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XI
Hedwig erhält ein Paket

Die wackere Frau, bei der sich Hedwig eingemietet hatte, meinte es herzlich gut mit dem jungen Mädchen. Aus den Zeitungen hatte sie bereits die furchtbare Anklage, welche gegen ihren Vater erhoben war, vernommen. Wenn sie auch selbstverständlich gleich den meisten anderen Lesern keinen Zweifel an der Schuld Karl Becks hegte, war sie doch weit davon entfernt, dies ihre neue Mieterin entgelten zu lassen. Am dritten Tage nach ihrem Umzuge saß Hedwig eifrig arbeitend in ihrem kleinen Stübchen, als es draußen schellte, und gleich darauf Frau Köchlin, die Wirtin, von einem Briefträger begleitet in das Zimmer eintrat.

»Hier ist Fräulein Beck«, sagte sie, auf Hedwig weisend.

Der Beamte, welcher in der Hand ein kleines, unscheinbares Päckchen hielt, näherte sich dem jungen Mädchen und schaute es prüfend an. »Sie sind Fräulein Hedwig Beck?« fragte er.

Die Angeredete hatte sich unwillkürlich von ihrem Sitze erhoben und ihre Handarbeit bei Seite gelegt. »Die bin ich«, versetzte sie verwundert. »Was führt Sie zu mir?«

»Sie wohnten bis vor kurzem Linkstraße ,–«

»Ganz recht, in dem Hause des Trödlers Schimmel.«

»Ich habe hier ein Wertpaket für Sie; die Bestellung hat Mühe und Not genug verursacht, denn die Sendung ist an Ihre alte Adresse gerichtet und Ihre Wirtin hat noch keine Anzeige von Ihrer Wohnungsveränderung gemacht.«

»Ein Wertpaket?« fragte Hedwig in gedehntem Ton, verwundert den Briefträger anschauend. »Das ist kaum möglich!« »Ist Ihnen der Absender nicht bekannt? Auf der Begleitadresse ist nichts vermerkt«, brummte der Beamte. »Das Paket kommt aus Kreuzlingen.«

Hedwig schaute noch verwunderter drein, ihr war kaum ein Ort dieses Namens, geschweige eine in diesem wohnende Persönlichkeit bekannt. Sie nahm aus den Händen des Briefträgers das Paket und schaute unschlüssig darauf nieder.

»Es ist frankiert, kostet zehn Pfennig Bestellgeld«, versetzte der Beamte ungeduldig. »Entscheiden Sie sich, Fräulein. Wollen Sie annehmen oder nicht?«

»Selbstredend«, entschied jetzt Hedwig rasch; hastig unterschrieb sie die Quittung und bezahlte den Briefträger, der darauf das Zimmer verließ.

Das Päckchen war sorgsam verschnürt, die Handschrift auf der Adresse war ihr vollständig unbekannt, es waren steil anstrebende, ungefüge, offenbar von einer des Schreibens ungeübten Hand herrührende Schriftzüge. Ihr eigener Name war nicht einmal fehlerfrei geschrieben, ebenso enthielt auch die Ortsangabe orthographische Fehler. Jetzt erst nahm sie auch wahr, dass das Päckchen mit tausend Mark versichert war. Es dauerte, eine Weile, bis sie sich entschloss, den Umschlag zu lösen. Ihr Erstaunen wuchs, als sie wahrnahm, dass der Inhalt aus zwei in Zeitungspapier gewickelten Päckchen und einem kurzen, beschmutzten Begleitzettel bestand. Unwillkürlich ergriff sie letzteren und faltete ihn auseinander, ihr Befremden wuchs noch mehr während des Lesens.

 

Ihr Vater is unschuldich er kan Nichts vor die Mortdaht, den das Jeschäft habe ich janz alleene jemacht. Der Statsahnwald ist ein jroßer dusselkopp jeben Sie dem esel mann die fünf scheine und auch das Schmuckdings er soll sich nur an die Nase kriegen, denn ehe der stiesel mir erwischen duht binn ich schonst über alle Berge. Die andern Scheine und die Halskette habe ich ihm durch das fenster mitten in seine Sachen eingeschoben. Der hat aberst geschnargt und jar nichts jemerkt. Gude Verichtung ich lasse den Schdadsanwald scheen jrießen der Knopp soll mir jewogen bleiwen.

