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XIV
Chiffre

»Ja, ja, es ist so, wie ich Ihnen sage«, bekräftigte die Wirtin Hedwigs, den jungen Rechtsanwalt durch eine Handbewegung einladend, einzutreten, »gestern abend war Ihr Herr Vater bei dem Fräulein, und heute Früh hat sie, ohne mir eine neue Adresse zu geben, Knall auf Fall die Wohnung verlassen.«

Rudolph stand fassungslos, seine Augen vergrößerten sich unnatürlich und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll dick an. »Mein Vater?« sagte er nach geraumem Stillschweigen. »Wie sollte mein Vater dazu gekommen sein, den Fuß über diese Schwelle zu setzen?«

»Doch, doch!« rief die Wirtin eifrig. »Er war da und hat eine recht erregte Auseinandersetzung mit dem Fräulein gehabt. Als er gegangen war, hat das Fräulein die ganze Nacht geweint, vergeblich habe ich ihr Trost zuzusprechen versucht. Sie hat mir nun heute Morgen erklärt, sofort ausziehen zu wollen ,… Übrigens hat sie mir auch einen Brief für Sie übergeben.«

Damit eilte die bewegliche Frau auch schon nach ihrem Wohnzimmer und kam gleich darauf mit einem verschlossenen Schreiben zurück, das sie Rudolph einhändigte. Mit bebender Hand nahm dieser den Brief entgegen, dessen an ihn gerichtete Aufschrift die ihm so wohlbekannten teuren Schriftzüge des geliebten Mädchens trug. Wie geistesabwesend starrte er bald auf die Wirtin, bald auf den Brief in seiner Hand nieder. »Und sie hat nicht gesagt, wohin sie sich zu wenden gedachte?« murmelte er.

»Das ist es ja eben«, eiferte die Wirtin. »Es war doch sonst ein so liebes und kluges Mädchen, aber diesmal war sie ganz aus dem Häuschen, ich konnte reden, was ich wollte, sie hörte auf nichts. Da sie mir obendrein die Miete für den nächsten Monat auf den Tisch legte, so hatte ich schließlich gar kein Recht, sie zurückzuhalten. Sie ließ sich eine Droschke holen und nahm gleich ihr Gepäck mit sich. Sie wird wohl nach einem Hotel gefahren sein, wenn sie nicht gar nach auswärts verzogen ist.«

»Und Sie haben meinen Vater wirklich erkannt?«

»Du lieber Gott, wer sollte Ihren Vater nicht kennen, einen solch hochangesehenen Herrn?«

Rudolph schwieg, eine lange Weile starrte er finster brütend vor sich nieder, dann hob sich seine Brust unter einem tiefen Seufzer. »Es ist gut, ich danke Ihnen«, versetzte er mit tonloser Stimme, »leben Sie wohl.« Er wandte sich um und verließ die Wohnung, welche bis dahin seiner geliebten Braut ein Unterkommen gewährt hatte. Nur zu klar war es ihm geworden, welche Motive seinen Vater zu Hedwig geführt hatten. Ein maßloser Zorn, der lange schon in seinem Herzen gewühlt und gebohrt hatte, loderte jetzt in ihm auf. Gewiss waren harte, böse Worte zwischen Hedwig und seinem Vater gefallen; verwundeten, gekränkten Herzens hatte sie sich gewendet und war entflohen ,– entflohen für immer! Mechanisch schritt Rudolph Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Als er den Hausflur erreicht hatte, blieb er stehen; verstört blickte er auf das Schreiben, das er noch immer uneröffnet in der Hand trug. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust, dann öffnete er schnell und entschlossen den Brief und las ihn bei dem gedämpften Widerscheine des durch die bemalten Fensterscheiben dringenden Lichtes.

 

Mein lieber, teurer Rudolph!

Verzeihe mir, wenn ich dir von neuem Schmerz bereiten muss, aber die letzte schlaflose Nacht hat in mir die schon lange gehegte Überzeugung neu gekräftigt und zur unwiderruflichen Tatsache umgeschaffen, dass dein Glück nur gedeihen und sich befestigen kann, wenn wir beide uns trennen.

