Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Vormittage trat Hedwig ihrem Bräutigam schon wieder gefaßt entgegen; zwar lag auf ihren Zügen ein wehmüthiger Ernst, aber der Ausdruck hilflosen Schmerzes war verschwunden und hatte einer herben, gefaßten Entschlossenheit Raum gegeben.
Nach anfänglichem Widerstreben ließ sie es auf Bitten ihres Bräutigams geschehen, daß dieser für die Vorbereitungen zum Begräbnisse und auch für dieses selbst Sorge trug. Rudolph hatte auch bei dem Trödler vermittelnd eingreifen und der Geliebten die elterliche Wohnung noch einige Zeit erhalten wollen. Hatte aber schon Schimmel nichts davon wissen wollen, sondern mit aller Bestimmtheit erklärt, auch nicht einen Tag länger zugeben zu wollen, so war Hedwig ihrerseits womöglich noch entschlossener, die Wohnung nach dem Begräbnisse der geliebten Mutter nicht mehr zu betreten. Es hatte sie vor den Räumen, in denen sie und die Ihrigen so vieles Unglück hatten durchleiden müssen, ein wahres Grauen erfaßt.
So war endlich die Stunde des Begräbnisses herangekommen.
Zum letzten Male fiel der Blick der Weinenden auf das friedvolle Angesicht der Heimgegangenen, dann schloß sich der Sargdeckel und mit knirschendem Geräusch wurden die Schrauben von den Trägern angezogen.
Hedwig hatte sich abgewendet, zitternd stützte sie sich auf den Arm ihres Verlobten, der sie die Treppe zur Straße hinabgeleitete, wo ein Trauerwagen ihrer harrte.
Sie achtete, über die Schwelle des Hausthores tretend, nicht auf das schlichte Gefährt, das eben in raschem Trabe an dem Hause vorüber fuhr. Sie ahnte nicht, daß in dem dahinrollenden Wagen ein armer verzweifelter Mann gefangen und gefesselt zwischen seinen Wächtern saß und mit brennenden Blicken nach ihr selbst und dem blumengeschmückten Sarge starrte, der soeben auf den Schultern der Träger zum Hause hinausschwankte.…
Während des Begräbnisses benahm sich Hedwig wunderbar gefaßt. Die Thränen, die im Augenblicke des Abschiednehmens ihr hervorquollen, waren versiegt. Still und ergebungsvoll stand sie neben ihrem Bräutigam.
Auf der Rückfahrt vom Friedhofe bat sie Rudolph, mit ihr den Wagen zu verlassen.
Sie sprach in sanftem, ruhigem Tone mit dem geliebten Manne. Sie gedachte zuerst der Heimgegangenen, dann aber wußte es Rudolph einzurichten, daß das Gespräch auf Hedwig's eigene Lebensaussichten kam.
Sie erklärte dem Fragenden offen und ungezwungen, daß sie schon die letzten Jahre über für ein großes Tapisseriegeschäft gearbeitet und sich dadurch einer leidlichen Einnahme zu erfreuen gehabt habe. Sie wollte sich nun voll und ganz diesem Berufe widmen. Die Wohnung, in der sie so viel Trübes erlebt, wollte sie nicht mehr betreten; die wenigen Habseligkeiten, sowie die eigenen Kleidungsstücke wollte sie dem Hauswirthe lassen, der ohnehin noch rückständige Miethe zu fordern hatte. Sie selbst, wie sie ging und stand, wollte sich ein Zimmerchen miethen und sich womöglich bei einer einfachen, anständigen Familie in vollständige Pension geben.
So gingen sie zusammen nach der Stadt zurück. Das Glück war ihnen günstig, und schon eine Stunde später hatte sich Hedwig bei einer kleinen Beamtenfamilie eingemiethet.
Sie konnte gleich dort bleiben. Geld besaß sie noch so viel, um sich das Nöthigste wieder anschaffen zu können.
Rudolph hatte gar nicht gewagt, ihr ein diesbezügliches Anerbieten zu machen.
Mit ruhiger, stiller Freundlichkeit verabschiedete sich dann Hedwig von dem jungen Manne, und dieser war fast peinlich davon berührt, wie verhältnißmäßig leicht sie ihn gehen ließ, ohne selbst die Frage des nächsten Wiedersehens mit ihm berührt zu haben.