Der ware Mörter

 

Als Hedwig mit der Durchsicht dieses Zettels zu Ende gekommen war, fühlte sie sich derart ergriffen und verwirrt, dass sie eine Weile mit in dem Schoße gefalteten Händen untätig dasaß. Eine Art erschlaffender Willenslähmung schien sie überkommen zu haben. Dann aber öffnete sie hastig beide Papierpäckchen.

Ein beklemmender Schauer überkam sie, als sie wirklich fünf bunte Banknoten vor sich liegen sah; nicht um alles hätte sie diese Scheine, an denen das Blut zweier Menschen klebte, berühren mögen. Als sie dann aber auch das andere Päckchen auswickelte, stieß sie einen unwillkürlichen Schrei der Überraschung aus. Die freundlich in das Zimmer scheinende Vormittagssonne funkelte gerade auf einen kleinen, länglichen Gegenstand, den sie in ihrer Hand hielt. Es war der abgerissene Bruchteil eines Halsbandes, und zwar das mit einem reichen Kranz von glitzernden Brillanten umgebene Schloss desselben.

Ein unvergleichliches Feuer sprühte und funkelte aus den kostbaren Steinen, aber ihr Anblick hatte für Hedwig etwas Schauerliches. Sie musste unwillkürlich an die dunkle, trostlose Kerkernacht denken, in welcher ihr geliebter unglücklicher Vater schmachtete; zu diesem drang weder Sonnenschein noch Hoffnung.

Ihr Angesicht drückte immer steigenderen Abscheu und Entsetzen aus, je länger sie auf die ihr übersandten Wertgegenstände niederschaute. Sie wurde sich erst jetzt darüber klar, dass aus keiner anderen Hand als aus derjenigen des wirklichen Mörders ihr die Sendung zugekommen sein konnte. Ein Gefühl der tiefsten Empörung überkam sie, wie sie daran dachte, dass diese blutbefleckte fürchterliche Hand noch immer unentdeckt sei und der Träger derselben in Sicherheit weilte, während ihr armer edler Vater unschuldig im Gefängnisse leiden und das Schwerste erdulden musste.

Minutenlang saß Hedwig unschlüssig da, nicht wissend, was sie nun zunächst tun solle. Zuerst dachte sie einen Augenblick daran, die Gegenstände zusammenzuraffen und selbst nach dem Justizgebäude zu bringen, dann aber verwarf sie diesen Gedanken wieder. Rudolph hatte ihr schon mitgeteilt, dass der Untersuchungsrichter vorurteilsvoll ihrem Vater gegenüberstand, und sie entschloss sich daher nach kurzem Besinnen, durch einige Zeilen Rudolph selbst zu sich zu bitten.

Schon am Nachmittag sprach der junge Rechtsanwalt vor und drückte Hedwig seine aufrichtige Freude darüber aus, von ihr gerufen worden zu sein. »Aber ich sehe es dir an, dass etwas Besonderes sich ereignet haben muss, liebe Hedwig«, meinte Rudolph schließlich, erwartungsvoll seine Braut anschauend.

Das junge Mädchen nickte und lud durch eine freundliche Handbewegung Rudolph zum Sitzen ein. Dann holte Hedwig das Päckchen nebst Inhalt aus der Kommode hervor, in welcher sie es bis dahin verwahrt hatte, und legte vor dem Überraschten die Gegenstände auf den Tisch nieder.

Die Wirkung, welche dieselben und das Begleitschreiben auf Rudolph ausübten, war womöglich eine noch größere als am Vormittag bei Hedwig. »Diese Sendung kann in der Tat nur von dem wirklichen Mörder herrühren! Das nenne ich in Wahrheit ein großes Glück, welches heute Morgen bei dir, liebe Hedwig, eingekehrt ist.« Immer von neuem durchlas er den Begleitbrief. »Der Mörder ist ein ganz ungebildeter Mensch, oder will sich wenigstens den Anschein eines solchen geben. Es müssen sofort Erhebungen angestellt werden, wer das Paket zur Post gegeben hat.« Er sann eine kurze Weile nach. »Zum Glück ist Kreuzlingen keine große Stadt, es hat eigentlich nur durch seinen Bahnhof eine Bedeutung«, fuhr er dann wieder fort. »Dort kreuzen die Züge der beiden Hauptlinien. Ich will dir einen Vorschlag machen, Hedwig. Wir wollen auf wenige Stunden noch die an dich gelangte Sendung als unser Geheimnis betrachten, selbst auf die Gefahr hin, dass dein teurer Vater eine Nacht länger in Untersuchung schmachten muss. Es ist von der größten Wichtigkeit, den Absender des Paketes möglichst sofort ausfindig zu machen.«