Dein Vater kam gestern abend zu mir und bat mich, dich frei zu geben. Ich antwortete ihm, dass ich dich schon längst deiner Verpflichtung mir gegenüber entbunden habe, und dass es nur ein freiwilliges Ausharren deinerseits gewesen sei. Er glaubte mir nicht, sondern forderte von mir den Ring, den du mir in einer unvergesslich süßen und glücklichen Stunde einstmals an den Finger gesteckt hast. Ich gab das Kleinod Deinem Vater mit, verzeihe, wenn ich dich dadurch gekränkt habe, aber ich konnte nicht anders.

Zürne aber auch, ich bitte dich darum, Deinem alten Vater nicht, denn siehe, er meint es herzlich gut und treu mit dir. Seine Besorgnis um deine Zukunft war es ja einzig und allein, welche ihn dazu bewogen hat, persönlich zwischen uns zu treten, um das durch Schicksalsschläge aller Art ja ohnehin schon stark gelockerte Band, welches uns bis dahin verbunden, vollends zu trennen. Dein Vater hat Recht. Er sprach mir gegenüber nur nochmals aus, was ich schon in der Sterbestunde meiner unvergesslichen seligen Mutter als unumstößliche Wahrheit in der Tiefe meines Herzens empfunden habe, dass ich nämlich niemals deine Frau sein kann und werde. Glaube mir, mein teurer Rudolph, es wird mir nicht leicht, den Schritt zu unternehmen, der bereits geschehen ist, wenn diese Zeilen in deine Hände kommen.

Inständig bitte ich dich, forsche nicht nach mir, lass mich allein in Zukunft für mich leben, denn dein Anblick würde die mühsam errungene Entschlossenheit meines Herzens wieder zunichte machen und über dieses von neuem die bitteren, furchtbaren Kämpfe heraufbeschwören, die ich die letzten Wochen durchzuleiden hatte.

Lass mich jetzt in der Scheidestunde, die unsere Geschicke unwiderruflich trennen soll, dir nochmals sagen, dass ich mir kein größeres Glück hätte denken können, als die deine zu werden. Lass mich dir aber auch zugleich versichern, dass nach dem Vorgefallenen all dein Bitten und Bestürmen mich nie mehr bewegen könnte, deine Frau zu werden, selbst wenn mein Vater mangelnder Beweise halber, wie dein Vater sich ausdrückte, freigesprochen werden würde. Erst gestern abend ist mir voll und ganz die Kluft klar geworden, welche mich und meinen unglücklichen Vater von jenen beneidenswerten Menschen trennt, die sich in der Gunst ihrer Mitmenschen sonnen dürfen.

Nimm diese Worte hin, als wenn sie von einer Sterbenden an dich gerichtet wären, denn ich bin und werde tot für dich sein in Zukunft!

Gottes Segen auf dich, mein Liebling, er lasse es dir gut gehen und lasse dich recht bald den Frieden des Herzens wieder finden.

Hedwig

 

Der junge Rechtsanwalt stand noch eine halbe Stunde unbeweglich an dem Treppenfenster und las den inhaltsschweren Brief des heißgeliebten Mädchens immer von neuem wieder durch. Er achtete nicht darauf, dass vorübergehende, die Treppen auf und ab gehende Personen stehenblieben und ihn neugierig musterten. Er wusste nicht einmal, wo er sich befand. Zuletzt verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und vor seinem tränenden Blicke stieg die schlanke, jugendlich anmutige Gestalt der ihm nunmehr auf ewig Verlorenen verlockend auf. Er wusste es, dass Hedwig nun eher sterben als die Seinige werden würde. Sein Vater musste ihren Stolz schwer gekränkt haben.

