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8.

In dem Dichterworte, daß das höchste Glück, der tiefste Schmerz keinen Laut habe, liegt tiefbegründete Wahrheit. Besonders der unvorbereitet an uns herantretende Schreck birgt gleich dem Schlangenblicke etwas Lähmendes in sich.

Hedwig Beck war sonst ein thatkräftiges, zielbewußtes, klar und entschlossen denkendes Mädchen. In ihrer ersten Jugend von zärtlichen Eltern mit allem erdenklichen Komfort umgeben, viel beneidet von ihren minder glücklich gestellten Mitschülerinnen, hatte sie sich ohne Murren in den jähen Wechsel, welchen die Verhältnisse ihres Vaters erlitten, zu fügen gewußt. Sie war vielmehr tröstend und vermittelnd aufgetreten, als die schwere Wucht des über ihn hereinbrechenden Schicksals den früher so begüterten Mann plötzlich bettelarm und damit auch verzweifelt und kleinmüthig gemacht hatte.

Hedwig war Braut. Ein um wenige Jahre älterer Jugendgespiele hatte noch während der besseren Tage um ihre Hand geworben, und sie, welche dem jungen Mann von jeher zugethan gewesen war, hatte mit Freuden »Ja« gesagt.

Die frühere Fabrik Beck's lag neben der des Fabrikanten Andreas Wichern, und die gleich begüterten Familien hatten freundnachbarlichen Verkehr miteinander gepflogen, der zu einem Liebesverhältniß zwischen Hedwig und dem jungen Rudolph Wichern geführt hatte.

Als das Verhängniß über Karl Beck hereinbrach, hatte der alte Wichern, der in dem Rufe eines stolzen, vorurtheilsvollen Mannes stand, sich zwar auffallend schnell von Beck zurückgezogen, nichtsdestoweniger aber der glühenden Neigung seines Sohnes, der Rechtsanwalt war, zu der jetzt verarmten Nachbarstochter keinen ernstlichen Widerstand entgegengesetzt. Stillschweigend hatte er das Verhältniß auch ferner geduldet, sich selbst aber nach Möglichkeit zurückgehalten.

Hedwig nun hatte, so gern sie auch die Braut des geliebten Mannes geworden war, diesem doch, gleich nachdem das Unglück über sie hereingebrochen war, eine Bedingung gestellt, die bezeichnend genug für ihre Charakterveranlagung war. Sie wisse wohl, hatte sie zu Rudolph gesagt, daß sie dem geliebten Manne nun gar wenig zu bringen habe, ebenso sei sie davon überzeugt, daß Rudolph sie nur ihrer selbst wegen liebe. Aber ihres zukünftigen Glückes wegen müsse sie doch darauf beharren, erst dann Rudolph's Gattin zu werden, wenn sie im Stande sei, ihm eine zureichende, anständige Aussteuer mitzubringen. Vergeblich waren alle Ueberredungsversuche des jungen Rechtsanwalts geblieben, Hedwig hatte standhaft auf ihrer Meinung beharrt.

Da sie die beklagenswerthen Verhältnisse ihrer Eltern nur zu gut kannte und wußte, daß sie nicht darauf hoffen konnte, von diesen ausgestattet zu werden, hatte sie beschlossen, ihre seltene Kunstfertigkeit in Anfertigung weiblicher Handarbeiten zur Bestreitung der dazu nöthigen Mittel zu verwerthen. Unablässig hatte sie gar viele Nachtstunden, wenn rings um sie Alles schlief, gewacht und gearbeitet. Manch hübsches Sümmchen hatte sie durch ihrer Hände Fleiß sich schon zu erringen gewußt, aber durch die Krankheit der Mutter waren die Verhältnisse immer trüber geworden. Ohne Murren, obwohl sie wußte, daß sie dadurch das ersehnte Ziel in immer weitere, unabsehbare Ferne hinausschob, hatte Hedwig alsdann ihre heimlichen Ersparnisse in der Haushaltung verwendet.