Rudolph sah nach der Uhr. Ein kurzes Nachsinnen brachte ihm die Gewissheit, dass er, wenn er sich unten auf der Straße in die nächste Droschke warf, gerade noch Zeit genug hatte, nach dem Hauptbahnhofe zu gelangen, um den nach Kreuzlingen fälligen Schnellzug, der die Strecke in einer Stunde zurücklegte, zu erreichen. Er nahm hastig von Hedwig Abschied und gab ihr noch das Versprechen, ihr, wenn irgend möglich, noch an demselben Abend Bericht über den Erfolg seiner Reise zu erstatten.

Er kam schneller, als er selbst gedacht hatte, zurück. Seine Ermittlungen waren indessen wenig tröstlicher Natur. Das Paket war auf der Bahnpost aufgegeben worden und zwar am Abend kurz vor Schalterschluss. Da zu dieser Zeit am Schalter eine große Anzahl von Personen der Abfertigung harrte, war die Eile groß gewesen. Der Beamte hatte aus diesem Grunde kaum einen flüchtigen Blick auf den Absender des Wertstückes geworfen; soviel er sich aber erinnerte, war es ein schlanker, noch junger Mann mit dunklem Schnurrbart gewesen.

Einigermaßen aufgefallen war es dem Beamten noch, dass der Absender trotz des heißen Juliabends einen grauen Radmantel übergeworfen und mit dem einen Flügel desselben zum Überfluss noch das Gesicht zum Teil bedeckt hatte. Die letzte Bemerkung hatte Rudolph zu denken gegeben, weil sie ihn an ein seltsames, ihm selbst noch rätselhaftes Vorkommnis erinnert hatte, das ihm kaum eine Stunde nach seines Schwagers Abreise nach E. zugestoßen war. Die vielen Eindrücke des Augenblickes hatten indessen diese flüchtige Erinnerung bei Rudolph sofort wieder erstickt, der sich keine Mühe hatte verdrießen lassen, sondern überall auf dem weiten Bahnhofsgebäude sich nach der Person des unbekannten Absenders des Wertpaketes zu erkundigen fortgefahren hatte. Aber alle weiteren Nachfragen waren erfolglos geblieben. Niemand wusste etwas von dem in Kreuzlingen offenbar völlig unbekannten Aufgeber des Wertpakets.

Während der Fahrt hatte der junge Rechtsanwalt reiflich über den Zwischenfall nachgedacht. Die rosigen, hoffnungsvollen Erwartungen, die er zuerst an denselben geknüpft hatte, und welche er Hedwig gegenüber ungezwungen ausgesprochen, waren vor seinem wägenden Verstande zusammengeschrumpft. Er konnte es sich nicht verhehlen, dass durch den Zwischenfall das Los des unglücklichen Gefangenen sich nur wenig verbessert hatte. Freilich ließ sich auf alle Fälle darauf plädieren, dass Beck nicht der Hauptschuldige sein könnte, aber er musste sich schließlich selbst gestehen, dass der sicher erfolgende Einwand seitens des Untersuchungsrichters sein werde: die ganze Angelegenheit sei offenbar eine abgekartete Sache zwischen einem Mitschuldigen Becks, der, um den Verdacht von dem Verhafteten abzuwälzen, das Paket abgeschickt habe.

Aber beängstigender als all diese Einflüsterungen kaltwägenden Verstandes wirkte im Innern des jungen Rechtsanwaltes der Schrecken nach, welchen er bei der anscheinend nebensächlichen Bemerkung des Postbeamten empfand, dass der Absender des Paketes ein hochgewachsener, schlanker junger Mann mit schwarzem Bart, bekleidet mit einem grauen Radmantel, gewesen sei. Er kannte einen solchen eleganten, mit einem verführerischen Äußern begabten jungen Kavalier, er wusste nur zu gut, dass dieser mit seinem stolzen, siegesgewissen Lächeln das Herz seiner geliebten Schwester bezwungen hatte.