Sein Vater! Wie ihn dies eine Wort schon verbitterte, wie es maßlosen Zorn in seinem Herzen auflodern ließ! Rudolph wusste kaum, wie er aus dem Hause kam. Wie traumverloren schritt er durch die Straßen der Stadt. Instinktiv strebte er den Parkanlagen zu; dort ließ er sich auf einer verborgen stehenden Bank nieder und saß stundenlang in dumpfes Brüten versunken da. Erst das zu ihm herüberdringende Geläute der Abendglocke brachte ihn wieder zu sich. Verstört starrte er um sich. Golden strahlte die scheidende Abendsonne durch das schon herbstlich gefärbte Laub auf ihn hernieder. Von da und dort kamen mit fröhlichem Gezwitscher die Vögel heimwärts gezogen, um ihre Nester aufzusuchen.

Ein bitteres Lächeln umspielte den Mund des jungen Mannes, wenn er daran dachte, dass auch er den Schritt heimwärts lenken solle. Ihm graute vor der Möglichkeit, mit seinem Vater zusammenzutreffen. Im nächsten Augenblick hatte sich seine Stimmung wieder umgewandelt. Nein, im Gegenteil, er wollte, er musste es zur Aussprache mit seinem Vater kommen lassen. Dieser war ihm Rechenschaft schuldig, denn er war kein unmündiger Knabe mehr, über dessen Lebensglück andere, ohne ihn selbst zu fragen, verfügen konnten. Ein finsterer Entschluss blitzte in seinen Augen auf; er erhob sich und eilte schnellen Schrittes der Villa zu.

Er fand den alten Herrn wie gewöhnlich in dessen Wohnzimmer. Andreas Wichern saß hinter dem geöffneten Fenster. Beide Fensterflügel standen weit auf. Als er Rudolph eintreten sah, verdüsterte sich seine Stirn, und sein Blick haftete forschend auf dem finsteren Blick seines Sohnes. Dann erhob er sich plötzlich hastig von seinem Stuhl, schloss das Fenster und trat auf Rudolph zu. »Ich habe dir eine Eröffnung zu machen, Rudolph«, begann er mit einigermaßen unsicherer Stimme. »Du weißt, krumme Wege haben nie zu meinen Liebhabereien gehört. Ich habe es für meine Vaterpflicht gehalten, Rücksprache mit Hedwig Beck zu nehmen.«

»Ich weiß es bereits«, entgegnete Rudolph, »siehe hier die Früchte deines Handelns!« Damit zog er den Brief Hedwigs aus der Tasche und überreichte denselben seinem Vater.

Zögernd nahm Andreas Wichern das Schreiben entgegen. Aber schon, nachdem er die ersten Zeilen gelesen, veränderte sich seine Miene, immer gespannter wurden seine Züge, und als er das inhaltsschwere Schreiben gelesen hatte, da nickte er gedankenvoll vor sich hin. »In der Tat, ein selten braves, hochherziges Mädchen«, murmelte er wie in einem Selbstgespräche vor sich hin. »Schade, dass sie solch einen Vater haben muss!«

Rudolph war ganz nahe an ihn herangetreten. »Du sagst die Wahrheit, Vater«, begann er, »Hedwig ist ein Engel an Güte und Hochherzigkeit! Und dieses herrliche Geschöpf hast du mir entfremdet. Kurzsichtig verblendet hast du um des schnöden Urteils der Menge willen das Liebste geopfert, was es für mich gibt. ,– Lass mich ausreden«, fuhr er heftiger fort, als sein Vater ihn unterbrechen wollte, »vielleicht zu lange habe ich geschwiegen und dir durch dieses Schweigen in deinen Augen ein Recht eingeräumt, das du nun missbraucht hast. Ich danke dir für alles Gute, Vater, was du mir je erwiesen hast. Ich würde ein Unrecht begehen, wenn ich nicht zugeben wollte, du seiest mir immer ein treubesorgter, liebevoller Vater gewesen.

Selbst in diesem Augenblick, wo ich dir wegen deiner Handlungsweise zürnen muss, will ich anerkennen, dass diese selbst nur aus deiner besorgten, wohlmeinenden Liebe für mich entsprungen ist. Aber dennoch, Vater, du kannst nicht begreifen, dass es im Menschenherzen Saiten gibt, an die man nicht rühren darf, dass die wahrhaftige, echte Liebe nicht nach den Menschen fragt und nach deren Urteil, dass es sie gleichgültig lässt, ob mit ihr Glück, Rang und Ansehen einzieht, oder ob sie bettelarm allein kommt, ärmlich und bloß.

