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Der Direktor des Landesgefängnisses in Z., ein liebenswürdiger alter Herr, dessen straffer, ungebeugter Haltung man den ehemaligen Offizier deutlich ansah, empfing den Rechtsanwalt und seinen Begleiter äußerst zuvorkommend.
»Ich dachte es mir, dass ich dieser Tage Ihren Besuch erhalten würde«, meinte er. »Ich war gleichfalls nicht wenig erstaunt, als der Gefangene Beck mir den für Sie bestimmten Brief zur Beförderung einreichen ließ. Ich habe mir natürlich den Mann sofort vorführen lassen und suchte aus ihm herauszubekommen, wen er unter den Gefangenen meiner Anstalt erkannt zu haben glaube, aber er erklärte, er werde nichts aussagen, ehe Sie selbst zur Stelle seien.«
»Vielleicht dürfen wir von Ihrer Liebenswürdigkeit, Herr Direktor, hoffen, eine Unterredung mit dem Gefangenen Beck bewilligt zu erhalten, obwohl wir vorläufig nur in privater Eigenschaft erscheinen.«
»Ganz gewiss; wenn ich Sie aber bitte, Beck hier in meinem Zimmer und in meiner Gegenwart zu sprechen, so wollen Sie darin nicht irgendwelches Misstrauen sehen. Ich interessiere mich lebhaft für den Mann; soweit es mit meinen Dienstpflichten im Einklange steht, habe ich ihm ein möglichst erträgliches Los zu bereiten gesucht. Er wird mit Schreiben beschäftigt, und sein Arbeitspensum ist ein äußerst leichtes.« Er klingelte und befahl dem eintretenden Aufseher, den Gefangenen aus Zelle 287 vorzuführen.
Mit sichtlicher Freude eilte der Eintretende, durch einen Wink des Direktors dazu ermächtigt, auf Rudolph zu. Lange Zeit standen beide Männer Hand in Hand einander gegenüber und blickten sich stumm bewegt in die Augen. »Endlich, endlich kommen Sie«, unterbrach Beck zuerst mit zitternder Stimme das Stillschweigen. »Ich wage freilich noch immer kaum zu hoffen, dass mein, durch die Güte des Herrn Direktors ja gemildertes, Los sich ändern und günstiger gestalten könnte.«
»Hoffen wir das Beste, Herr Beck«, entgegnete Rudolph. »Zuerst aber ist es nötig, dass Sie Ihren Brief ergänzen und uns eine genaue Schilderung der Art und des Ortes ihrer Begegnung mit jenem Mann geben.«
Der Direktor bot auch dem Gefangenen einen Stuhl an. »Erzählen Sie ohne Scheu und seien Sie überzeugt, dass niemand glücklicher sein würde als ich, wenn es Ihnen gelänge, Ihre Unschuld nachzuweisen«, versetzte der gütige Mann.
»Ich befand mich in der Krankenabteilung«, begann Beck seinen Bericht, »ich fühlte mich recht elend und lag im Bett. In meinem Saale standen ungefähr zwölf Betten, die sämtlich belegt waren. Am Montage vergangener Woche nun wurde nachmittags die gebrauchte Wäsche abgeholt und frische gebracht. Ich achtete zuerst nicht auf die verschiedenen Männer, welche eifrig im Saale hantierten, aber auf einmal fiel mein Blick auf einen jungen Menschen, der mir seltsam bekannt erschien. Starr blickte ich nach dem Gesicht des mit seiner Arbeit Beschäftigten, der darum nicht meine rege gewordene Aufmerksamkeit bemerkte. Da durchzuckte mich plötzlich siedendheiß die Ahnung, dass ich jenen Menschen unter anderen Verhältnissen schon einmal gesehen habe. Nein, nein, kein Zweifel war möglich, ich hatte den Mann vor mir, der am Vorabend des mir so verhängnisvoll gewordenen Mordes mir auf der Türschwelle des Schimmel'schen Ladens begegnet war.«