Immer von neuem tauchte vor Rudolphs geistigem Blicke das Bild seines zukünftigen Schwagers auf. Er hatte denselben vor wenigen Tagen, seinem Versprechen getreu, zum Bahnhof begleitet. Beide hatten sie, während Hugo schon in dem nach E. abgehenden Zuge Platz genommen, freundschaftlich miteinander geplaudert und sich herzlich die Hände geschüttelt, als der Zug sich schon langsam in Bewegung gesetzt hatte. Dann hatte Rudolph, von seinen Bekannten aufgehalten, noch etwa eine Stunde auf dem Bahnhof verweilen und eine Flasche Wein mittrinken müssen. Als er dann den Heimweg hatte antreten und denselben der Abkürzung halber über den Bahnsteig nehmen wollen, war er in ein dichtes Menschengewoge geraten.

Soeben war der Schnellzug aus E. eingelaufen. Derselbe brachte die auf einer etwa eine Viertelbahnstunde entfernten Station aufgenommenen Reisenden der dort einmündenden Zweigbahnen, welche zum großen Teile nach dem Auslande reisen wollten und zu diesem Zwecke den eben nach Kreuzlingen fälligen Schnellzug zu benutzen gedachten. Da war es ihm auf einmal gewesen, als ob er mitten in dem Gewoge das bleiche Gesicht seines zukünftigen Schwagers habe auftauchen sehen. Völlig überrascht war er schon im Begriffe gewesen, den doch erst vor einer Stunde nach E. Abgereisten anzurufen, obwohl ihn der Umstand, dass die wahrgenommene Persönlichkeit einen grauen Radmantel um die Schultern geschlungen trug, einigermaßen unsicher gemacht hatte. Aber die wenigen Sekunden Zögern hatten den mit Hugo zum Verwechseln ähnlichen Herrn schon weit abgeführt, nur noch im Fluge hatte Rudolph ihn in einem Wagen des Kreuzlinger Schnellzuges verschwinden sehen. Gleich darauf, noch ehe er selbst die wenigen Schritte bis eben dahin hatte zurücklegen können, war das Abfahrtssignal gegeben worden und der Zug zur Bahnhofshalle hinausgedampft.

Ein junger, schlanker Mann mit schwarzem Bart, in einem grauen Radmantel, hatte aber das Wertpaket auf der Kreuzlinger Bahn aufgegeben! Kein Zweifel war möglich, Rudolph hatte mit eigenen Augen den unbekannten Absender und damit wohl gar den wirklichen Mörder gesehen, dieser war ihm für einen Augenblick so nahe gewesen, dass er ihn hätte greifen können. Warum erfüllte ihn dieser Gedanke mit immer steigendem Missbehagen? Es gab doch dutzende von Männern derselben Figur in der Stadt, welche seinem zukünftigen Schwager leidlich ähnlich sahen. Rudolph wollte ärgerlich über sich selbst werden, dass immer wieder in sein Nachdenken sich die Gestalt Hugos stahl. Er konnte sich nicht helfen, ein fröstelndes Gefühl beschlich ihn immer sieghafter, er fühlte, wie ein unbezwingliches Misstrauen sich in seinem Herzen einnistete. Gewaltsam unterdrückte er endlich die unheimliche Kombination, die immer wieder von neuem sich in seinem Gehirn bildete.

Es tat Rudolph weh, die hoffnungsvolle Freudigkeit Hedwigs herabstimmen zu müssen. Sie hatte nicht anders geglaubt, als nun sei alles gut und ihr Vater müsse schon am nächsten Tage frei und aller Schuld ledig aus dem Gefängnisse zurückkehren; indessen wollte der junge Rechtsanwalt seiner Verlobten nicht alle Hoffnung rauben, bevor er nicht die entscheidende Rücksprache mit dem Untersuchungsrichter genommen hatte.

Schon am nächsten Morgen ließ er sich bei diesem melden und händigte dem Erstaunten das Wertpaket ein, ihm zugleich den Erfolg seines Abstechers nach Kreuzlingen berichtend. Seine Erwartungen sollten Rudolph nicht getäuscht haben. Zwar war auch Alberti äußerst überrascht, als er Einsicht von dem Wertpaket nahm. Kopfschüttelnd betrachtete er die fünf Tausendmarkscheine und ließ verwunderte Blicke über das funkelnde und sprühend-blitzende Brillantschloss gleiten. Dann stand er auf und entnahm einem Schranke die übrigen Bruchstücke des Amethysthalsbandes; dasselbe war nun bis auf geringe Abschürfungen, welche es durch das jähe Zerreißen erlitten haben mochte, vollständig. Es war kein Zweifel möglich, dass das ihm von dem Rechtsanwalt soeben überbrachte Brillantschloss das Verbindungsglied zwischen den Bruchstücken der Kette darstellte. Ein Blick auf die Nummern der Kassenscheine belehrte den Untersuchungsrichter, dass er es wirklich mit den bisher fehlenden fünf Tausendmarkscheinen zu tun hatte.