Er ahnte freilich nicht, welche Kämpfe diese Selbstbeherrschung Hedwig verursacht hatte, und wie sie in dem kleinen Stübchen ermattet zusammenbrach, als das Letzte, Schwerste geschehen war und sie Abschied genommen hatte von dem Manne, den sie über Alles liebte.
In niedergedrückter Stimmung trat der junge Rechtsanwalt durch die lauschige, dichtbelaubte Ahornallee vor dem Stadtthore den Weg nach der Fabrik seines Vaters an. Er besaß in der Stadt selbst nur sein Bureau, seine Wohnung befand sich in der väterlichen Villa.
Die letzten Tage über hatte Rudolph seine Verwandten kaum zu sehen bekommen. All' sein Sinnen und Streben war seiner Braut und deren unglücklichem Vater gewidmet gewesen. Vergeblich aber war bisher sein Bemühen gewesen, Zutritt zu dem Verhafteten, dem er sich sofort als Vertheidiger angeboten hatte, zu erlangen. Es war ihm eröffnet worden, daß selbst ihm, als voraussichtlichem Vertheidiger, kein Verkehr mit Beck gestattet werden könne, bevor nicht die Voruntersuchung abgeschlossen sei. Diesen wenig ermuthigenden Bescheid hatte Rudolph auch seiner Braut übermitteln müssen.
Jetzt nun, als er langsam dahinwanderte, trat an sein Herz die Erkenntniß der ganzen Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Lage voll und nachdrücklich heran.
Rudolph war mehr oder minder noch von seinem Vater abhängig; wohl hatte er sich als Rechtsanwalt in der Stadt niedergelassen, aber bei der großen Anzahl älterer und geübterer Kollegen hatte es ihm noch nicht recht gelingen wollen, sich eine lohnende Praxis zu erwerben. Bis dahin hatte ihm das keine sonderliche Kümmerniß gemacht, besaß er doch einen sehr reichen Vater, der ihn auf seine Art zärtlich liebte und ihn mit freigebiger Güte bisher ausgestattet hatte. Jetzt aber fiel ihm die voraussichtliche Stellungnahme seines Vaters schwer auf's Herz. Er kannte diesen und seine schroffen Ansichten von Ehre und äußerem Anstande nur zu gut. Was sollte er ihm über die letzten Vorgänge, die sich innerhalb der Familie seiner Verlobten abgespielt hatten, sagen?
Mit wehmüthigem Blicke streifte Rudolph die schon im Dunkel der Nacht versunken liegende, unmittelbar an das Grundstück seines Vaters anstoßende Nachbarfabrik, die früher dem unglücklichen Beck gehört hatte.
Langsam trat er in den Vorgarten seines väterlichen Grundstückes ein, das von den eigentlichen Fabriklokalitäten durch ein schmiedeeisernes Gitter abgeschlossen war.
Frohes Lachen schallte ihm entgegen.
In einer Gaisblattlaube links vom Hause brannte Licht. Näher tretend gewahrte Rudolph seine Schwester Hildegard und deren Verlobten, den Baron Hugo v. Engler.
Hildegard war ein liebliches, zartgebautes Mädchen mit klugen, ausdrucksvollen und selbstbewußten Gesichtszügen.
Als sie den Nähertretenden wahrnahmen, verstummte das herzliche Lachen der beiden jungen Leute; sie sprangen auf und begrüßten Rudolph.
»Du kommst vom Begräbnisse der armen Frau Beck?« frug Hildegard.
Rudolph nickte. »Der armen Dulderin ist's wohl,« meinte er gepreßt.
»Und Hedwig – wie trägt Deine Verlobte diese neue Schicksalsprüfung?«
In den Augen des Rechtsanwaltes leuchtete es auf.
»O, sie ist eine Heldin,« sagte er in überzeugungsvollem Tone, »sie fühlt den Muth und die Thatkraft eines ganzen Menschen in sich.«
»Um so besser. Es sind gar harte, schwere Prüfungen, die an euren Bund herantreten. – Auch an Dich, Rudolph,« fügte sie mit leiser Stimme hinzu. »Der Vater fragte vorhin schon nach Dir und will noch heute mit Dir sprechen.«
Eine Wolke huschte über die Stirne des jungen Mannes. »Ich kann mir schon denken, weshalb er solche Eile hat,« versetzte er und wendete sich dann an Hugo v. Engler, der ihm von seiner Unterredung mit Alberti berichtete.