Wenn es ihr oft auch sterbensweh im Herzen zu Muthe war, hatte sie doch nach wie vor ein sonniges, warmes Lächeln für ihre Eltern gehabt und unermüdlich war sie im Trösten und Aufrichten gewesen. Jetzt aber, wo das Schicksal ihrem Vater die härteste und furchtbarste Probe auferlegt, die ein Menschenherz bestehen kann, fühlte Hedwig auch, wie die Hoffnung aus ihrem eigenen Herzen schwand und bange Verzweiflung dafür einzog.

Zum Glück hatte sie sich viel mit der Mutter zu beschäftigen und mußte all' ihre Aufmerksamkeit dem gefährdet erscheinenden Zustande derselben zuwenden.

Es war, nachdem man ihren Vater abgeführt, ihrem angestrengten Bemühen endlich gelungen, die Ohnmächtige wieder zum Bewußtsein zurückzubringen. Frau Katharine hatte die Augen wieder aufgeschlagen. Mit müdem, glanzlosem Blicke hatte sie im Zimmer umhergeschaut, verständnißlos waren ihre Augen endlich auf dem todtenbleichen Angesicht ihrer Tochter haften geblieben, deren Lippen trotz aller Bemühungen kein Lächeln hervorbringen wollten.

»Wo ist der Vater?« hatte dann die Kranke endlich gefragt.

Liebevoll hatte sich Hedwig über sie gebeugt und ihre fieberheiße Stirn geküßt. Dabei hatte sie es freilich nicht vermeiden können, daß ihr aus den Augen Zähren brennenden Wehs geflossen und auf die Stirn der Mutter herabgefallen waren.

»Es ist ein unglückseliger Irrthum, beunruhige Dich nicht, Mutter,« hatte das junge Mädchen mit zitternden Lippen geflüstert. »Der Vater kommt sicherlich bald wieder, glaube es mir!«

Aber über die schmerzlich verzerrten Lippen war nur ein banges Stöhnen gekommen »Ich werde ihn niemals wiedersehen. Ich weiß es, daß meine letzte Stunde nahe ist.«

»O Mutter, wenn Du wüßtest, wie solche Worte mein Herz martern,« flüsterte Hedwig erschauernd und barg das todtenbleiche Angesicht an der Brust der Mutter.

Diese streichelte mit zitternder Hand ihren lockigen Scheitel. »Du wirst noch glücklich sein, mein Kind. Und wenn auch der augenblickliche Schmerz ein herber ist, wirst Du es doch in Bälde dem Schicksal danken, daß es mich hat schlafengehen heißen. Ich sterbe ja beruhigt, weiß ich doch Deine Zukunft gesichert!«

Sie hatte zum Glück den schmerzerstarrten Ausdruck nicht gesehen, der sich in den reinen, klaren Zügen ihres Kindes eben ausgeprägt hatte.

»Du darfst ja gar nicht so viel sprechen, Mütterchen, der heftige Schreck hat Dich angegriffen,« flüsterte Hedwig endlich, sich entschlossen aufrichtend. »Hier ist Deine Arznei. Nimm sie, Mutter, und versuche ein wenig zu schlafen.«

Gehorsam ließ sich die todkranke Frau zudecken und dann schloß sie wirklich ermattet die Augen.

Hedwig aber erhob sich hastig und trat an ein Fenster.

Sie konnte nicht länger an sich halten, bange, heiße Thränen entrungen in schier unerschöpflicher Fluth sich ihren Augen.

Als ihre Blicke zufällig auf die Straße hinabglitten, zuckte sie zusammen. Dort stand, Kopf an Kopf gedrängt, eine neugierige Menschenmasse, herbeigeeilt, um wenigstens die Außenseite des Hauses, welches den Mörder beherbergt hatte, zu sehen. Verletzt zog sich das junge Mädchen vom Fenster zurück.

Sie trat wieder an das Krankenbett der Mutter, mit besorgtem Blick nahm sie wahr, wie die Athemzüge der wieder Eingeschlafenen gar unregelmäßig rasch gingen.

Eine entsetzliche, bange Unruhe überkam sie. Unwillkürlich fühlte das junge Mädchen, daß ihr eine neue, schwere Prüfung bevorstand.