Eine lange Weile durchlas er alsdann mit undurchdringlichem, unbewegtem Mienenausdrucke das Begleitschreiben. Das wunderliche Deutsch in demselben schien sein Misstrauen hervorzurufen, denn allmählich wurde der Ausdruck um seine Mundwinkel ein immer ungläubigerer und skeptischerer.

Schließlich ließ er den Zettel sinken, nickte einige Male mit dem Kopf und wandte sich dann an den Rechtsanwalt. »Für was halten Sie den Schreiber dieses Wisches?«, fragte er.

»Er scheint ein Mann aus den niederen Volksklassen zu sein, wenigstens ist das Schreiben unorthographisch genug abgefasst«, antwortete Rudolph.

Alberti nickte. »Ja, es verblüfft bei der ersten Durchsicht«, meinte er sarkastisch, »aber die darin gebrauchten Ausdrücke entsprechen mehr dem Jargon unserer Witzblätter als dem wirklichen Volksdialekt. Manche Wörter sind geradezu raffiniert unorthographisch geschrieben, wie zum Beispiel ›Staatsanwalt‹; ein wirklich ungebildeter Mann würde kaum das ›s‹ in diesem Worte angewendet haben. Ebenso ist merkwürdigerweise die Stilführung eine bei weitem bessere als die Rechtschreibung. Ich vermisse das erste Erfordernis eines wirklich ungebildeten Schreibers: kurze, abgebrochene, abgehackte und nicht vollendete Sätze.«

»Ich muss offen gestehen, es sind mir auch schon Zweifel dieser Art gekommen!« warf der Rechtsanwalt ein. »Schließlich passt auch das Signalement, welches mir gestern in Kreuzungen auf der Bahnpost gegeben wurde, durchaus nicht auf einen Menschen aus den niederen Klassen.«

Alberti nickte stumm, dann schaute er den jungen Rechtsanwalt erwartungsvoll an. »Vielleicht darf ich im Namen der Tochter des Verhafteten nunmehr die Hoffnung aussprechen«, begann dieser mit etwas unsicher klingender Stimme, »dass die Leidenszeit des Letzteren ein baldiges Ende nehmen wird.«

Alberti sah den Rechtsanwalt groß an. »Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Herr Wichern«, versetzte er alsdann gemessen, »aber von einer Haftentlassung ,–«

»Die ich als Verteidiger des Herrn Beck hiermit in aller Form beantragen will«, unterbrach ihn Rudolph, von seinem Sitze auffahrend.

»Kann keine Rede sein«, vollendete Alberti, und erhob sich ebenfalls. »Die Sache ist klar, wie der Tag; dass Beck Komplizen gehabt hat, habe ich von Anfang an geglaubt, daraufhin deutet schon die räthselhafte Blutspur mit aller Entschiedenheit. Außer allem Zweifel ist es aber, dass er an dem Verbrechen beteiligt gewesen ist.«

»Nun, vielleicht ist der vorgesetzte Gerichtshof wegen der Haftentlassung Becks anderer Meinung«, versetzte Rudolph aufgebracht, nicht bedenkend, dass es gewiss nicht in seinem Interesse liegen konnte, den mit der Untersuchung beauftragten Beamten gegen sich einzunehmen. »Ich werde noch heute meinen Antrag schriftlich einbringen und im ablehnenden Falle sofort Beschwerde beim Landgericht erheben!«

Alberti lächelte. »Es ist natürlich Ihre Pflicht, die Interessen Ihres Klienten nach Möglichkeit wahrzunehmen. Sonst haben Sie mir nichts mitzuteilen?«

»Ich kann Ihnen nur mein Bedauern aussprechen, dass ich bis heute trotz meines wiederholten Ersuchens keinen Zutritt zu dem Verhafteten erhalten habe«, antwortete Rudolph.