»Ich dachte ohne Weiteres in den für mich so wünschenswerthen Besitz der Erbschaft treten zu können,« schloß er, »statt dessen wird es nun mit diesem Herrn v. Gerstenberg jedenfalls zu einem ärgerlichen Prozesse kommen – oder meinen Sie nicht?«
Bei seinen letzten Worten sah er Rudolph forschend und fast lauernd an.
Dieser zuckte die Achseln. »Ohne Weiteres läßt sich das nicht beantworten,« gab er alsdann zurück. »Jedenfalls enthält das unbegreifliche Fehlen eines Testaments etwas Mißliches für Sie, besonders wenn es Herrn v. Gerstenberg gelingt, durch glaubwürdige Zeugen nachzuweisen, daß Ihr verstorbener Onkel sich über den Inhalt des Testaments wiederholt zu Gunsten der gleichfalls ermordeten Dora v. Gerstenberg ausgesprochen hat. Indessen sind Sie zweifellos der nächste Erbe; es könnte sich also nur um Zahlung einer Entschädigung handeln, deren Höhe von Gerichtswegen festgesetzt werden muß.«
»Aber bis dahin gelange ich nicht in den Besitz der Erbschaft?« fragte Hugo unmuthig
»Die Erbschaft ist natürlich von Gerichtswegen beschlagnahmt worden. Es würde dies ohnehin geschehen sein, wenn auch nicht der Tod Ihres Oheims mit solch' tragischen Umständen verknüpft gewesen wäre,« antwortete Rudolph. »Jedenfalls dürfte es das Gerathenste sein, einen Vergleich mit Ihrem Gegner anzubahnen.«
»Sie übernehmen doch die Sache?«
»Wenn Sie keinen besseren Vertreter wissen, warum nicht? Obwohl ich Ihnen offen gestehen muß, daß eine andere Angelegenheit gegenwärtig mein Sinnen und Denken in Anspruch nimmt.«
Statt jeder Antwort ergriff Hugo beide Hände des ihm Gegenübersitzenden und schaute diesem in's Gesicht. »Lassen Sie uns offen zu einander sein,« versetzte er dann. »Eine unglückliche Verkettung von Umständen hat einen Verdacht auf einen Mann geworfen, der Ihrem Herzen nahe stehen muß. Lassen Sie sich durch den Umstand nicht abhalten, daß ich, der Verlobte Ihrer Schwester, gewissermaßen der nächste Leidtragende meines verstorbenen Onkels bin und nach korsischem Recht gezwungen wäre, Blutrache auszuüben.« Er lächelte leicht während der letzten Worte. »Ganz abgesehen davon, daß mir – ganz unter uns gesagt – der Tod meines sehr verehrten Herrn Oheims nicht eben ein unwillkommenes Ereigniß ist, ferner abgesehen von dem Umstande, daß ich den Verhafteten selbst für unschuldig halte, weiß ich Unterschied zu machen zwischen ihm und seiner Tochter. – Verzeihen Sie, Rudolph,« fuhr er fort, als er eine dunkle Blutwelle in die Wangen des jungen Rechtsanwalts steigen sah. »Es ist vielleicht wenig zartfühlend von mir, eine Saite Ihres Herzens anzuschlagen, die bitter und schmerzlich klingen muß, aber ich bitte Sie inständig, aus meinen Worten nur das Verlangen zu hören, vor wie nach, mögen die Dinge sich gestalten, wie sie wollen, mit Ihnen in einem guten, herzlichen Einverständniß zu bleiben, Ihnen zu sagen, wie sehr Antheil ich an Ihnen und Ihrer lieben Braut, die hoffentlich in Bälde Ihre Gattin sein wird, nehme.«
Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf Rudolph, und er erwiederte herzlich den Händedruck des jungen Barons. Letzterer war ihm mit einem Male um vieles näher gerückt; bis dahin hatte sich der Rechtsanwalt immer gegen den Verlobten seiner Schwester mit kühler, förmlicher Zurückhaltung bewegt. Er hatte in Hugo v. Engler nur einen jener modernen Kavaliere gesehen, welche den Glanz ihres morsch und brüchig gewordenen Wappens durch den Reichthum eines bürgerlichen Mädchens aufzufrischen suchen. Die offenen, von warmem Gefühlsleben sprechenden Worte des jungen Edelmannes aber thaten seinem Herzen wohl.
