes nehme ich nicht auf in meinem Hause. Ich sage Dir noch einmal, ich habe nicht das Werk meines ganzen Lebens aufgebaut, damit ein thörichter Streich meines Sohnes das stolze Gebäude wieder leichtfertig zusammenreißt. Da gibt es keine andere Wahl: entweder für mich oder gegen mich! – Nun aber danke Gott, daß Alles so gekommen ist, später wirst Du vielleicht noch Deinem alten Vater danken, daß er mit klarem Sinn und fester Hand ohne alle Sentimentalität die Sache in die Hand genommen und zu einem guten Ende geführt hat.«
»Nein, dieser Tag wird niemals kommen,« sagte Rudolph, den Blick seines Vaters fest erwiedernd. »Wohl aber wird der Tag kommen, an welchem Du reumüthig vor mir stehen und es, freilich viel zu spät, beklagen wirst, selbst durch Deine eigene Kurzsichtigkeit Deinen eigenen Sohn und ein holdes Wesen für immer unglücklich gemacht zu haben!«
Zuerst schien es, als ob der alte Herr zornig aufflammen wollte, dann aber bezwang er sich und ein fast ironisches Lächeln erschien um seine Lippen. »Nun, so laß jenen Tag kommen, dann will ich mit eigener Hand Deinen Brautwerber machen und nicht ruhen noch rasten, bis ich mein Unrecht gesühnt habe! Aber ich kann es abwarten, bis diese Stunde kommt, und ich glaube, der jüngste Tag kommt eher heran, bevor Karl Beck in den Augen der Welt wieder als Ehrenmann dasteht!«
Rudolph wollte eine heftige Antwort geben, aber ein Klopfen an der Thüre unterbrach plötzlich die Unterredung.
Die Haushälterin trat ein und meldete dem jungen Rechtsanwalt, daß ein Herr vorgefahren sei, der ihn in einer dringlichen Angelegenheit sofort zu sprechen wünsche.
Zugleich überreichte sie eine Visitenkarte.
»Wilhelm Grösser, Polizeikommissär,« las Rudolph.
Zugleich fiel sein Blick auf ein flüchtig mit Bleistift geschriebenes Wort. »Schimmel« las er und fühlte, wie es plötzlich heiß und kalt seinen Körper durchlief.
»Ich werde abgerufen, Vater,« begann er, sich gegen den alten Herrn wendend.
»Wir sind ohnehin fertig,« sagte dieser kühl und gelassen. »Ich bitte Dich, diese unerquickliche Angelegenheit jetzt endgiltig abgethan sein zu lassen.«
Rudolph verließ hastig das Zimmer. In seinem eigenen erwartete ihn schon der Polizeikommissär Grösser, der inzwischen unruhig in diesem auf und nieder geschritten war.
»Ich komme nur auf einen Sprung zu Ihnen, Herr Doktor,« begrüßte dieser den Eintretenden, ihm herzlich die Hand schüttelnd. »Meine Droschke wartet vor der Thür, um mich sofort nach der Stadt zurückzuführen Ich halte es aber für meine Pflicht, Ihnen eine wichtige Entdeckung, die mir zufällig soeben berichtet worden ist, kundzugeben, da es ohne Verletzung eines Dienstgeheimnisses geschehen kann, und ich auf der anderen Seite weiß, wie sehr Sie jede Einzelheit in Sachen Beck interessirt.«
»Wenn ich nicht irre, las ich auf Ihrer Karte den Namen Schimmel,« frug Rudolph erwartungsvoll, nachdem er den Kommissär eingeladen hatte, Platz zu nehmen.
»Jawohl,« sagte dieser, sich in dem Lehnsessel behaglich zurücklehnend und aus der ihm dargebotenen Kiste eine Cigarre nehmend und dieselbe entzündend. »Gerade in Angelegenheiten dieses dunklen Ehrenmannes komme ich zu Ihnen. Es wird Sie interessiren zu erfahren, daß dieser Bursche in geheimer Chiffrekorrespondenz mit einem Unbekannten steht.«
»Was Sie nicht sagen!« rief Rudolph wie elektrisirt.