»Ich bin zu meinem Bedauern auch jetzt noch nicht in der Lage, Ihnen denselben zu gewähren«, entgegnete Alberti mit kühler Höflichkeit. »Nicht, dass ich irgend welches Misstrauen in Sie setzte, aber ich erachte es für den verstockten Sinn des Untersuchungsgefangenen als heilsam, wenn er während der Voruntersuchung durch Einsamkeit und Abgeschlossenheit zu reiflichem Nachdenken gezwungen wird.«

Verstimmt und niedergedrückt kam Rudolph nach Hause, wo er im Garten seine Schwester antraf. Diese befand sich mit einer Handarbeit in der Laube und nickte dem herankommenden Bruder freundlich zu. Rudolph glaubte zu bemerken, dass auch ihre Gesichtszüge einen ernsteren Ausdruck zeigten. Er setzte sich neben ihr nieder und strich sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirne.

»Nun, Rudolph, du siehst recht abgespannt aus«, meinte seine Schwester. »Hast du Ärger in der Stadt gehabt? Ich kann mir schon denken, der Prozess geht dir nicht aus dem Kopf.«

Rudolph berichtete ihr in Kürze die neuesten Vorkommnisse. Dann meinte er, sie aufmerksam anschauend: »Auch dich, die sonst so Heitere, scheint eine Sorge zu bedrücken?«

Hildegard rückte näher an ihn heran. »Ich habe vorhin eine Unterredung mit dem Vater gehabt; er ist furchtbar ungehalten über dich, und als ich ihm sagte, dass ich dir nicht Unrecht geben könnte, sondern meinte, ein jeder rechtlich denkende Mensch müsse bei seinem Glauben beharren und dürfe seine Liebe nicht aufgeben und verraten, da wandte er mir den Rücken.«

»Du bist meine gute, treue Schwester«, rief Rudolph. »Leid tut mir nur, dass der Vater meinetwegen harte Worte für dich hatte.«

»Weißt du, der Vater ist ein alter Mann und hat seine Eigenheiten. Er hängt nun einmal so sehr an seinem wohlverdienten guten Ruf, dessen er sich in Stadt und Land erfreut, dass ihn schon der Gedanke, ihm könne nur ein kleines Teilchen dieses Ansehens geraubt werden, mehr als peinlich ist.«

»Aber du hättest dich nicht verstimmen lassen sollen, liebe Hildegard«, entgegnete Rudolph mit sanftem Vorwurf. »Indes ich begreife«, unterbrach er sich, »deine Sonne weilt ja heute fern, dein Bräutigam.«

»Ach geh«, lachte Hildegard, dann aber gleich darauf ernst werdend, setzte sie hinzu: »Du magst Recht haben mit deinem Vergleich. Ich habe Hugo mehr lieb als mein Leben. Als ich ihn kennenlernte, hielt ich ihn fast für einen oberflächlichen Charakter, je näher wir uns aber traten, um so mehr erkannte ich, dass er wirklich ein guter und edler Mensch ist. Er ist in Wahrheit der Sonnenschein meines Lebens geworden, wenn er mich nicht mehr liebte, dann möchte ich auch nicht mehr leben.«

Das Gesicht des jungen Rechtsanwaltes war ernst geworden. Er musste unwillkürlich, nachdem sich das Gespräch auf Hugo gelenkt hatte, des immer noch nicht aufgeklärten Vorfalls, der sich eine Stunde nach der Abreise des jungen Barons auf dem Bahnhof abgespielt, gedenken, und eine plötzliche Eingebung legte ihm den Entschluss nahe, seiner Schwester die Angelegenheit mitzuteilen.

»Da fällt mir übrigens ein seltsames Zusammentreffen ein, das mir vorgestern passiert ist«, begann er. »Ich wollte es dir gestern schon mitteilen, kam aber durch die Kreuzlinger Reise erst spät abends hier an, und du hattest dich bereits zur Ruhe begeben.«

»Betrifft es Hugo?«

»Wie man es nehmen will«, meinte der Rechtsanwalt, und berichtete dann sein auf dem Bahnhof erlebtes Abenteuer. Hildegard schüttelte den Kopf, als ihr Bruder zu Ende gekommen war. »Das ist sonderbar«, meinte sie, »schade, dass Hugo nicht hier ist, er würde dir Antwort haben geben können. Jedenfalls ist es ein komisches Zusammentreffen, ich habe gestern Morgen eine Karte von ihm aus E. bekommen, in welcher er mir seine glückliche Ankunft daselbst gemeldet hat.«

»Das ist in der Tat seltsam«, lachte Rudolph leicht auf. »Ich täusche mich sonst selten, ich habe gute Augen und glaubte Hugo erkannt zu haben.«

In demselben Augenblick knirschte der Kiessand des Gartenweges unter schnell herannahenden Schritten. Die Geschwister wandten sich um, und Hildegard ließ im nächsten Augenblick einen freudigen Ausruf hören. »Ach, das ist herrlich, das ist prächtig«, rief sie und eilte hastig dem lustig den Hut zum Gruße schwingenden Baron Hugo von Engler entgegen.

