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XII
Der Gefangene

Mehrere Wochen waren vergangen.

Es war Rudolph noch immer nicht gestattet worden, den Verhafteten zu besuchen und persönliche Rücksprache mit ihm zu nehmen. Wohl aber hatte er einen Brief von Beck bekommen, in welchem dieser ihn kurz gebeten hatte, seine Verteidigung zu übernehmen und vorläufige Ermittlungen anstellen zu lassen. Das war auch geschehen. Rudolph, von instinktivem Misstrauen gegen den Trödler erfasst, hatte einen Kriminalbeamten ersucht, diesen heimlich zu überwachen.

Das Verhältnis Rudolphs zu seinem Vater war inzwischen ein immer gespannteres geworden. Zwar hatte der junge Rechtsanwalt vermieden, eine neuerliche Erörterung mit dem gereizten und starrsinnigen alten Mann zu provozieren, aber er sah mit offenen Augen die Katastrophe unabwendbar kommen. Andreas Wichern war nicht der Mann, schweigsam zu dulden und zu gestatten, was er selbst verurteilte.

Auch mit Hedwig war Rudolph seit jener geheimnisvollen Paketgeschichte nur ein einziges Mal wieder zusammengetroffen. Das junge Mädchen hatte ihn in Gesellschaft ihrer freundlichen, dem jungen Rechtsanwalt aber herzlich unbequemen Wirtin empfangen. Hedwig hatte sehr viel zu tun gehabt, und Rudolph voll staunender Bewunderung der Arbeit ihrer fleißigen Hände zugeschaut. Dann hatte er sich wieder empfohlen, von Hedwig mit jener ruhigen, stillen Freundlichkeit verabschiedet, die ihm schon früher so empfindlich nahe gegangen war.

Endlich erhielt er eines Morgens, als er eben im Begriffe war, sich nach dem Gerichtsgebäude zu begeben, von dem Untersuchungsrichter die amtliche Meldung, dass die Voruntersuchung gegen den des Doppelraubmordes verdächtigen Karl Beck nunmehr abgeschlossen sei und den Besuchen desselben seitens seines Verteidigers nichts mehr im Wege stände. Ohne Säumen begab sich Rudolph nach dem Dienstzimmer Albertis. Er traf denselben dort und erhielt ohne Schwierigkeit eine Passierkarte ausgestellt, welche ihn zum Betreten der Gefängniszelle, in welcher Beck untergebracht war, ermächtigte. Dann begab sich der junge Rechtsanwalt nach dem im rückwärtigen Trakte des weitläufigen Gebäudes liegenden Untersuchungsgefängnisse.

Eine eigentümlich düstere Stimmung überkam ihn, als er vor dem eisernen Tore stand, welches das Gefängnis von den übrigen Räumen des Justizgebäudes schied. Der schrille Ton der von ihm in Bewegung gesetzten weithin hallenden Glocke erschreckte ihn förmlich. Es war ihm, als ob er ihm zurufen wolle, dass es vergeblich sei, Hoffnungen auf diese Stätte des Unglücks und des Elends zu übertragen, Hoffnungen, an die sein eigenes Herz kaum zu glauben wagte.

Rasselnd und klirrend wurde das Tor geöffnet. Ein uniformierter Aufseher nahm den Rechtsanwalt in Empfang und geleitete ihn durch mehrere düstere Gänge zur Zelle einunddreißig, die er aufschloss. Im Inneren war es so dunkel, dass der junge Rechtsanwalt erst eine Weile stehen bleiben musste, bis er die Gegenstände in dem Raum wahrzunehmen vermochte. Jetzt gewahrte er die hagere, eingefallene Gestalt, die bis dahin apathisch auf dem Strohsacke gekauert hatte und nun mühsam sich erhob.