»Das ist doch jedenfalls ungewöhnlich. Schimmel ist kein Mann in jenen Jahren, in welchen man heimlich mit einer Geliebten korrespondirt.«
»Nun, durch die Zeitung pflegen auch in der Regel Verliebte nicht zu korrespondiren, denn die Sache wird auf die Dauer zu kostspielig,« brummte der Kommissär trocken, zugleich seiner Cigarre einige kräftige Züge entlockend.
»Durch die Zeitung?«
»Jawohl. Ich hatte den Kriminalschutzmann Pohl beauftragt, den Trödler zu beobachten. Derselbe that dies auch in äußerst vorsichtiger Weise, ohne indeß Wochen hindurch irgend welches Resultat melden zu können. Schimmel ging nun heute Nachmittag nach der Kaiserstraße auf das Postamt III und frug nach einem Chiffrebriefe. Pohl war so vorsichtig, sofort nach Entfernung des Trödlers unter Vorzeigung seiner Marke unauffällig nach der Chiffre zu fragen. Sie lautet S. P. 14. Es war kein derart lautender Brief vorhanden gewesen. Zum Glück gelang es dem rasch Schimmel nacheilenden Beamten, den Trödler einzuholen. Dieser stand gerade im Begriffe, sich in die Annoncenexpedition zu begeben. Sie kennen ja das mit eleganten Spiegelscheiben versehene Comptoir, dessen Innenraum von der Straße aus übersehen werden kann. Hier wiederholte sich das vorige Spiel, nur mit dem Unterschiede, daß der Trödler ein Inserat aufgab, welches von Pohl alsdann sofort in Augenschein genommen und notirt wurde. Hier ist es, es lautet unverfänglich genug: ›Liedervers entfallen. Bezwinge Sehnsucht nicht länger, ist in acht Tagen Entscheidung nicht gefallen, spreche mit St. Entweder – oder. P. A. 3. S. P. 14.‹«
Dabei hatte der Kommissär einen Zettel aus der Brieftasche entnommen und ihn Rudolph überreicht, der denselben mit steigendem Befremden genau las und ihn dann dem Beamten zurückgab.
»Um mich kurz zu fassen,« fuhr der Kommissär fort, »der Schutzmann verfolgte den Trödler noch weiter, Schimmel aber kehrte auf dem kürzesten Wege, ohne wahrgenommen zu haben, daß er beobachtet worden, nach seiner Behausung zurück.«
»Lassen Sie sehen,« unterbrach ihn Rudolph fragend, »wie lautete gleich die Ueberschrift? Liedervers entfallen, nicht wahr?«
»Ist Ihnen an der Ueberschrift etwas aufgefallen?«
»Natürlich, schon zu wiederholten Malen ist mir ein derartiges Inserat in den Zeitungsspalten begegnet.«
»Ganz recht, ich kann Ihnen sogar, wenn es Sie interessirt, Einsicht in sämmtliche Inserate mit der gleichen Ueberschrift gewähren, denn ich habe die betreffenden Ausschnitte bei mir.«
Damit zog der Kommissär auch schon einige Nummern des »Tageblatts« hervor und deutete auf einige mit Blaustift umrandete Stellen, welche ausnahmslos die Ueberschrift: »Liedervers entfallen« trugen.
»Schauen Sie hierher, Herr Doktor,« fuhr der Kommissär fort, »die Dinger lesen sich wie ein Liebesroman. Hier ist eine Aufforderung zum Stelldichein enthalten. Das nächste Inserat, welches zwei Tage später erschienen ist, bedauert die Unmöglichkeit, kommen zu können, deutet aber an, daß ein Brief an der bewußten Stelle lagert. Sehen Sie hier die römische VI, dann S. P. 14. Das bedeutet: auf dem Postamt VI in der Langenstraße liegt ein Brief unter der Chiffre S. P. 14. Der Empfänger muß aber, wie aus der nächsten Annonce, die wieder von ihm ausgeht, zu ersehen ist, nicht mit dem Inhalt des Briefes zufrieden gewesen sein, denn er dringt im Tone anscheinender Ungeduld auf baldige Entschließung. Die Gegenannonce, die anscheinend an einen feurigen Liebhaber gerichtet ist, in Wahrheit aber für unseren wackeren Freund Schimmel bestimmt war, sucht diesen zu vertrösten und meldet die Absendung eines neuen Briefes unter gleicher Chiffre, der diesmal aber auf dem Hauptpostamt abzuheben ist. Unser Schimmel wird in seinen Antworten immer ungeduldiger, seine Liebessehnsucht läßt ihm anscheinend keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht, dagegen steigert sich die Zurückhaltung des anscheinend weiblichen Wesens, das in Wahrheit niemand anderes als der Spießgeselle des Trödlers und der wirkliche Mörder des Barons Ludwig v. Engler und seiner Nichte ist.«
Rudolph athmete beklommen auf.