Doch solchen Erwägungen bist du ,– ich weiß es ,– leider unzugänglich. Wie hättest du auch sonst das Mädchen von mir reißen können, das mich verstand, das mich liebte aus ganzem Herzensgrunde, weil ich es würdig fand, geliebt zu werden. Oh Vater, es war Unrecht, du glaubtest mir zu dienen und du hast mich so unglücklich gemacht, dass das Leben nun wüst, öde und schal vor mir liegt ,–«

Andreas Wichern sah seinen Sohn mit solch kummervollem, besorgtem Blicke an, dass Rudolph unwillkürlich die unmutigen Worte, die ihm noch auf den Lippen schwebten, unterdrückte.

»Lass mich dir etwas sagen, mein Sohn«, begann der Fabrikant mit eigentümlich gepresstem Ton. »Du sagst selbst, dass du glaubst, ich sei nur um deinetwillen und weil ich es für dein Bestes halte, schroff gegen jenes Mädchen aufgetreten. Das allein ist auch in der Tat mein Beweggrund gewesen, aber jetzt tut's mir wehe, dass ich zu ihr gegangen bin. Sie ist ein Mädchen, vor dem man den Hut tief abziehen muss, und ich glaube, ich habe ihr weher getan als sie es verdient hat.«

»Oh Vater«, unterbrach ihn Rudolph, während ein bitteres Lächeln seine Lippen umzuckte. »Was sollen jetzt noch alle Worte, wo mein Glück unwiderruflich dahin ist! Du hast Hedwigs Brief gelesen. So spricht kein Mädchen, das nicht ganz und gar mit der Vergangenheit abgeschlossen hat.«

Andreas Wichern nickte gedankenvoll, dann in plötzlicher Aufwallung legte er beide Hände auf die Schultern seines Sohnes und zwang diesen förmlich, ihm lange und tief in die Augen zu schauen.

»Mag ich ihr Unrecht getan haben«, begann er endlich, »doch lasse dich überzeugen, dass ich auch ihr Bestes gewollt habe. ,– Hedwig Beck passt nicht mehr für dich. Lass dir das von einem alten, viel erfahrenen Mann sagen, der tiefe Einblicke getan hat in Menschenschicksal und Menschenleben. Glaube mir, Rudolph, die Stunde wird kommen, wo du das gestrige Auftreten deines Vaters segnen wirst, in welcher du einsiehst, dass es dein und deiner Braut Verhängnis geworden wäre, wenn ich angesichts der unerbittlich eure Trennung erzwingenden Umstände geschwiegen und euch mit sehenden Augen in ein unabsehbares Unglück hätte rennen lassen!«

Rudolph sah vor sich nieder. Er hatte den treuen, wohlmeinenden Blick seines Vaters nicht länger zu ertragen vermocht; er wusste es ja, dass es nur die selbstsüchtige Liebe des alten Mannes gewesen war, die diesen zum Handeln bewogen hatte, aber dennoch vermochte er der Erbitterung, die in seinem Herzen wogte, nicht Herr zu werden. Er seufzte tief und trat einen Schritt zurück.

»Du sprichst immer, als ob Karl Beck schon verurteilt wäre, Vater«, meinte er mit nervös zuckenden Lippen. »Du stellst dich auf den Standpunkt, als ob du es mit der Tochter eines gebrandmarkten Raubmörders zu tun hättest. Wie nun, wenn der arme Märtyrer nächste Woche schuldlos und makelrein aus der Schwurgerichtsverhandlung hervorgeht? Wird auch dann noch das Bewußtsein in dir mächtig bleiben, dass du nur deine Pflicht getan hast, indem du zwei sich treu liebende Herzen auseinander rissest?«