»Aber wie ist das nur möglich?« schaltete der Kommissär ein. »Nichts entstellt mehr als die Abnahme des Bartes, besonders, wenn man den Betreffenden nicht früher schon einmal bartlos gesehen hat. Ich weiß das aus meiner Praxis. Wir Kriminalbeamte bedürfen eines sehr geübten Blickes, um in einer solchen Entstellung einen gesuchten Verbrecher wiederzuerkennen.«
»Oh, ich erkannte ihn sofort wieder«, rief Beck hastig. »Ich sagte ja damals schon, als mir der junge Baron von Engler gegenübergestellt worden war, dass wohl eine große Ähnlichkeit vorhanden, aber dass er nicht identisch mit dem anderen sei. Ich habe mir jeden einzelnen Zug des Gesichtes dieses Mannes während der Monate andauernden Kerkerhaft in meinem Gedächtnis mit unauslöschlichen Zügen eingeprägt. Je länger ich den ahnungslos arbeitenden Mann beobachtete, desto überzeugter wurde ich. Derselbe scheue, versteckte Blick, der mich damals im Vorübergehen achtlos gestreift hatte, flog auch jetzt bald dahin, bald dorthin durch den Saal. Und würden mir tausend ihm ähnlich Sehende gegenübergestellt, ich wollte ihn aus dieser Unzahl mit zweifelloser Sicherheit herausfinden und erkennen.«
»Nun, der Sache wollen wir bald auf den Grund kommen«, äußerte der Direktor. Er zog die Klingel und befahl dem eintretenden Oberaufseher, das Tagesjournal vom vergangenen Montag aus der Registratur herbeizubringen. Wenige Minuten später schon lag das dünne Heft vor dem Gefängnisdirektor, und dieser blätterte einige Augenblicke in demselben.
»Glücklicherweise sind sämtliche Kalfaktoren vom vorletzten Montage noch in Haft«, bemerkte er. »Es sind achtzehn Mann, davon sind sechs zum Wäschetragen an diesem Tage bestimmt gewesen.« Er wandte sich an den seiner Befehle harrenden Oberaufseher. »Lassen Sie die Nummern 37, 71, 113, 198, 211, 326 antreten und in dem dritten Innenhof spazierengehen.« Der Beamte verließ das Zimmer.
»Meine Herren«, fuhr der Direktor fort, »wir werden uns nun sämtlich, Sie inbegriffen«, die letzten Worte richtete er an Beck, »nach dem Vorraum jenes Innenhofs begeben, es ist das unser sogenannter Isolier- und Beobachtungshof. Vermittels eines sinnreich konstruierten Schiebefensters vermag man die auf dem Hofe vorübergehenden Leute genau zu beobachten und ihre Gesichtszüge zu studieren, ohne selbst gesehen werden zu können.«
Unter dem Vorantritt des Direktors begaben sich die Herren nach dem geschilderten Vorraum, einem zellenähnlichen Lokale, das durch eine einzige, einer Schießscharte in Festungswällen ähnliche Luke sein Licht erhielt. »So, Beck, stellen Sie sich hierher«, befahl der Direktor, auf den Mittelplatz vor der Luke zeigend. »Hier haben Sie am besten Gelegenheit, die Gesichtszüge der Vorüberschreitenden zu beobachten. Wir werden Ihnen zur Seite treten und haben ebenfalls noch einen freien Blick nach dem Hofe.«
Einige Minuten vergingen, dann wurde Schlüsselgerassel laut; die in einer Seitenmauer befindliche Tür wurde geöffnet, und unter Vorantritt eines Aufsehers marschierten sechs Sträflinge in den Hofraum ein. Der Aufseher schloss die Tür wieder, dann stellte er sich inmitten des Hofes auf, und die Sträflinge begannen, immer in sechs Schritt Abstand voneinander bleibend, einen einförmigen Rundgang längs der Mauern des Hofes. Rudolph, der zur Linken Becks stand, hatte unwillkürlich dessen Hand erfasst. Jetzt verspürte er auf einmal ein heftiges Erzittern derselben.