Was ihm der Kommissär da mittheilte, klang so einfach und überzeugungsvoll, dabei aber enthielt es für ihn eine so außerordentliche Botschaft, daß er fast seinen Ohren mißtraute und glaubte, nicht recht gehört zu haben.
»Mein Gott, sollte es möglich sein, sollte wirklich noch in letzter Stunde uns die Hoffnung nahen, eine Spur auffinden zu können?« murmelte er ergriffen. »Dann dann habe ich vielleicht auch einem Anderen in Gedanken bitteres Unrecht zugefügt!«
Der Kommissär lachte ihn siegesgewiß an, während es in seinen Augen eigenthümlich aufblitzte »Ich habe nicht nur Hoffnung, sondern schon Gewißheit, daß wir den unbekannten Briefschreiber in Bälde ermittelt und alsdann auch als den wirklichen Mörder gefaßt haben werden,« versetzte er mit eigener Betonung. »Es soll mich recht freuen, dem superklugen Herrn Untersuchungsrichter ein Näschen drehen zu können. Ich freue mich aber auch aufrichtig um Ihretwillen, lieber Herr Doktor.«
Rudolph theilte dem Polizeikommissär das ihn so sehr bekümmernde Verschwinden Hedwig's mit. Grösser verstand ihn sofort. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und werde es zu rechtfertigen suchen,« versetzte er in warmem Tone. »Wir von der Polizei haben ja Einblick in so manche dem Auge Anderer verborgen bleibende Einzelheiten. Jedenfalls muß Ihr Fräulein Braut sich irgendwo aufhalten, und ich werde bald ihre Spur ausfindig zu machen wissen, Indessen werden Sie schon verzeihen müssen, wenn ich vorläufig meine Entdeckung für mich behalte, denn gegen den Willen der jungen Dame werden Sie selbst nicht handeln wollen. Ueberdies,« unterbrach er sich, »habe ich in den nächsten Tagen alle Hände voll zu thun, denn die Frist für unsere Thätigkeit in Sachen Schimmel ist uns nur karg bemessen. In der kommenden Woche ist schon die Schwurgerichtsverhandlung, und wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um den unbekannten Briefschreiber bis dahin ausfindig zu machen.«
»Wäre es nicht am einfachsten, einen unter der von Ihnen entdeckten Chiffre ankommenden Brief mit Beschlag zu belegen?« frug Rudolph hastig.
Grösser nickte nachdenklich mit dem Kopfe. »Daran habe ich auch schon gedacht,« brummte er, »aber das ist eine heikle Geschichte. Schließlich handle ich in dieser Angelegenheit doch nur als Privatperson, wenn ich auch selbstverständlich den mir zur Verfügung stehenden amtlichen Apparat dabei in Bewegung setze. Es ist ja allerdings kein Zweifel möglich, daß der Briefwechsel wirklich mit dem Verbrechen in Verbindung steht, denn wozu sollte sonst der Trödler eine so kostspielige Zeitungs-Chiffrekorrespondenz unterhalten? Schließlich würde ich wohl die Beschlagnahme des Briefes verantworten können, indessen fraglich ist es, ob nicht gerade durch eine solche Beschlagnahme die beiden Spitzbuben gewarnt und dann natürlich doppelt auf ihrer Hut sein würden. Nun, wir werden schon sehen, wie es am besten zu machen ist,« schloß er seine Einwendungen.