Die Falten um die Mundwinkel des alten Herrn verschärften sich; er richtete sich straffer empor. »Der Mann, den alle Welt verurteilt, weil die Beweise gegen ihn geradezu niederschmetternde sind, ist nicht unschuldig. An seinen Fingern klebt Blut, und die Tochter eines solchen Mannes nehme ich nicht auf in meinem Hause. Ich sage dir noch einmal, ich habe nicht das Werk meines ganzen Lebens aufgebaut, damit ein törichter Streich meines Sohnes das stolze Gebäude wieder leichtfertig zusammenreißt. Da gibt es keine andere Wahl: entweder für mich oder gegen mich! ,– Nun aber danke Gott, dass alles so gekommen ist, später wirst du vielleicht noch deinem alten Vater danken, dass er mit klarem Sinn und fester Hand ohne alle Sentimentalität die Sache in die Hand genommen und zu einem guten Ende geführt hat.«

»Nein, dieser Tag wird niemals kommen«, sagte Rudolph, den Blick seines Vaters fest erwidernd. »Wohl aber wird der Tag kommen, an welchem du reumütig vor mir stehen und es, freilich viel zu spät, beklagen wirst, selbst durch deine eigene Kurzsichtigkeit deinen eigenen Sohn und ein holdes Wesen für immer unglücklich gemacht zu haben!«

Zuerst schien es, als ob der alte Herr zornig aufflammen wollte, dann aber bezwang er sich und ein fast ironisches Lächeln erschien um seine Lippen. »Nun, so lass jenen Tag kommen, dann will ich mit eigener Hand deinen Brautwerber machen und nicht ruhen noch rasten, bis ich mein Unrecht gesühnt habe! Aber ich kann es abwarten, bis diese Stunde kommt, und ich glaube, der jüngste Tag kommt eher heran, bevor Karl Beck in den Augen der Welt wieder als Ehrenmann dasteht!«

Rudolph wollte eine heftige Antwort geben, aber ein Klopfen an der Türe unterbrach plötzlich die Unterredung. Die Haushälterin trat ein und meldete dem jungen Rechtsanwalt, dass ein Herr vorgefahren sei, der ihn in einer dringlichen Angelegenheit sofort zu sprechen wünsche. Zugleich überreichte sie eine Visitenkarte.

»Wilhelm Grösser, Polizeikommissär«, las Rudolph. Zugleich fiel sein Blick auf ein flüchtig mit Bleistift geschriebenes Wort. » Schimmel« las er und fühlte, wie es plötzlich heiß und kalt seinen Körper durchlief.

»Ich werde abgerufen, Vater«, begann er, sich gegen den alten Herrn wendend.

»Wir sind ohnehin fertig«, sagte dieser kühl und gelassen. »Ich bitte dich, diese unerquickliche Angelegenheit jetzt endgültig abgetan sein zu lassen.«

Rudolph verließ hastig das Zimmer. In seinem eigenen erwartete ihn schon der Polizeikommissär Grösser, der inzwischen unruhig in diesem auf und nieder geschritten war. »Ich komme nur auf einen Sprung zu Ihnen, Herr Doktor«, begrüßte dieser den Eintretenden, ihm herzlich die Hand schüttelnd. »Meine Droschke wartet vor der Tür, um mich sofort nach der Stadt zurückzuführen. Ich halte es aber für meine Pflicht, Ihnen eine wichtige Entdeckung, die mir zufällig soeben berichtet worden ist, kundzugeben, da es ohne Verletzung eines Dienstgeheimnisses geschehen kann, und ich auf der anderen Seite weiß, wie sehr Sie jede Einzelheit in Sachen Beck interessiert.«

»Wenn ich nicht irre, las ich aus Ihrer Karte den Namen Schimmel«, fragte Rudolph erwartungsvoll, nachdem er den Kommissär eingeladen hatte, Platz zu nehmen.