»Wenn man vom Wolf spricht, dann ist er nicht weit«, nahm nun auch Rudolph das Wort, nur zögernd seine Hand in die dargebotene Rechte des Angekommenen legend und diesen dabei unwillkürlich scharf beobachtend. »Wir sprachen gerade soeben von Ihnen.«

»Hoffentlich in gutem Sinne«, meinte Hugo, nachdem er einen Kuss mit seiner Braut ausgetauscht hatte.

»Denke dir nur«, rief Hedwig, »Rudolph will dich vorgestern abend hier auf dem Bahnhof gesehen haben.«

Mit solch unverkennbarem Erstaunen ruhte der Blick Hugos auf dem jungen Rechtsanwalt, dass dieser unwillkürlich für den Moment seinen Verdacht schwinden fühlte, und schon bei sich zugeben wollte, sich am Ende doch getäuscht zu haben.

»Das muss ein Irrtum sein«, meinte Hugo dann, »Sie begleiteten mich ja selbst bis an den Zug.«

Notgedrungen musste Rudolph nochmals seine Wahrnehmung berichten, und als er zu Ende gekommen war, lachte Hugo laut auf. »Das ist allerliebst«, meinte er, »da muss ich entschieden einen Doppelgänger haben. Nun, glücklicherweise bin ich in der Lage, meiner schönen Braut gegenüber mein Alibi voll und ganz nachweisen zu können. Hier«, setzte er mit komischer Wichtigkeit hinzu, seiner Brusttasche ein längliches beschriebenes Blatt Papier entnehmend, »ist die Rechnung des Hotels Zum Schwarzen Adler in E. Zwei Nächte, zwei Kaffee, das Übrige habe ich sofort bar bezahlt.«

Die Geschwister lachten über die drollige Wichtigkeit, mit welcher Hugo ihnen dies vortrug. Bei Rudolph wollte die Fröhlichkeit freilich nicht recht von Herzen kommen. Als sich die Heiterkeit gelegt hatte, wandte sich Rudolph an seinen zukünftigen Schwager. »Ich habe Ihnen übrigens eine Neuigkeit mitzuteilen, die Ihnen nicht besonders angenehm zu hören sein wird.«

Hugos eben noch lächelndes Gesicht verfinsterte sich zusehends. »Ah, Sie meinen wohl meine Erbschaftsangelegenheit! Hat dieser Herr von Gerstenberg wirklich den Mut gehabt ,–«

»Ja«, fiel Rudolph ein, »er hat in aller Form die Erbschaft für sich in Anspruch genommen; dieselbe bleibt nun bis zum Austrag des Prozesses unter Gerichtsverwaltung.«

»Das ist ärgerlich!« stieß Hugo in sichtlich großem Unmut hervor. »Ich rechnete so sicher auf Geld, und nun ,–«

Rudolph sah ihn unwillkürlich an. »Aber diese Ihre Berechnung kann doch erst ganz neueren Datums sein«, entgegnete er schärfer, als er selbst beabsichtigte. »Vor einer Woche wussten Sie ja noch gar nichts von den beklagenswerten Ereignissen.«

»Ganz recht«, bestätigte Hugo eifrig. »Aber Sie werden mir zugeben müssen, lieber Freund, dass diese völlig aussichtslose Spiegelfechterei des Herrn von Gerstenberg mich im höchsten Grade empören muss. Wissen Sie wirklich keinen schnell zum Ziele führenden Weg?«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, entgegnete der junge Rechtsanwalt in zerstreutem Ton. »Aber da wir uns unglücklicherweise mitten in den Gerichtsferien befinden, so lässt sich schwerlich vor September ein Termin anberaumen.«

Die Stirn Hugos verfinsterte sich immer mehr, in seinen Augen blitzte es jäh auf. Es schien, als ob ihm einige Worte herber Entgegnung auf den Lippen schwebten. Aber er beherrschte sich.


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