Der Gefangene hatte jetzt auch seinen Besucher erkannt. Ein freudiger Schimmer glitt über sein welkes, abgezehrtes Gesicht, auf dem eine ganze Gefühlsskala bittersten Leids und nagenden Grams ausgeprägt zu sein schien. Das Wiedersehen zwischen beiden Männern war ein schmerzlich bewegtes. Rudolph eilte auf den Verhafteten zu und schüttelte ihm tief bewegt beide Hände. »Endlich, Herr Beck, ist mir gestattet worden, zu Ihnen zu kommen, mit Ihnen sprechen und beraten zu dürfen!«

»Endlich ,– endlich kommen Sie«, murmelte der Gefangene, während ein krampfhaftes Zucken durch seine Glieder ging. »Oh, Sie können nicht glauben, wie gar sehr ich mich nach Ihrem Kommen gesehnt habe, und doch wartete ich Tag für Tag, Woche um Woche vergeblich.« Der hohle Ton seiner Stimme erschütterte Rudolph mächtig. Er musste mit sich kämpfen, um seine Aufregung bezwingen zu können.

»Zuerst gestatten Sie mir eine Frage«, fuhr Beck fort, »Sie sehen, ich bin hier völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Der Wärter sprach kein Wort zu mir, er war stumm auf alle meine Fragen. Man riss mich damals von Frau und Kind ,–« Er hielt inne, denn ein düsterer Schatten hatte sich auf Rudolphs offenem Angesicht gelagert. Im nächsten Augenblick schon kam ein schmerzlicher Laut über Becks Lippen. »So habe ich damals recht gesehen«, stammelte er, »als man mich im Wagen vorüberfuhr! Ich sah einen Sarg aus dem Hause tragen und ,–«

»Ertragen Sie das Schicksal wie ein Mann«, fiel ihm Rudolph bewegt ins Wort. »Ich bringe Ihnen die letzten Grüße der armen, friedlich heimgegangenen Dulderin. Ihr ist wohl!«

»Also wahr, wahr!« lallte Beck mit gebrochener Stimme. Dann taumelte er haltlos auf den Strohsack zurück, barg sein Gesicht in beiden Händen und weinte bitterlich.

Dieser Anblick erschütterte Rudolph ungemein. Er musste an sich halten, um nicht selbst weich zu werden und Tränen zu vergießen. Geduldig, nicht wagend, den heiligen Schmerz des Unglücklichen zu stören, wartete er. Endlich ließ Beck die Hände von seinem Gesichte sinken und erhob sich wieder. »Verzeihen Sie mir, dass ich schwach geworden bin«, murmelte er. »Aber der furchtbare Schmerz riss mich hin. Ich wusste ja, was Sie mir sagten, schon im voraus; Ihre Botschaft traf mich nicht unvorbereitet, und dennoch ,–« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Lassen wir das. Jetzt eine Frage an Sie«, stieß er hastig hervor. »Aber wohlgemerkt, ich richte diese Frage nicht an den Verlobten meiner Tochter, sondern an den unparteiisch denkenden und wägenden Rechtsanwalt. Halten Sie mich für schuldig? ,– Ja oder Nein!«

Sein Blick bohrte sich tief in die Augen Rudolphs ein; es war, als ob er dessen innerste Gedankenregungen erspähen wollte. Aber unbefangen hielt Rudolph seinen Blick aus. »Ich glaube Ihnen bereits Antwort gegeben zu haben, Herr Beck, oder meinen Sie in der Tat, ich würde Ihnen, und wenn Sie zehnmal Hedwigs Vater sind, die Hand gereicht haben, wenn ich Sie für einen blutbefleckten Mörder hielte? Einen Händedruck tauscht man nur mit einem Ehrenmanne aus!«

Ein freudiges Zucken ging über das Angesicht des Verhafteten. So glauben Sie mir, Herr Wichern! Endlich ein Mensch, der mir glaubt. Oh, Sie wissen nicht, Sie können nicht ahnen, wie wohl das tut. Jedes Wort, das ich diesem Untersuchungsrichter sage, wird als Lüge, als elende Ausflucht betrachtet. Das beredte Mienenspiel dieses Mannes drückt unverkennbare Verachtung aus. Oh, ich kann es nicht kundgeben, wie glücklich mich der Gedanke macht, von einem ehrlichen, wackeren Menschen als seinesgleichen behandelt zu werden, obgleich ich hier, in des Kerkers Nacht, wie ein wildes, reißendes Tier ,– ohne jede Aussicht ,–«