»Jawohl«, sagte dieser, sich in dem Lehnsessel behaglich zurücklehnend und aus der ihm dargebotenen Kiste eine Zigarre nehmend und dieselbe entzündend. »Gerade in Angelegenheiten dieses dunklen Ehrenmannes komme ich zu Ihnen. Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass dieser Bursche in geheimer Chiffrekorrespondenz mit einem Unbekannten steht.«

»Was Sie nicht sagen!« rief Rudolph wie elektrisiert. »Das ist doch jedenfalls ungewöhnlich. Schimmel ist kein Mann in jenen Jahren, in welchen man heimlich mit einer Geliebten korrespondiert.«

»Nun, durch die Zeitung pflegen auch in der Regel Verliebte nicht zu korrespondieren, denn die Sache wird auf die Dauer zu kostspielig«, brummte der Kommissär trocken, zugleich seiner Zigarre einige kräftige Züge entlockend.

»Durch die Zeitung?«

»Jawohl. Ich hatte den Kriminalschutzmann Pohl beauftragt, den Trödler zu beobachten. Derselbe tat dies auch in äußerst vorsichtiger Weise, ohne indes Wochen hindurch irgendwelches Resultat melden zu können. Schimmel ging nun heute Nachmittag nach der Kaiserstraße auf das Postamt 111 und fragte nach einem Chiffrebrief. Pohl war so vorsichtig, sofort nach Entfernung des Trödlers unter Vorzeigung seiner Marke unauffällig nach der Chiffre zu fragen. Sie lautet S. ,P. ,14. Es war kein derart lautender Brief vorhanden gewesen. Zum Glück gelang es dem rasch Schimmel nacheilenden Beamten, den Trödler einzuholen. Dieser stand gerade im Begriffe, sich in die Annoncenexpedition zu begeben. Sie kennen ja das mit eleganten Spiegelscheiben versehene Comptoir, dessen Innenraum von der Straße aus übersehen werden kann. Hier wiederholte sich das vorige Spiel, nur mit dem Unterschiede, dass der Trödler ein Inserat aufgab, welches von Pohl alsdann sofort in Augenschein genommen und notiert wurde. Hier ist es, es lautet unverfänglich genug: Liedervers entfallen. Bezwinge Sehnsucht nicht länger, ist in acht Tagen Entscheidung nicht gefallen, spreche mit St. ,Entweder ,– oder. P. ,A. ,3. ,S. ,P. ,14

Dabei hatte der Kommissär einen Zettel aus der Brieftasche entnommen und ihn Rudolph überreicht, der denselben mit steigendem Befremden genau las und ihn dann dem Beamten zurückgab.

»Um mich kurz zu fassen«, fuhr der Kommissär fort, »der Schutzmann verfolgte den Trödler noch weiter, Schimmel aber kehrte auf dem kürzesten Wege, ohne wahrgenommen zu haben, dass er beobachtet worden, nach seiner Behausung zurück.«

»Lassen Sie sehen«, unterbrach ihn Rudolph fragend, »wie lautete gleich die Überschrift? Liedervers entfallen, nicht wahr?«

»Ist Ihnen an der Überschrift etwas aufgefallen?«

»Natürlich, schon zu wiederholten Malen ist mir ein derartiges Inserat in den Zeitungsspalten begegnet.«

»Ganz recht, ich kann Ihnen sogar, wenn es Sie interessiert, Einsicht in sämtliche Inserate mit der gleichen Überschrift gewähren, denn ich habe die betreffenden Ausschnitte bei mir.« Damit zog der Kommissär auch schon einige Nummern des Tageblatts hervor und deutete auf einige mit Blaustift umrandete Stellen, welche ausnahmslos die Überschrift Liedervers entfallen trugen.