»Dort, dort«, hauchte Beck, während es mächtig in seiner Brust zu arbeiten schien. »Jener Mensch, der soeben vorüberkommt, er hat eine römische IV in gelber Litze auf dem linken Oberarm eingenäht, mit dem bleichen, eingefallenen Gesicht.«
»Aha«, äußerte der Direktor, dem kein Wort Becks entgangen war und der den bezeichneten Gefangenen scharf ins Auge genommen hatte. »Das ist freilich ein alter Bekannter von uns, dem jede Schandtat zugetraut werden kann. Der Bursche trug auch bei seiner Einlieferung einen schwarzen Schnurr- und Knebelbart.«
»Auch mir kommt der Mensch bekannt vor«, meinte der Polizeikommissär nachdenklich, unausgesetzt mit scharfen Blicken den eben den Rücken wendenden und langsam sich fortbewegenden Verbrecher verfolgend. »Einen schwarzen Schnurrbart, sagen Sie, soll er getragen haben. Das kann kein anderer als Fritz Thomas, der ›Kellnerfritz‹, wie er in den Verbrecherkreisen heißt, sein!«
»Erraten«, bestätigte der Direktor, während er gleich den anderen vom Fenster zurücktrat. »Es ist ein Landsmann von Ihnen. Das letzte Mal hat ihn uns die Residenz hierher geschickt, dort hat er bei der bekannten Juwelierfirma Huger ein höchst raffiniertes Betrugskunststück in Szene gesetzt, das indessen glücklicherweise noch rechtzeitig entdeckt worden ist. Das Gericht hat ihn noch einmal mit einem blauen Auge davonkommen lassen, das nächstemal geht er sicher am Zuchthause nicht vorüber, und dann werde ich wohl des zweifelhaften Vergnügens, ihn beherbergen zu müssen, enthoben sein.«
»Der Kellnerfritz«, murmelte der Kommissär nachdenklich vor sich hin, »zum Henker, wie konnte ich nur diesen Burschen vergessen! Aber freilich, er hat sich die letzten Jahre über gut geführt, gemeldet wurde nichts über ihn. Schwarzer Schnurrbart und Kinnfliege, natürlich ,–« Plötzlich wandte er sich an den Direktor. »Sind seine bei der Verhaftung beschlagnahmten Sachen hier mit eingeliefert?«
»Gewiss, aber Sie werden wenig genug finden; der Bursche muss bei seiner Verhaftung so ziemlich abgebrannt gewesen sein«, bestätigte der Direktor. »Sonst würde er auch wohl nicht das verzweifelte Manöver bei der Juwelierfirma versucht haben, denn seine eigentliche Spezialität sind doch Einbruchsdiebstähle. Nur wenige Mark sind bei ihm vorgefunden worden, außerdem eine Brieftasche mit geringem, gleichgültigem Inhalt, ein noch ziemlich neuer blauer Kammgarnanzug, ein Filzhut und ein grauer Radmantel.«
Diese letzten gleichgültig gesprochenen Worte versetzten die übrigen Anwesenden in die hochgradigste Aufregung, selbst der sonst so kaltblütige Kommissär verlor auf einen Augenblick seine Fassung und Selbstbeherrschung. »Was sagen Sie? Einen grauen Radmantel besitzt er? Dann wäre der Bursche gefasst!«
»Gottlob«, rief Rudolph. »Das ist ja eine unerwartete erfreuliche Wendung, von welcher wir das Beste erhoffen dürfen!«
»Jubilieren wir nicht zu früh«, wandte Grösser ein. »Vor allen Dingen müssen wir den Herrn Direktor um die Liebenswürdigkeit bitten, die Effekten von ,–«
»Nummer 326«, ergänzte der Direktor.
»Also die Effekten von Nummer 326 in genauen Augenschein nehmen zu dürfen.«
»Dem steht kein Hindernis entgegen. Wenn Sie es wünschen, werde ich sofort den Hausverwalter beauftragen, uns die Sachen in mein Amtszimmer schaffen zu lassen.« So geschah es. Schon als ein Sträfling in Begleitung des Hausverwalters das Paket hereinbrachte, ging ein befreiender Atemzug über die Lippen der Anwesenden. Sämtliche Gegenstände waren nämlich in ein graues Tuch, das sich aber bei näherer Besichtigung als ein Mantel herausstellte, eingebunden worden. Der Direktor trat zu dem Kommissär und sagte: »Sie sehen, dass ich die Sachen ziemlich gut im Gedächtnis hatte, das gewöhnt man sich durch die lange Praxis an; besonders einem solchen Bekannten wie dem ›Kellnerfritz‹ ist man schon einige Aufmerksamkeit schuldig.«
Der Kommissär lächelte nur flüchtig. In großer Hast hatte er den Knoten gelöst und die anderen Gegenstände aus dem Mantel genommen. Letzteren entfaltete er nun und legte ihn prüfend auf die eigenen Schultern.