»Nein, Sie sollen die Hoffnung nicht aufgeben«, unterbrach ihn Rudolph. »Ich wünsche in Ihnen zwar durchaus keine Illusionen zu erwecken ,– so weit ich bisher den Fall kenne, muss ich vielmehr sagen, dass es uns schwer sein wird, die in der Untersuchung wider Sie angesammelten Indizien erfolgreich zu widerlegen ,– aber schließlich ist Ihr gutes Recht und Gott mit Ihnen, er wird uns Kraft und Macht in die Hand geben, auch das Schwerste zu überwinden! Vor allem aber möchte ich Sie darum bitten, mir mit schrankenloser Offenheit alles zu sagen und nichts zu verschweigen. Es wäre überhaupt besser gewesen, wenn Sie zu mir, als zu Ihrem zukünftigen Eidam, schon früher Vertrauen gehabt hätten.«

»Wieso?«

»Hätte ich ahnen können, welche verhängnisvolle Wendung Ihre Verhältnisse schon vor Ihrer Verhaftung genommen hatten, so hätte ich hilfreich eintreten können«, fuhr Rudolph fort, »Sie wären alsdann nicht in die traurige Lage versetzt worden, Ihre Werkzeuge dem gewissenlosen Trödler verkaufen zu müssen!«

Beck stöhnte auf. »Dieser meineidige Schurke!« murmelte er. »Er schwor es mir ins Gesicht ab, jemals Werkzeuge von mir gekauft zu haben!«

»Auch ich bin fest überzeugt, dass Schimmel einen Meineid geschworen hat; indessen wird es sehr schwer sein, es ihm nachzuweisen.«

»Oh, über diese Gerechtigkeitspflege«, stöhnte der Gefangene auf. »Fußfällig habe ich den Untersuchungsrichter gebeten, eine Haussuchung bei Schimmel anzuordnen, einzeln habe ich die Werkzeuge beschrieben, welche ich an den Abscheulichen verkauft habe, nicht die geringste Scharte in den Klingen habe ich anzugeben vergessen, ein Blinder muss nach meiner Beschreibung die Werkzeuge kennen. Aber man hatte für alle meine Worte nur ein verächtliches Achselzucken. Jetzt bin ich hoffentlich nicht mehr ganz hilflos, ich bitte, ich beschwöre Sie, setzen Sie es durch, dass eine Haussuchung bei Schimmel gehalten wird!«

»Ich vermag Ihnen in dieser Beziehung nicht viel Hoffnung zu machen«, entgegnete der Rechtsanwalt bekümmert, »denn abgesehen davon, dass nach den bestehenden Gesetzesvorschriften eine Haussuchung nur in begründeten Verdachtsfällen angeordnet werden kann, ist kaum anzunehmen, dass Schimmel auch nur ein einziges Ihrer Werkzeuge noch im Hause hat, dazu ist er ein viel zu vorsichtiger und geriebener Gauner.«

»Oh, es ist, als ob das Gericht mit ihm unter einer Decke spielte«, stieß der Verhaftete ingrimmig hervor. »Man ließ ihm ja wochenlang Zeit, und mich, den Unschuldigen, sperrt man unbarmherzig ein.«

»Ich lasse den Trödler im Geheimen beobachten«, fiel Rudolph ein.

In den Augen Becks leuchtete es freudig auf. »Aber Sie fanden bisher keine Handhabe?«

»Bis jetzt ist mir nichts Verdächtiges gemeldet worden«, versetzte der Rechtsanwalt. »Schimmel geht in gewohnter Weise seinem Geschäft nach, er verkauft und kauft ein. Von den Werkzeugen aber hat der Kriminalpolizist, den ich mit den Nachforschungen beauftragte, bisher noch keine Spur entdecken können.«

Wieder stöhnte Beck auf. »Und doch ist es die lautere Wahrheit, dass ich ihm die Werkzeuge, darunter den verhängnisvollen Grabstichel, verkauft habe.«

»Es geschah dies am Nachmittag vor dem Morde?« Beck bejahte.