»Ich will Rudolph schreiben,« flüsterte sie, wieder vom Bett zurücktretend, vor sich hin. »Ich bin ihm volle Aufklärung schuldig. Mein Gott, wie habe ich auch ahnen können, daß solch' ein gräßliches Verhängniß über mich hereinbrechen wird!«

Sie setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Zu wiederholten Malen aber unterbrach sie sich, erhob sich vom Stuhle und schaute ängstlich nach der Mutter hinüber. Erst wenn sie sich davon überzeugt hatte, daß diese vor wie nach still lag, fuhr sie im Schreiben fort.

Endlich hatte sie den Brief beendigt; sie versah den Umschlag mit Aufschrift und dann erhob sie sich zögernd. Sie mußte das Schreiben zum nächsten Briefkasten bringen, aber es graute ihr davor, unter die noch immer versammelte Menge zu treten. Dann widerstrebte es auch ihrer Empfindung, die Mutter allein zu lassen. Endlich überwand sie die bange Scheu, sie lehnte die Vorsaalthür nur leise an und eilte die Treppe hinunter. Den Blick zu Boden gerichtet, schritt sie längs der Häusermauern dahin.

Verletzende, höhnende Bemerkungen begleiteten sie. Tief aufathmend kehrte sie endlich zurück.

Vor dem Treppenaufgang traf sie mit dem Trödler zusammen Dieser vertrat ihr, als sie an ihm vorübereilen wollte, den Weg.

»Hören Sie,« begann der kleine Mann, »solche Geschichten passen mir nicht. Da stehen die Menschen schon seit Stunden draußen und gaffen mein Haus an, darunter leidet mein Geschäft; zudem ist es keine Ehre, solch' eine Familie unter seinem Dache zu wissen. Sie sind mir nun schon seit vier Monaten den Miethzins schuldig, ich will ein Einsehen mit Ihrer Lage haben und Sie nicht drücken, aber ziehen Sie binnen drei Tagen aus.«

Ein banges Zacken glitt über das bleiche Angesicht Hedwig's. »Es ist unverschuldetes Unglück, welches uns betroffen hat, Herr Schimmel,« murmelte sie verstört. »Mein Vater ist unschuldig, meine Mutter liegt auf den Tod darnieder, Sie müssen Erbarmen mit uns haben, denn ich weiß im Augenblicke nicht, wohin die Schritte wenden. Mein Gott, es ist Alles so plötzlich, so überraschend gekommen!«

Der kleine Mann zuckte die Achseln und rieb angelegentlich die inneren Handflächen gegeneinander. »Jeder ist sich selbst der Nächste, Verehrteste,« versetzte er dann ausweichend. »Ich sagte ja schon, ich will Sie nicht drücken, aber auf der anderen Seite haben Sie die Freundlichkeit und erfüllen Sie meinen Wunsch, bis dahin empfehle ich mich ergebenst!«

Damit verschwand er, ohne eine weitere Entgegnung abzuwarten, hinter seiner Wohnungsthür.

Noch verzagter, als vorhin, begab sich Hedwig nach der elterlichen Wohnung zurück. Der wider sie entfesselte Schicksalssturm war zu übermächtig auch für ihr junges, gläubig vertrauendes Herz. Zum ersten Male in ihrem Leben fühlte sie sich so elend und verlassen, daß sie am liebsten vor Jammer und Weh hätte sterben mögen.

Oben angekommen setzte sie sich neben das Bett ihrer noch schlafenden Mutter. Sie versuchte eine Handarbeit vorzunehmen, aber ihre Augen vermochten nicht klar zu sehen; immer von Neuem ließ sie die Arbeit in den Schoß sinken und starrte mit trostlosem Gesichtsausdruck vor sich in das Leere.

Wie sie sich nach dem Kommen ihres Bräutigams sehnte! – Und dennoch – wie sie sich vor dem entscheidenden Augenblick fürchtete, in welchem sie, dem in ihrem Innern wohnenden Pflichtgefühl folgend, die letzte treumeinende Menschenseele, welche sie besaß, auf Nimmerwiedersehen von sich stoßen mußte!