»Jawohl, das ist der Mantel, darauf möchte ich schwören«, rief Beck in höchster Erregung.
»Nun, das wäre schon ein wichtiges Beweisstück«, versetzte Grösser. »Auf jeden Fall würde der mir auch nicht ganz unbekannte ehrenwerte Herr über seine damaligen geschäftlichen Beziehungen zu Schimmel Auskunft geben müssen. ,– Aber sehen wir weiter zu, was der Inhalt der Brieftasche sein mag.«
»Da machen Sie sich nur auf eine kleine Enttäuschung gefasst«, lächelte der Direktor, der die Brieftasche aufgenommen hatte und deren Inhalt nun auf den Tisch schüttelte. »Einige Liebesbriefe, wie es scheint von einem überspannten Frauenzimmer geschrieben, einige unbezahlte Hotelrechnungen, und dann verschiedene Notizen von der Hand des Verbrechers selbst.«
Grösser hatte sich über die Brieftasche und deren entleerten Inhalt gebeugt. Gleich darauf entrang sich ein leiser Ausruf äußerster Überraschung seinen Lippen; er hatte ein Papier entfaltet und einen schnellen Blick auf dasselbe geworfen. »Meine Herren, ich glaube Ihnen eine bemerkenswerte Entdeckung mitteilen zu können«, sagte er. »Der Gefangene ist im Besitze zweier Briefe, welche augenscheinlich von der Hand der ermordeten Dora von Gerstenberg herstammen. ,– Hier ist übrigens noch mehr«, setzte er gleich darauf hinzu, während er Rudolph beim Arm erfasste und ihn gewaltsam zwang, den Blick in ein von ihm geöffnetes kleines Notizbuch zu werfen. »Kommt Ihnen diese ungefüge, fast wie verstellt erscheinende Handschrift nicht bekannt vor?«
»Diese Handschrift und jene Schriftzeichen in dem Begleitzettel des damals an Hedwig gelangten Wertpaketes ,…«
»Sie rühren von ein und derselben Hand her, darauf möchte ich jeden Eid schwören, obgleich ich kein vereidigter Schriftvergleicher bin.«
»Nun will es endlich lichter Tag werden, nachdem ich selbst schon fast alles Hoffen aufgegeben hatte«, sagte Rudolph tief ergriffen, immer wieder von neuem dem selbst fassungslos dastehenden Beck die Hände schüttelnd.
»Nun aber, lieber Freund«, wandte er sich dann an den Kommissär, »handeln Sie sofort. Der Herr Direktor ist gewiss so gütig, jenen Burschen herbeiholen zu lassen ,– und dann ,–«
»Dann verfahren wir den Karren noch gründlicher«, fiel der Kommissär lachend ein.
»Wieso?«
»Ich will damit nur ausgedrückt haben, dass wir es vorläufig nur mit Vermutungen zu tun haben, aber noch nichts Bestimmtes wissen«, entgegnete Grösser. »Ich werde jetzt zunächst nach der Residenz reisen und mir dort die Akten über den Fritz Thomas vorlegen lassen. Erst muss ich vor allen Dingen klar sehen, bevor ich Weiteres beschließen kann, zudem muss man solch einem gewiegten, hartgesottenen Burschen gegenüber einen ganz bestimmten Plan befolgen, wenn man nicht ein eklatantes Fiasko erleiden will. Er muss derart überrascht werden, als wenn ein Blitz aus heiterem Himmel direkt vor seinen Füßen in den Boden niederschlägt, und dazu brauche ich noch mehr Beweismaterial und ein wenig mehr Kaltblütigkeit, als ich sie in diesem Augenblick besitze.«
Rudolph musste dem Besonnenen Recht geben. »Ich stimme Ihnen bei«, versetzte er, »aber es ist mir nur um Herrn Beck zu tun, es widerstrebt meinem Gefühl, ihn auch nur einen Tag länger unschuldig leiden zu sehen.«
»Nun, dafür lassen Sie mich nur sorgen«, fiel der Direktor ihm ins Wort. »Ihr Klient soll es nicht zu schlimm bei mir haben; hat er hier so viele Wochen hoffnungslosen Kummers durchlitten, wird es ihm auch auf die wenigen Tage hoffnungsfreudigen Zuwartens, die er noch in dieser Anstalt verbringen muss, nicht ankommen.«
Beck nickte nur mit dem Kopf; zu sprechen vermochte er nicht.