»Wie kamen Sie dazu, die Werkzeuge gerade an Schimmel, der doch Ihr Hauswirt war, zu verkaufen?«

»Sie wissen ja, meine arme Frau lag schon damals im Sterben. Ich war zu dem Baron von Engler abberufen worden, um dessen Kassenschrank zu öffnen. In meiner Abwesenheit war der Arzt dagewesen und hatte erklärt, nicht eher wieder kommen zu wollen, bis das rückständige Honorar bezahlt sei. Auch der Apotheker hatte mir jeden weiteren Kredit verweigert. Ich hatte nichts mehr im Hause, meine Frau aber jammerte und wollte mich nicht mehr von ihrer Seite lassen. Da ich nun bei Schimmel, der meine bedrängte Lage kannte, am ehesten ein Einsehen voraussetzen konnte, und auch am schnellsten bei ihm zu Gelde kam, so eilte ich die Treppe zu ihm hinunter. Ich ahnte nicht, welch furchtbares Verhängnis ich auf mich und die Meinigen dadurch heraufbeschwor.«

»Unglückseligerweise befand sich niemand im Trödlerladen, als Sie das Geschäft mit Schimmel abwickelten?«

»Niemand.«

»So hat Sie also kein Mensch an diesem Nachmittag in dem Trödlerladen gesehen?« fragte Rudolph wieder. »Es wäre uns schon viel damit gedient, wenn wir wenigstens nachweisen könnten, dass Sie an diesem Nachmittag dort waren.«

Der Gefangene sann einen Augenblick nach. »Doch, es begegnete mir, als ich froh über die erhaltenen fünfzig Mark den Trödlerladen verließ, ein hochgewachsener junger Mann unter der Tür, der sich offenbar in den Laden begeben wollte.«

»Wie sah derselbe aus?« forschte Rudolph.

Beck sann wieder einige Sekunden nach, dann zog er betrübt die Achseln in die Höhe. »Ja, wenn ich das noch wüsste«, murmelte er, »ich habe, offen gestanden, nicht sonderlich auf den mir Begegnenden geachtet. Ich glaube, er hat einen schwarzen Schnurrbart, vielleicht auch einen Knebelbart gehabt. Ich wunderte mich einigermaßen, dass er trotz des schwülen Julinachmittages einen grauen Radmantel und die Enden desselben noch obendrein über die Schultern geworfen hatte, wie um sein Gesicht zu verdecken. Aber ich achtete nicht viel auf diesen Umstand. Ich eilte nur, um schnell nach der Apotheke zu kommen und dort Arznei und Wein für meine kranke Frau zu kaufen.«

Schon während der letzten Worte des Gefangenen hatte sich lebhafteste Überraschung in den Gesichtszügen Rudolphs ausgeprägt. »Mein Gott«, rief er jetzt aus, »welch seltsames Zusammentreffen! Ein hochgewachsener junger Mann mit schwarzem Bart, in einen weiten, grauen Radmantel eingehüllt, in der Tat, das ist ein seltsames Zusammentreffen! Aber sind Sie Ihrer Sache auch sicher?«

Erstaunt nickte Beck. »Je länger ich nachdenke, desto deutlicher erinnere ich mich jener flüchtigen Begegnung«, sagte er sinnend. »Gewiss, ich täusche mich nicht. Es war ein junger Mann mit bleichem, verlebtem Gesicht, und schwarzem Schnurrbart, den Knebelbart konnte man mehr ahnen als sehen, des vorgehaltenen Mantelflügels wegen. Mit überraschender Klarheit tritt die Erscheinung plötzlich vor mein geistiges Auge, aber«, unterbrach er sich, »warum legen Sie auf diesen nebensächlichen Umstand ein solch merkwürdiges Gewicht?«