Etwa um vier Uhr Nachmittags klingelte es vernehmlich an der Vorsaalthür; aber es war der Herbeigesehnte nicht.

Der Polizeikommissär Grösser mit einigen Kriminalbeamten war es. Mit theilnahmsvoller Freundlichkeit theilten die Beamten dem jungen Mädchen mit, daß sie nochmals nach dem Verbleib der fehlenden Banknoten spüren müßten. Der Kommissär nahm das Mädchen selbst in ein kurzes Verhör; selbstverständlich konnte Hedwig nicht das Geringste über den Verbleib der fehlenden Tausendmarkscheine aussagen.

Während die Beamten noch mit der Durchsuchung der Wohnung, die sie mit Rücksicht auf die schlafende, todkranke Frau möglichst geräuschlos vollzogen, beschäftigt waren, erschien ein neuer Gast. Es war der Gerichtsvollzieher mit seinen Gehilfen, die auf Betreiben des drängenden Gläubigers das bereits mit Beschlag belegte Mobiliar aus der Wohnung holen wollten.

Auch er ging nach Möglichkeit schonungsvoll vor, aber er vermochte es doch nicht zu verhindern, daß beim Heraustransportiren des Schrankes, des Bettes, in welchem der Mechaniker bis dahin geschlafen, und einiger anderer Möbel die Kranke erwachte und mit schreckhaften Augen auf das Gebahren der Männer starrte.

Hedwig war, von Schmerz, Scham und Verzweiflung überwältigt, vor dem Bette der Mutter niedergesunken und hatte in den Kissen ihr bleiches, schmerzverzerrtes Angesicht vergraben.

Endlich entfernten sich die Beamten aus der völlig leergewordenen, kahlen Wohnung.

Unbeweglich blieb Hedwig neben dem Schmerzenslager der sterbenskranken Mutter liegen. Sie wollte sich vergeblich zwingen, aufzuschauen, um mit der geliebten Mutter zu sprechen; sie fühlte, daß dies über ihre Kräfte ging und daß sie beim ersten Laut vor Schmerz und Weh aus tiefinnerster Brust aufschreien mußte.

So gingen die Stunden dahin. Einförmig, mit bleiernem Flügelschlage schlichen sie in das Reich der Ewigkeit hinüber.

Die Kranke war wieder niedergesunken, von Neuem hatten sich ihre Augen geschlossen. Der Schlummer, mitleidiger als die Menschen, hatte ihr Frieden gegeben.

Nur Hedwig fand keine Erlösung von der Last unbeschreiblichen Kummers, die ihr das Herz beschwerte. Von Sekunde zu Sekunde harrte sie auf das so sehr herbeigesehnte und doch wieder so gefürchtete Kommen des geliebten Mannes.

Die Abendsonne neigte sich schon zur Rüste, mit goldigem Strahle funkelte sie durch die Fensterscheiben und wie abschiednehmend überfluthete sie noch einmal das bleiche Angesicht der sterbenden Frau mit goldigem Schimmer.

Die Kranke hatte die Augen wieder weit geöffnet, sie lag still und unbeweglich da.

»Ich werde die Sonne nimmer sehen,« murmelte sie mit eintöniger, erlöschender Stimme, »für mich gibt es keine Sonne mehr!«

Das junge Mädchen stand neben ihr, die Linke auf das stürmisch pochende Herz gepreßt, mit dem nagenden, quälenden Gedanken in der Brust, daß auch ihre eigene Glückessonne untergegangen sei, um niemals wieder aufzutauchen aus der Nacht des Jammers und der Verzweiflung.

Da klingelte es.

Hedwig zuckte zusammen. Nun nahte der Augenblick des Scheidens heran – der bitterste, wehmüthigste Augenblick ihres an Enttäuschungen reichen Lebens.

Sie beugte sich über die Kranke nieder und hauchte einen Kuß auf deren schweißbedeckte Stirn. »Erschrick nicht, Mutter, Rudolph ist draußen. Ich hatte ihm geschrieben.«

Ein verklärtes Lächeln glitt über die Züge der Sterbenden. »Es ist recht so, er soll Dich schützen, wenn ich nicht mehr bin,« flüsterte sie.



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