»Nun denn, so wollen wir keine Zeit verlieren«, drängte der Kommissär. »Sie gestatten mir wohl, Herr Direktor, dass ich die beiden Briefe sowie das Notizbuch des Verbrechers und seinen Radmantel mit Beschlag belegen darf?«
»Es verstößt allerdings gegen die Vorschriften«, entgegnete der Beamte, »aber ich liefere Ihnen in Anbetracht des guten Zweckes die Sachen bedingungslos aus.«
»Ich danke Ihnen«, versetzte Grösser verbindlich. »Vielleicht werden wir uns schon morgen wieder bei Ihnen vorzusprechen erlauben. Sie werden mich doch nach der Residenz begleiten?« wandte er sich dann an Rudolph.
»Selbstredend.«
Beck ergriff seine beiden Hände. »Wie soll ich Ihnen nur danken, was Sie alles an mir getan haben?« stammelte er gerührt.
Da leuchtete es in den Augen Rudolphs freudig auf und er neigte sich ganz dicht zu dem Ohre des anderen. »Wenn Sie wieder frei sind, legen Sie ein gutes Wort für mich ein«, flüsterte er ihm zu. Ein freudiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er den kräftigen Händedruck des schicksalsgeprüften Mannes empfand. Während Beck nach seiner Zelle zurückgeführt wurde, verabschiedeten sich die beiden Herren in herzlichster Weise von dem Direktor.
Bereits am zweiten Tage kehrten sie indessen wieder zurück. Grösser hatte eine unermüdliche Tätigkeit entfaltet. Binnen vierundzwanzig Stunden war es ihm mit intensiven Nachforschungen gelungen, das notwendige Material zu erhalten. Nunmehr hatte Grösser allerdings nicht mehr allein zu handeln gewagt, sondern den Untersuchungsrichter Alberti von dem Vorgefallenen unterrichten müssen. Er hatte zuerst einen schweren Stand bei ihm gehabt, schließlich aber doch die Voreingenommenheit Albertis besiegen können.
»Dann freilich dürfen wir keinen Augenblick Zeit verlieren«, sagte Alberti, in Eifer geratend. »Ich werde der Vorsicht halber gleich meinen Protokollanten mit nach Z. nehmen. Suchen wir den Burschen sofort auf!«
»Aber gestatten Sie mir, Herr Rat, zuerst allein mit ihm zu verhandeln«, bat Grösser.
»Nun, meinetwegen, ich bin Ihnen ja gewissermaßen eine Genugtuung schuldig«, gab Alberti zu. »Gelingt es Ihnen, wie vorauszusehen, nicht, aus dem verstockten Burschen etwas herauszubekommen, dann bin ich ja immer noch da.«
Als die vier Herren in der Strafanstalt eintrafen, wurden sie von dem Direktor zuvorkommend aufgenommen. Besonders herzlich begrüßte er den ihm persönlich bekannten Untersuchungsrichter. »Sie sehen uns in einer fatalen Sache hier«, meinte Alberti nach der ersten Begrüßung. »Sie kennen ja ohne Zweifel den verwickelten Fall Beck und Konsorten, nun ist es unserem Kommissär Grösser hier anscheinend gelungen, etwas Licht zu schaffen, und so bin ich denn gekommen, um die Sache in das richtige Fahrwasser zu bringen.«
»Wenn Sie mir gestatten, Herr Direktor«, wandte der Kommissär sich an den Gefängnisvorstand, »so bitte ich Sie, den Gefangenen Thomas ohne eine vorherige Benachrichtigung unseres Hierseins vorführen zu lassen. Er kann ja in den Glauben versetzt werden, dass er wegen einer anderen Angelegenheit vernommen werden soll.«
»Ganz nach Ihrem Wunsche. Soll eine Konfrontation mit Beck stattfinden?«
»Durchaus nicht«, erwiderte Grösser. »Im Gegenteil, denn der begreiflicherweise erregte Mann könnte mich in Durchführung meiner Absichten durch irgendeinen unvorsichtigen Ausruf behindern. Wenn Sie also gestatten, Herr Rat«, wandte er sich an Alberti, »werde ich den Burschen zuerst vernehmen.«
»Tun Sie das nur; wir können uns ja einstweilen in den Hintergrund zurückziehen.« Der Direktor klingelte und gab dem eintretenden Aufseher den Auftrag, Nummer 326 vorzuführen. Dann traten mit ihm die anderen Herren in eine der geräumigen Fensternischen zurück und ließen sich auf dort bereitstehende Sessel nieder, während der Kommissär scheinbar harmlos und unbefangen neben dem Schreibtische des Direktors lehnte und die Arm über der Brust gekreuzt hatte.