»Ich danke Ihnen,« versetzte er deshalb, während er einen herzlichen Blick auf den Anderen richtete.
Nach einer kurzen Weile des Stillschweigens nahm Hugo das Gespräch wieder auf. »Der Untersuchungsrichter hielt mich ungebührlich lange auf, und ich glaubte kaum noch, kommen zu können. Es wäre mir das aber um so peinlicher gewesen, weil mich morgen nach dem Begräbniß eine unabweisbare Pflicht vielleicht auf Tage von hier entfernt hält.«
»Sie wollen verreisen?«
Der Baron nickte. »Ja, ich muß morgen am Spätnachmittage mit dem Schnellzuge nach E.,« versetzte er. »Ich habe dort eine Zusammenkunft geschäftlicher Natur und weiß nicht, wie lange mich dieselbe in Anspruch nehmen wird.«
»Vielleicht begleite ich Sie nach dem Bahnhofe,« entgegnete Rudolph. »Zufällig habe ich mit dem Bahnhofvorsteher etwas abzusprechen.«
»Würde mich freuen, würde mich freuen,« versetzte der Baron.
»Aber Du darfst nicht lange bleiben, das mußt Du mir versprechen,« sagte Hildegard, welche seinen Arm nahm. »Mein Gott, Du machst Dich in der letzten Zeit überhaupt so selten! Nimm es mir nicht übel, Du bist ein unaufmerksamer Bräutigam.«
Hugo beugte sich zu ihr nieder und küßte ihr ritterlich die Hand. »Ein desto galanterer Gatte werde ich zu sein mich bestreben,« versicherte er mit liebenswürdigem Lächeln.
»Ach ja, wir erwarteten Sie ja auch vorgestern vergeblich,« schaltete Rudolph ein. »Ich glaubte, Sie wären wegen des Gewitters nicht gekommen.«
Der Baron lachte. »Dann wäre ich wirklich ein schöner Ritter ohne Furcht und Tadel gewesen«« versetzte er. »Nein – tausend Gewitter sollten mich nicht abhalten, bei meiner liebenswürdigen Braut zu verweilen.«
»Dafür aber haben es gute Freunde und auf Eis gekühlte Flaschen gethan,« lachte Hildegard und drohte ihm schmollend mit dem Zeigefinger »Warte, warte, mein wackerer Ritter Bayard, zum zweiten Male kostet das schwere Sühne.«
Hugo lachte und damit wendete sich das Gespräch einem anderen Thema zu.
Schon nach einer kurzen Weile erhob sich Rudolph indeß. »Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich meine Schritte weiter lenke,« sagte er; »aber ich tauge heute recht wenig unter die Fröhlichen und Sorglosen. Zudem will der Vater mich noch sprechen, wie Du sagtest, liebe Hildegard. Also auf Wiedersehen!«
Er verabschiedete sich in herzlichster Weise von dem Brautpaare und begab sich nach der Villa.
Dort empfing ihn die alte Wirthschafterin, welche seit dem frühen Tode der Mutter dem väterlichen Hausstande vorstand. Fürsorglich nahm sie ihm Hut und Stock ab und theilte ihm mit, daß sein Vater ihn bereits seit einer Stunde im Rauchzimmer erwarte. Als Rudolph in das letztere eintrat, fand er seinen Vater in diesem vor, langsam und gemächlich über den weichen Teppich hin und her wandelnd und einer fein duftenden Cigarre bläuliche Rauchwolken entlockend.
Der Ausdruck seines Gesichts war ein strenger. Ein arbeitsames, in Schaffen und Wirken verbrachtes Leben hatte tiefe Furchen mit ehernem Griffel in seinem Gesichte eingezeichnet. Die Augen sprachen von Klugheit und Geistesschärfe, die mäßig hohe, breitgeformte Stirn kündete starre Willensfestigkeit an.
Als er seinen Sohn eintreten sah, unterbrach Andreas Wichern seine Wanderung durch das Gemach. Er trat auf Rudolph zu und reichte ihm die Hand zum Gruße hin.