»Schauen Sie hierher, Herr Doktor«, fuhr der Kommissär fort, »die Dinger lesen sich wie ein Liebesroman. Hier ist eine Aufforderung zum Stelldichein enthalten. Das nächste Inserat, welches zwei Tage später erschienen ist, bedauert die Unmöglichkeit, kommen zu können, deutet aber an, dass ein Brief an der bewussten Stelle lagert. Sehen Sie hier die römische VI, dann S. ,P. ,14. Das bedeutet: Auf dem Postamt VI in der Langenstraße liegt ein Brief unter der Chiffre S. ,P. ,14. Der Empfänger muss aber, wie aus der nächsten Annonce, die wieder von ihm ausgeht, zu ersehen ist, nicht mit dem Inhalt des Briefes zufrieden gewesen sein, denn er dringt im Ton anscheinender Ungeduld auf baldige Entschließung. Die Gegenannonce, die anscheinend an einen feurigen Liebhaber gerichtet ist, in Wahrheit aber für unseren wackeren Freund Schimmel bestimmt war, sucht diesen zu vertrösten und meldet die Absendung eines neuen Briefes unter gleicher Chiffre, der diesmal aber auf dem Hauptpostamt abzuheben ist. Unser Schimmel wird in seinen Antworten immer ungeduldiger, seine Liebessehnsucht lässt ihm anscheinend keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht, dagegen steigert sich die Zurückhaltung des anscheinend weiblichen Wesens, das in Wahrheit niemand anderes als der Spießgeselle des Trödlers und der wirkliche Mörder des Barons Ludwig von Engler und seiner Nichte ist.«

Rudolph atmete beklommen auf. Was ihm der Kommissär da mitteilte, klang so einfach und überzeugungsvoll, dabei aber enthielt es für ihn eine so außerordentliche Botschaft, dass er fast seinen Ohren misstraute und glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Mein Gott, sollte es möglich sein, sollte wirklich noch in letzter Stunde uns die Hoffnung nahen, eine Spur auffinden zu können?« murmelte er ergriffen. »Dann ,– dann habe ich vielleicht auch einem anderen in Gedanken bitteres Unrecht zugefügt!«

Der Kommissär lachte ihn siegesgewiss an, während es in seinen Augen eigentümlich aufblitzte. »Ich habe nicht nur Hoffnung, sondern schon Gewissheit, dass wir den unbekannten Briefschreiber in Bälde ermittelt und alsdann auch als den wirklichen Mörder gefasst haben werden«, versetzte er mit eigener Betonung. »Es soll mich recht freuen, dem superklugen Herrn Untersuchungsrichter ein Näschen drehen zu können. Ich freue mich aber auch aufrichtig um Ihretwillen, lieber Herr Doktor!«

Rudolph teilte dem Polizeikommissär das ihn so sehr bekümmernde Verschwinden Hedwigs mit. Grösser verstand ihn sofort. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und werde es zu rechtfertigen suchen«, versetzte er in warmen Ton. »Wir von der Polizei haben ja Einblick in so manche dem Auge anderer verborgen bleibende Einzelheiten. Jedenfalls muss Ihr Fräulein Braut sich irgendwo aufhalten, und ich werde bald ihre Spur ausfindig zu machen wissen. Indessen werden Sie schon verzeihen müssen, wenn ich vorläufig meine Entdeckung für mich behalte, denn gegen den Willen der jungen Dame werden Sie selbst nicht handeln wollen. Überdies«, unterbrach er sich, »habe ich in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun, denn die Frist für unsere Tätigkeit in Sachen Schimmel ist uns nur karg bemessen. In der kommenden Woche ist schon die Schwurgerichtsverhandlung, und wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um den unbekannten Briefschreiber bis dahin ausfindig zu machen.«

»Wäre es nicht am einfachsten, einen unter der von Ihnen entdeckten Chiffre ankommenden Brief mit Beschlag zu belegen?« fragte Rudolph hastig.

Grösser nickte nachdenklich. »Daran habe ich auch schon gedacht«, brummte er, »aber das ist eine heikle Geschichte. Schließlich handle ich in dieser Angelegenheit doch nur als Privatperson, wenn ich auch selbstverständlich den mir zur Verfügung stehenden amtlichen Apparat dabei in Bewegung setze. Es ist ja allerdings kein Zweifel möglich, dass der Briefwechsel wirklich mit dem Verbrechen in Verbindung steht, denn wozu sollte sonst der Trödler eine so kostspielige Zeitungs-Chiffrekorrespondenz unterhalten? Schließlich würde ich wohl die Beschlagnahme des Briefes verantworten können, indessen fraglich ist es, ob nicht gerade durch eine solche Beschlagnahme die beiden Spitzbuben gewarnt und dann natürlich doppelt auf ihrer Hut sein würden. Nun, wir werden schon sehen, wie es am besten zu machen ist«, schloss er seine Einwendungen. Damit empfahl er sich. Der junge Rechtsanwalt gab ihm das Geleite bis an die Droschke, die vor dem Gartentore wartend stand.