Die Tür öffnete sich, und der Sträfling trat ein. Als er den Kommissär erblickte, den er gleich auf den ersten Blick erkannte, stutzte er. »Tritt nur näher, Thomas«, begann Grösser in gemütlich klingendem Ton, »ich möchte nur eine kleine Frage an dich stellen.«
Mißtrauisch trat der Sträfling näher. In anscheinend kordialer Vertraulichkeit fasste der Kommissär ihn bei einem Knopfe seiner Jacke und sah ihm durchdringend in die Augen. »Nun sage einmal, Thomas«, meinte er in gedämpftem Ton, als ob die übrigen im Zimmer Befindlichen es nicht zu hören brauchten, »hast du zuerst das Fräulein von Gerstenberg abgetan, oder bist du zuerst dem alten Rentier ans Leben gegangen?«
Bei dieser unerwarteten Frage ging es wie ein elektrisches Zucken durch den Körper des Sträflings. Er prallte jäh zurück und starrte wie entgeistert auf den mit liebenswürdig und behaglich lächelnder Miene vor ihm stehenden Kommissär.
»Wie ,– was?« stammelte er, mühsam nach Fassung ringend. »Sie scherzen wohl, Herr Kommissär. Ich ,– ich weiß von nichts.«
»Ach, alter Freund, habe dich doch nicht«, meinte Grösser wieder und trat noch näher an ihn heran. »Schimmel hat gepfiffen.«
Der Verbrecher lachte höhnisch auf. »Oho, Sie wollen mich wohl fangen, Herr Kommissär? Aber machen Sie sich keine vergebliche Mühe, denn ich weiß von gar nichts!« »Sei kein Esel«, unterbrach ihn Grösser immer noch mit behaglichem Schmunzeln. »Du hast natürlich die Zeitungen in den letzten Wochen nicht gelesen. Du weißt gar nicht, dass dein guter Freund Schimmel bei einem Raubmord an dem Gastwirt Brendel auf frischer Tat ergriffen worden ist?«
Der andere starrte ihn misstrauisch an. »Beim Brendel, dem Herbergswirt?« murmelte er.
»Natürlich, bei dem dicken, groben Kerl«, log der Kommissär mit der glaubwürdigsten Miene. »Er hatte eine Erbschaft von seiner Mutter gemacht, und die mag dem Trödler wohl in die Nase gestochen haben. Er hat mir aber auch eine Geschichte erzählt, wie er den Unterhändler zwischen dir und jener Dora gemacht hat.«
»Das ist gelogen«, stieß der Sträfling hervor.
»Aber lasse mich doch erst ausreden«, fuhr der Kommissär fort. »Er hat mir ja den letzten Brief gegeben, den Dora dir geschrieben hat; weißt du noch: Was Gutes zu essen sollte es geben und einen Tropfen Johannisberger.« Bei diesen Worten reichte er wie zur Bestätigung seiner Worte den Brief Doras, den er inzwischen seiner Brieftasche entnommen hatte, dem Sträfling. »Na weißt du, die Nacht hast du einen guten Griff getan«, fuhr er dann gleich wieder fort, ohne dem anderen Zeit zur Überlegung zu lassen. »Hast du denn das viele Geld eigentlich auch richtig gezählt? Gerade 71 ,000 Mark waren es und lauter schöne Goldstücke, leider waren sie alle gezeichnet.