»Ich warte schon geraume Zeit auf Dich, Rudolph,« begann er. »Die höchst betrübenden Ereignisse der letzten Tage, von denen ja die ganze Stadt erfüllt ist, nöthigen mich, ein ernstes, aber gutgemeintes Wort mit Dir zu sprechen.«
Er ließ sich aus einen bequemen Armsessel nieder und lud seinen Sohn durch eine Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen. »Rauchst Du eine Cigarre?« frug er.
Aber Rudolph schüttelte den Kopf. »Es ist mir wirklich nicht um das Rauchen zu thun, lieber Vater,« meinte er gepreßt. »Mir ist das Herz so voll und schwer.«
»Mein lieber Junge, ich kann mir das denken,« begann der alte Herr wieder, ihn mit besorgten Blicken eine Weile betrachtend. »Ich wußte zuerst auch nicht, was ich sagen sollte, als das ungeheuerliche Gerücht mir zugetragen wurde. Karl Beck, der Mann, den ich von Jugend auf kenne und achte, wenn auch sein Lebensweg zuletzt weitab von dem meinigen sich zweigte, soll ein schweres Verbrechen begangen haben!«
»Er ist unschuldig, lieber Vater,« warf Rudolph ein, »es ist ganz unmöglich, daß der Vater Hedwig's ein solches Verbrechen begangen haben könnte!«
Der alte Herr schaute gedankenvoll vor sich hin. »Ich will Dir etwas sagen, mein lieber Junge,« meinte er dann endlich, seinen Blick voll auf seinen Sohn richtend. »Ich glaube Dir gern, daß Du Dich in einer sehr fatalen Lage befindest. Ich weiß es ja, wie lieb Du Deine Braut hast, andernfalls hätte ich auch nie und nimmer meine Einwilligung dazu gegeben, daß Du Dich mit der Tochter des tiefverschuldeten Mannes verlobtest. Also, ich begreife durchaus das ebenso lähmende wie kämpfende Drängen, das sich in Deiner Brust erhoben hat. Ich begreife auch vollkommen, wenn Dir der Gedanke ungeheuerlich erscheint, daß Beck sich wirklich eines solch' gemeinen Verbrechens schuldig gemacht haben soll – bitte, laß mich aussprechen,« versetzte er auf eine abwehrende Handbewegung seines Sohnes hin, »ich denke, wir kommen weiter, wenn wir die peinliche Angelegenheit in Ruhe und Freundschaft zum Austrage bringen. Also ich meine, das ist Alles bei Dir nicht nur natürlich, sondern sogar selbstverständlich. Anders liegt die Sache bei mir. Hinter mir liegt ein Leben voll reicher Erfahrungen. Immer mitten im Kampfe, mitten im Leben stehend, und zwar zu Zeiten an recht ausgesetzten Orten, habe ich mir viel Menschenkenntnisse gesammelt. Ich kenne ja die Prozeßangelegenheit, soweit sie den verhafteten Beck anbetrifft, erst aus den immerhin unvollkommenen Zeitungsberichten, aber ich denke, da ist kein Zweifel an seiner Schuld mehr möglich. Gesetzt den Fall aber auch,« fuhr er fort, ohne die Einwendung seines Sohnes zu beachten, »er wäre unschuldig, was folgert daraus? Sein guter Ruf, seine bürgerliche Ehre sind unwiederbringlich verloren. Hedwig wird immer die Tochter eines wegen Raubmords Verdächtigten bleiben. Ich muß Dir daher ernstlich zu bedenken geben, lieber Junge, ob Du das Kind eines solchen Mannes mir in das Haus bringen magst und darfst.«
Ein leiser Seufzer glitt über die Lippen des Rechtsanwalts. »Ich bin Dir für die zarte, rücksichtsvolle Art, mit welcher Du die peinliche Angelegenheit behandelst, vielen Dank schuldig,« meinte er dann. »Unter den obwaltenden Umständen ist natürlich an eine Heirath, wenigstens vorläufig, nicht zu denken.«
»Ich freue mich, daß Du so vernünftig bist.«
»Bitte, laß mich endigen,« unterbrach ihn Rudolph.