Damit empfahl er sich. Der junge Rechtsanwalt gab ihm das Geleite bis an die Droschke, die vor dem Gartenthore wartend stand.
Gedankenvoll kehrte er durch den Garten nach der Villa zurück. Er nahm in der Laube seine Schwester und deren Bräutigam wahr, da er aber immer noch eine unerklärliche Abneigung davor empfand, mit Hugo v. Engler Rücksprache zu nehmen, wollte er hastig an der Laube vorübergehen.
Da hörte er sich von seiner Schwester angerufen und mußte nun nothgedrungen nähertreten.
»Höre, Rudolph, Du bist zwar auch in der letzten Zeit ein Spielverderber geworden,« empfing ihn seine Schwester zwischen Lachen und Weinen kämpfend und dabei auf ihren Bräutigam zeigend, der im Hintergrunde der Laube saß und dem Eintretenden lässig zunickte. »Aber solch' ein wüster Barbar, wie Hugo ist – ich kenne ihn gar nicht wieder. Er lacht nicht mehr, er scherzt nicht mehr, er spricht nicht mehr. Die wenigen Stunden über, die er da ist, ist er immer auf dem Sprunge, wieder zu gehen. Bald schaut er rechts, bald schaut er links. Gerade wie ein Mensch, der kein gutes Gewissen hat.«
»Aber ich bitte Dich, liebste Hildegard,« unterbrach sie Hugo. »Man kann doch nicht immer heiter gestimmt sein. Ich habe schwere Sorgen, dieser ärgerliche Prozeß –«
»So seid ihr Herren alle,« entgegnete Hildegard schmollend. »›Am Golde hängt, nach Golde drängt doch Alles,‹ so heißt es auch bei euch. Ach, wir armen Mädchen, die wir uns den Brautstand so ideal und romantisch denken, und dann langweilen wir uns mit einem solchen Herrn der Schöpfung, weil er in einem Vermögensprozeß mit einem Verwandten begriffen ist und weil er eine fette Erbschaft nicht sofort bar ausbezahlt erhalten hat. – Denke Dir nur, Hugo macht sogar Auswanderungspläne.«
»Wirklich?« fragte Rudolph, einen forschenden Blick auf das bleiche Angesicht seines zukünftigen Schwagers werfend, das ihm seltsam unstät und sehr zu seinen Ungunsten verändert vorkam.
Hugo v. Engler paffte den Rauch seiner Cigarette lässig vor sich hin. »«Offen gestanden, das Leben hier ist mir verleidet,« meinte er gedehnt. »Eure Gerichte vollends können mir gestohlen werden. Da liegt mein gutes Recht sonnenklar zu Tage, und dennoch werden Termine über Termine abgehalten. Der Himmel allein weiß, wann ich mein Vermögen ausgezahlt erhalte. Da werden tausend nichtige Einwände gemacht, da werde ich einem Verhör um das andere unterzogen, da soll ich jetzt mein Gutachten abgeben über den vermeintlichen Inhalt des verschwundenen Testamentes. Ich, der ich über ein halbes Jahr nicht mehr im Hause meines Onkels und obendrein nie sein Vertrauter gewesen bin!«
Hildegard deutete mit dem Finger auf ihn. »Siehst Du,« wendete sie sich an ihren Bruder, »so ist er jetzt immer; ganz unausstehlich, und einen solchen Menschen soll man auch noch lieb haben!«
Dabei setzte sie sich auf die Bank zu ihrem Verlobten und umschlang diesen mit einem Arme.
»Liebster, ich bitte Dich, sei wieder heiter und froh,« meinte sie mit der ihr eigenen innigen Herzlichkeit, »schau, das Leben lacht uns ja viel schöner, als vielen anderen Menschen! Was wollen wir uns da durch nichtige Kleinigkeiten erzürnen lassen! Komm, sei wieder heiter und gut!«
Rudolph wandte sich ab und ging. »Arme Schwester, arme Schwester!« murmelte er vor sich hin, während er hastig den kiesbestreuten Weg nach der Villa zurückschritt.