Deshalb hat Schimmel sie dir auch nicht mitgegeben, aus lauter Besorgnis, du könntest bei der Verausgabung beim Kragen genommen werden, ein verteufelt schlauer Fuchs! Er sitzt auf den Geldsäcken, und du musst dich in Ungelegenheiten bringen, könntest als Baron leben, was du ohnehin so gut verstehst, und nun stehst du in solch einer erbärmlichen Kluft vor mir!«
Röchelnd pfiff der Atem über die Lippen des Sträflings, dessen Augen weit aus den Höhlen quollen, während maßlose Wut sein bis dahin farbloses Gesicht bläulich anlaufen ließ.
»Das hätte Schimmel wirklich gesagt?« stieß er endlich hervor. »Er hat das Geld ausgeliefert?«
»Nun, so schlecht will ich ihn gerade nicht machen, ich habe das Geld in seiner Gegenwart bei einer Haussuchung gefunden. Ich sagte dir ja vorhin schon, wir haben ihn kaltgestellt, und um sich womöglich durch ein reumütiges Geständnis seinen eigenen Hals zu sichern, redet er dich nun in die Tinte.«
»Der Hund!« stieß der Sträfling plötzlich in nicht zu schildernder Wut hervor. »Wer ist es denn gewesen, der die ganze Sache angestiftet hat! Oh, ich weiß viel von ihm, ich will ihm eine Suppe einbrocken ,–«
Der Kommissär blieb völlig gelassen. »Auch den Grabstichel habe er dir verkauft, mit dem du den Alten abgetan hast ,–«
»Geradezu aufgedrängt hat er ihn mir«, stieß Thomas hervor. Aber die Worte waren noch nicht seinen Lippen entflohen, als er sich auch schon entfärbte. »Das weiß ich nicht«, stammelte er verwirrt.
»Sei still und ziere dich nicht. Komm her und mache deinem gepressten Herzen Luft, sag's jenem Herrn dort, er ist dir ja auch nicht ganz unbekannt, wie's zugegangen ist, dann bist du der Sache ledig. Ein schlauer Bursch bist du auch und weißt, dass es dir nur nützlich sein kann. Der Trödler hat dich schon zu tief in die Tinte hineingeritten, und sagst du es nicht freiwillig, dann wirst du eben auf Grund eines Indizienbeweises verurteilt, und dass es dir dann an den Kragen geht, das kannst du dir wohl denken.«
»Sie sind ein Schlauer, Herr Kommissär, ich kenne Sie wohl«, meinte der Sträfling, »Sie haben schon so manchen hineingelegt, dass ihm die Ohren gesaust haben.«
»Unsinn, Junge, das waren Grünschnäbel, aber alte Bekannte, wie wir beide ,– Zum Henker, man weiß doch am Ende, was man sich gegenseitig schuldig ist«, lachte der Kommissär.
Sichtlich mit sich kämpfend stand der Verbrecher da. »Und er hat mich wirklich verraten?« rief er dann heiser.
»Woher sollte ich's denn sonst wissen?« versetzte Grösser scheinbar sorglos.
»Gut denn, wenn ich schon einmal in der Tinte sitze, dann soll der andere es aber auch ausbaden müssen!«
Dies schien das Stichwort für die Herren am Fenster zu sein. Ernst und gemessen näherte sich Alberti. »Wollen Sie ein unumwundenes, offenes und wahrheitsgetreues Geständnis ablegen?« fragte er. »Auch ich kann nur wiederholen, dass Sie der Tat bereits so gut wie überführt sind, es geschieht zu Ihrem eigenen Besten, wenn Sie gestehen!«
Da aber glitt ein fast verächtliches Lächeln über die Lippen des Sträflings. »Ich erlebe es doch nicht mehr, dass ich aus den Gefängnismauern herauskomme«, murmelte er. »Aber dem anderen will ich den Brei erst recht versalzen.« Auf einen Wink Albertis nahm der Protokollant am Tische Platz, und nun begann der geschickt durch den Untersuchungsrichter ausgefragte Verbrecher ein Geständnis abzulegen, das endlich volles, klares Licht brachte.