»Weil ich glaube, dass Sie in jenem Augenblick ahnungslos an dem Mann vorübergeschritten sind, der schon im Begriffe stand, das furchtbare Verhängnis auf Sie herabzubeschwören!« rief Rudolph erschüttert aus. »Ich zweifle nicht daran, dass jener Mann im grauen Mantel und der verruchte Mörder ein- und dieselbe Person sind. Glauben Sie übrigens, dass Schimmel selbst direkt oder indirekt an der Mordtat beteiligt gewesen ist?«

»Das ist so klar wie heller Sonnenschein!« fiel ihm erregt der Gefangene ins Wort. »Natürlich steckt jener Schurke dahinter.«

»Sie halten ihn also für den Urheber der Tat?«

»Sicherlich«, bestätigte Beck. »Wie wäre es auch sonst möglich, dass der Grabstichel in der Brust des Ermordeten gefunden wurde?«

»Es müsste sich dann um einen sorgsam vorbereiteten Mord handeln. Unklar ist mir freilich, wie der Trödler dazu gelangt sein kann, abends in die gut verschlossene Wohnung des Barons zu kommen«, versetzte Rudolph nachdenklich. »Er hat doch keinerlei Verbindung mit den Bewohnern des letzteren gehabt.«

»Nun, bekannt war er schon mit Fräulein von Gerstenberg«, unterbrach ihn Beck hastig. »Wiederholt habe ich das Fräulein in dem Laden des Trödlers verschwinden sehen. Ich glaube, sie kaufte immer alte Spitzen und dergleichen Zeug.«

»Das kann unter Umständen wertvoll für uns sein. Glauben Sie, dass Ihre Aussage auch von anderer Seite bekräftigt werden kann?«

»Sicherlich durch die Dienerschaft des Barons, vielleicht auch durch meine Tochter.«

»Soviel ich urteilen kann, ist Schimmel ein zu schwächlicher Mann, um eine Mordtat wie die geschehene selbst zu vollbringen. Zu einer solchen bedarf es Nerven von Stahl und einer eisernen Faust, zudem kommt das Tikunagift äußerst selten vor.«

»Nun, das wäre doch bei einem Raritätenhandel noch am ehesten zu finden«, warf Beck ein. »Ich wunderte mich oft, was Schimmel alles einkauft. Die unmöglichsten Sachen kommen zum Vorschein. Aber für den Mörder selbst halte ich ihn auch nicht, dazu ist der Bursche viel zu feige. Den Hehler und Auskundschafter hat er gemacht. Zur Ausführung der Tat selbst hatte er seine Helfershelfer.«

»Ich will jetzt vorerst an ein eifriges Aktenstudium gehen; erst wenn wir klar sehen, können wir über weitere Maßregeln beratschlagen.«

Über Becks Gesicht ging ein wehmütiger Schimmer. »Sie wollen schon wieder gehen? Ich wage nicht, Sie zu längerem Bleiben aufzufordern, es ist zu grausig hier. Aber bitte, grüßen Sie meine Tochter.« Die letzten Worte sagte Beck mit zuckenden Lippen.

»Ich werde tagtäglich kommen und Ihnen alle möglichen Erleichterungen zu verschaffen suchen«, versicherte Rudolph. Dann verabschiedete er sich von dem Unglücklichen und rief durch Pochen den draußen harrenden Wärter herbei, der die Tür wieder öffnete, welche er vorhin hinter ihm abgeschlossen hatte.

Ungesäumt begab sich Rudolph nach dem Bureau des Untersuchungsrichters zurück und erbat sich Einsicht in die Akten. Bereitwillig gewährte Alberti sofort diese Bitte. Wohl stundenlang saß alsdann der Rechtsanwalt da und grübelte über den vielen Bogen engbeschriebenen Papiers. Fast wollte ihn wieder die Hoffnungslosigkeit überkommen, jemals die Anklage, die über Becks Haupt schwebte, entkräften zu können.

Es dunkelte schon, als Rudolph endlich das Justizgebäude verließ. Zufällig traf er am Ausgange mit dem Polizeikommissär Grösser zusammen, der ebenfalls seinen Tagesdienst beendigt hatte und sich anschickte, nach Hause zu gehen. Rudolph wechselte einen Händedruck mit dem pflichteifrigen Beamten.