Gedankenvoll kehrte er durch den Garten nach der Villa zurück. Er nahm in der Laube seine Schwester und deren Bräutigam wahr, da er aber immer noch eine unerklärliche Abneigung davor empfand, mit Hugo von Engler Rücksprache zu nehmen, wollte er hastig an der Laube vorübergehen. Da hörte er sich von seiner Schwester angerufen und musste nun notgedrungen näher treten.

»Höre, Rudolph, du bist zwar auch in der letzten Zeit ein Spielverderber geworden«, empfing ihn seine Schwester zwischen Lachen und Weinen kämpfend und dabei auf ihren Bräutigam zeigend, der im Hintergrunde der Laube saß und dem Eintretenden lässig zunickte. »Aber solch ein wüster Barbar, wie Hugo ist ,– ich kenne ihn gar nicht wieder. Er lacht nicht mehr, er scherzt nicht mehr, er spricht nicht mehr. Die wenigen Stunden über, die er da ist, ist er immer auf dem Sprunge, wieder zu gehen. Bald schaut er rechts, bald schaut er links. Gerade wie ein Mensch, der kein gutes Gewissen hat.«

»Aber ich bitte dich, liebste Hildegard«, unterbrach sie Hugo. »Man kann doch nicht immer heiter gestimmt sein. Ich habe schwere Sorgen, dieser ärgerliche Prozess ,–«

»So seid ihr Herren alle«, entgegnete Hildegard schmollend. ›Am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles‹, so heißt es auch bei euch. Ach, wir armen Mädchen, die wir uns den Brautstand so ideal und romantisch denken, und dann langweilen wir uns mit einem solchen Herrn der Schöpfung, weil er in einem Vermögensprozess mit einem Verwandten begriffen ist und weil er eine fette Erbschaft nicht sofort bar ausbezahlt erhalten hat. ,– Denke dir nur, Hugo macht sogar Auswanderungspläne.«

»Wirklich?« fragte Rudolph, einen forschenden Blick auf das bleiche Angesicht seines zukünftigen Schwagers werfend, das ihm seltsam unstet und sehr zu seinen Ungunsten verändert vorkam.

Hugo von Engler paffte den Rauch seiner Zigarette lässig vor sich hin. »Offen gestanden, das Leben hier ist mir verleidet«, meinte er gedehnt. »Eure Gerichte vollends können mir gestohlen werden. Da liegt mein gutes Recht sonnenklar zu Tage, und dennoch werden Termine über Termine abgehalten. Der Himmel allein weiß, wann ich mein Vermögen ausgezahlt erhalte. Da werden tausend nichtige Einwände gemacht, da werde ich einem Verhör um das andere unterzogen, da soll ich jetzt mein Gutachten abgeben über den vermeintlichen Inhalt des verschwundenen Testamentes ,– ich, der ich über ein halbes Jahr nicht mehr im Hause meines Onkels und obendrein nie sein Vertrauter gewesen bin!«

Hildegard deutete mit dem Finger auf ihn. »Siehst du«, wandte sie sich an ihren Bruder, »so ist er jetzt immer; ganz unausstehlich, und einen solchen Menschen soll man auch noch lieb haben!« Dabei setzte sie sich auf die Bank zu ihrem Verlobten und umschlang diesen mit einem Arme.

»Liebster, ich bitte dich, sei wieder heiter und froh«, meinte sie mit der ihr eigenen innigen Herzlichkeit, »schau, das Leben lacht uns ja viel schöner als vielen anderen Menschen! Was wollen wir uns da durch nichtige Kleinigkeiten erzürnen lassen! Komm, sei wieder heiter und gut!«

Rudolph wandte sich ab und ging. »Arme Schwester; arme Schwester!« murmelte er vor sich hin, während er hastig den kiesbestreuten Weg nach der Villa zurückschritt.


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