»Nicht ich bin es, der die Unmöglichkeit einer ehelichen Verbindung zugibt. Aber Hedwig hat als ihren festen, unbeugsamen Willensausdruck mir erklärt, nicht die Meine sein zu können, bevor nicht jeglicher Makel von ihrer Ehre genommen ist.«
»Das wird sie niemals erreichen können,« warf der alte Herr ein, dann hörte er wieder aufmerksam auf den Bericht seines Sohnes.
Als Rudolph damit zu Ende gekommen war, nickte Andreas Wichern vielsagend mit dem Kopfe. »Hedwig Beck ist ein tüchtiges, Achtung gebietendes Mädchen,« sagte er dann. »Sie ist noch mehr, sie ist vernünftig; ihr Verhalten gibt mir die Hoffnung, daß auch Du Deine Herzensneigung als einen flüchtig vorübergegangenen Liebesroman betrachten wirst. Ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß die Geschichte sich so glatt ordnen würde,« fuhr er fort, angelegentlich die Hände reibend. »Um so besser für Dich, für uns Alle. Hedwig hat vollkommen Recht, Du hast Rücksichten zu nehmen auf Dich und die Deinigen. Ich will ganz absehen von mir selbst, aber da ist Deine Schwester und ihr Verlobter, schon aus letzterem Grunde wäre eine ja Verbindung ganz undenkbar gewesen.«
»Verzeihe, lieber Vater,« entgegnete Rudolph hastig aufblickend. »Aber eben dieselben Rücksichten habe ich mindestens in demselben Grade auf meine Braut zu nehmen. Es ist selbstverständlich, daß ich niemals aufhören werde, Hedwig als meine Verlobte zu betrachten, und wird es erst meinen redlichen Bemühungen gelungen sein, die Untersuchung wider Beck niederschlagen zu lassen oder Letzteren mindestens vor den Geschworenen frei zu bringen, dann –«
Die Gesichtszüge des Fabrikanten verfinsterten sich.
»Du willst die Vertheidigung Beck's übernehmen?« fragte er.
»Es kann wohl nichts Selbstverständlicheres geben. Uebrigens denke ich, lieber Vater, wir reden heute nicht weiter über dieses Thema. Wir sind nicht einer Meinung, können nicht einer Meinung sein, aber wir sind Beide Männer, die nach bestem Wissen und Gewissen ihre Pflicht zu thun gedenken. Lasse mich deshalb meinen eigenen Weg gehen, und glaube sicher, daß ich niemals Dir Veranlassung geben werde, wegen Verunglimpfung Deines Namens, Deiner Ehre mich zur Rechenschaft ziehen zu müssen.«
Aber der alte Herr schüttelte nur noch ungehaltener den Kopf. »Wir leben in keiner Großstadt,« versetzte er. »Wir marschiren hier gewissermaßen an der Spitze, und diese Ehrenstellung nöthigt uns, Rücksichten zu nehmen, die für andere Leute nicht existiren. Ich habe keinen ruhigen Augenblick mehr gehabt, seitdem ich die vermaledeite Geschichte aus der Zeitung erfahren habe. Ich setze die nächsten vier Wochen keinen Schritt aus dem Hause, aus Furcht, im Kasino oder auf der Straße befragt und belästigt zu werden. Ich mache mir die bittersten Vorwürfe, daß ich mich zu irgend einer Zeit habe dazu verstehen können, meine Einwilligung zu solch' einer Verbindung zu geben. Aber ganz abgesehen davon, jedes Ding hat seine Grenzen, und meine Geduld auch. Ich wünsche und verlange ausdrücklich, daß Du den sehr vernünftigen Ansichten Fräulein Beck's beipflichtest, und daß Du Dich fernerhin in dem zu erwartenden Skandalprozesse neutral verhältst.«
»Das kann ich schon ans dem Grunde nicht thun, weil ich mich bereits bei Gericht zur Vertheidigung Beck's gemeldet habe,« entgegnete Rudolph. »Uebrigens ist Deine Ansicht eine irrige, lieber Vater, kompromittiren kann meine Parteinahme weder Dich, noch mich, wohl aber würde ein Neutralverhalten mich in den Augen eines jeden rechtlich denkenden Mannes brandmarken.«
Der alte Herr zuckte zusammen und maß seinen Sohn mit einem scharfen, durchbohrenden Blicke. Dann wendete er sich nach der Eingangsthüre. »Gute Nacht!« sagte er kurz.