»Sie waren vermutlich bei Ihrem Klienten?« fragte Grösser, sich dem Rechtsanwalt anschließend. »Ich habe bereits gehört, dass Sie die Verteidigung übernommen haben. Es ist ein aussichtsloses Stück Arbeit, obwohl die Schuld des Verhafteten noch nicht im Mindesten erwiesen ist.«

Überrascht schaute Rudolph den Beamten an. »Wie, Sie zweifeln auch an der Schuld Becks?« versetzte er dann hastig. »Soviel ich aus den Akten weiß, sind doch Sie es gewesen, der die meisten Schuldbeweise wider den Verhafteten zusammengetragen hat.«

»Ich wollte, ich hätte gleich am ersten Tage eine Haussuchung bei Schimmel vornehmen dürfen, dann würde vielleicht die ganze Anklage ein anderes Aussehen bekommen haben«, warf der Kommissär ein.

Überrascht blieb Rudolph stehen. »Das ist derselbe Wunsch, welchen Beck wiederholt vergeblich äußerte«, versetzte er. »So halten Sie Beck in der Tat für schuldlos?«

»Es ist eigentlich ein unerquickliches Thema«, meinte Grösser, »man kann sich nur in Vermutungen bewegen. Jedenfalls bin ich von meiner ersten Meinung, die Beck für den einzig Schuldigen hielt, zurückgekommen. Ich glaube sogar nicht einmal mehr, dass er am Mord beteiligt war. Aber das sind, wie gesagt, lauter Vermutungen, eine sichere Handhabe ist nicht vorhanden. Sie werden jedenfalls einen schweren Stand bei der Verteidigung haben, Herr Doktor.«

»Ich kann es Ihnen ja im Vertrauen sagen«, versetzte der junge Rechtsanwalt, »ich habe einen Ihrer Untergebenen zu gewinnen gewusst, den Trödler heimlich zu überwachen.«

»Ist mir bereits bekannt. Schutzmann Pohl meldete es mir pflichtgemäß«, meinte Grösser dagegen. »Ich halte Ihr Vorgehen für klug und vorsichtig, indessen wird nicht viel dabei herauskommen. ,– Nun, wenn Sie gestatten, lieber Herr Doktor, so werde ich mich ab und zu nach dem Fortgange der Untersuchung umsehen, ich habe mir auch vorgenommen, diesen vortrefflichsten aller Trödler scharf im Auge zu behalten, und ich würde mich freuen, wenn es mir gelingen sollte, Ihnen einiges Entlastungsmaterial an die Hand zu geben.«

»Sie würden dem Unschuldigen einen unschätzbaren Dienst erweisen«, versicherte Rudolph. Sie schritten eine Weile schweigend nebeneinander her. Rudolph glaubte zu bemerken, dass der Kommissär ihn von der Seite mit vieldeutigem Mienenausdruck fixierte.

»Eine komische Geschichte ists jedenfalls«, unterbrach Grösser endlich wieder das Schweigen. »Es sind so viele Widersprüche im Spiele; was sagt denn zum Beispiel Ihr Klient zu dem Verschwinden des Testamentes?« Wieder ruhten die Blicke des Kommissärs mit fast stechendem Ausdruck auf Rudolph. Dieser zuckte leicht betroffen zusammen.

»Ich habe mit ihm darüber noch nicht Rücksprache genommen«, versetzte er, unwillkürlich seinen Schritt verlangsamend. »Ich muss allerdings zugeben, dass auch mich dieses seltsame Verschwinden des Testamentes, dessen Vorhandensein von einwandsfreien Personen bestätigt wird, eigen genug berührt hat; ich hoffe indessen gerade aus diesem Umstande Kapital schlagen zu können.« »Sie müssen aber vorsichtig verfahren, denn Sie könnten sonst leicht jemandem eine schöne Suppe einbrocken.«

Rudolph blieb stehen und schaute den anderen fragend an. »Wie meinen Sie das?« entgegnete er. »Reden wir offen miteinander. Sie sagen mir nicht die ganze Wahrheit, Sie denken anders, wie Sie sprechen. Wem könnte ich wohl eine Suppe einbrocken?«

»Ich meinte nur, dass man sehr leicht einen Unschuldigen verdächtigen könnte«, versetzte der Kommissär leichthin. »Besonders Sie haben noch gewisse Rücksichten zu nehmen. Allein schon der Gedanke, dass schließlich ja auch Ihr zukünftiger Schwager, der doch sicherlich ein einwandsfreier Mann ist, großes Interesse an dem Verschwinden des Testaments gehabt haben könnte ,–«

Er vollendete den Satz nicht, denn mit hartem Drucke umspannte Rudolph seinen Arm. »Ah, so ist also dieser furchtbare Gedanke, den ich bisher als trostloses Geheimnis in meinem Innern verschlossen wähnte, auch schon Ihnen gekommen? Sie haben Verdacht auf den Baron, sagen Sie mir, aus welchem Grunde?«

Grösser schaute ihn scheinbar verwundert an. »Aber ich bitte Sie, Herr Doktor, missverstehen Sie mich nicht«, meinte er mit harmloser Miene. »Im Gegenteil, ich meinte es gut mit Ihnen, ich wollte dem Baron Hugo von Engler, Ihrem zukünftigen Schwager, nicht im Geringsten zu nahe treten. Unsereinem müssen Sie es schon verzeihen, wenn man schließlich jeden Menschen als Spitzbuben ansieht; man hat mit solchen eben gar zu viel zu tun.«

Rudolph sann eine Weile nach. »Sie täuschen mich nicht«, meinte er dann entschlossen zu dem Polizeikommissär. »Sie sind ein verschwiegener, in Ihrem Berufe äußerst tüchtiger Mann, und können sich wohl denken, wie sehr ich wünsche, den wahren Schurken entlarvt zu sehen. Schon aus diesem Grunde darf ich nicht kleinliche Rücksichten auf mir noch so nahe stehende Personen nehmen. Es bleibt aber unter uns, was ich Ihnen jetzt sagen werde.«

Der Kommissär nickte nur schweigend und hörte dann mit gespannter Aufmerksamkeit auf die ihm flüsternd von Rudolph gemachten Eröffnungen. Indessen schien deren Mitteilung keinen besonderen Eindruck auf ihn zu machen.

»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, das ist eine Sinnestäuschung gewesen.«

»Nein, nein, ich habe gute Augen im Kopf, die mich nicht trügen. Ich möchte darauf schwören, dass es mein zukünftiger Schwager gewesen ist«, entgegnete Rudolph in hochgradiger Erregung. »Sie können nicht nachfühlen, in welcher Gemütsverfassung ich mich seit jenem Augenblick befinde.«

»Und doch haben Sie sich geirrt«, widersprach der Kommissär gleichmütig. »Lieber Himmel, bei dem Menschengewühl konnten Sie auch nur flüchtig beobachten, und Ihr künftiger Verwandter hat ein einnehmendes, aber nicht gerade einzigartiges Gesicht. Solche Bärte findet man dutzendweise. Zudem sagen Sie ja selbst, dass die Kleidung eine andere war. Für Ihren Fingerzeig selbst bin ich Ihnen sehr dankbar«, setzte er gleich darauf hinzu, »ich werde mir gestatten, die Verfolgung dieses Mannes mit dem Radmantel selbst in die Hand zu nehmen. Natürlich vorläufig als Privatmann, denn ohne völlig ausreichendes Material vermögen wir nichts anzufangen. Im Übrigen aber schlagen Sie sich die Grillen aus dem Sinn, Herr Doktor. Sie hatten ohnehin in der letzten Zeit so viel Widerwärtigkeiten.«

Der Kommissär begleitete Rudolph noch ein Stück des Weges, dann verabschiedeten sie sich und Rudolph schritt gedankenvoll dem väterlichen Anwesen zu. Der Mienenausdruck des Kommissärs aber änderte sich ungemein, sobald er sich unbeachtet sah. Das heitere, sorglose Lächeln verschwand und er nickte vielsagend mit dem Kopf.


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