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In der Englerschen Villa walteten inzwischen die Ärzte ihres traurigen Amtes. Die Diagnose des Gerichtsarztes erwies sich als richtig. Seine Kollegen stimmten mit ihm darin überein, dass nur eine besonders geschickte und kräftige Hand den tödlichen Dolchstich nach dem Herzen des Barons geführt haben könne. Ebenso war auch die Todesart Doras von Gerstenberg über jeden Zweifel erhaben. Dieselbe war wirklich den verheerenden Folgen des Tikunagiftes erlegen. Eine vorläufig an Ort und Stelle vorgenommene mikroskopische Untersuchung ließ die farblosen Kristalle der im Magen vorgefundenen Giftspuren bereits entdecken. Es wurde ein Protokoll aufgenommen, dann ordnete der Untersuchungsrichter noch die Fortschaffung der Leichen nach dem Schauhause an. Die Ärzte verabschiedeten sich und verließen das Haus des Unglücks.
Alberti selbst hatte noch in der Villa zu tun. Ihm lag die ebenso mühevolle wie zeitraubende Verpflichtung ob, mit Beihilfe des Polizeikommissärs ein ausführliches Inventar des im Kassenschranke vorgefundenen Bestandes aufzustellen und den letzteren vorläufig an das Gericht abzuführen. Endlich waren sie damit fertig. In Begleitung des Kommissärs verließ Alberti das Gebäude und trat die Rückfahrt nach dem Justizgebäude an. Er lud den Kommissär ein, mit ihm zu fahren, und bot dann, als sie nebeneinander Platz genommen, seinem langjährigen Mitarbeiter eine Zigarre an. Während der Fahrt tauschten die beiden Beamten ihre Meinungen über den vorliegenden Fall aus, und der Untersuchungsrichter war nicht wenig überrascht, von dem Kommissär das Bekenntnis zu hören, dass dieser von der Schuld des Verhafteten nicht wirklich überzeugt war.
»Ach was«, unterbrach Alberti ihn unmutig, »es soll von jeher nicht viel an ihm gewesen sein. Er war durchaus kein Geschäftsmann, hing allerlei eitlen Träumereien nach und vernachlässigte seine Fabrik. Ich erinnere mich des Geredes noch gar gut, das es damals gab, als er Bankrott machte. Für mich steht seine Schuld außer jedem Zweifel.«
Der Kommissär schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Blutspur passt nicht auf seine Hand«, gab er zu bedenken. »Und zweifelsohne hat doch der Mörder ,– eben von seinem Opfer kommend ,– dieselbe verursacht. Wo soll der in den allerdürftigsten Verhältnissen Lebende übrigens auch das so seltene Tikunagift herbekommen haben, das überhaupt nur durch Zufall in Deutschland erhältlich ist?«
»Angesichts der geradezu erdrückenden Schuldbeweise können diese Einwendungen gar nicht in Betracht kommen«, unterbrach ihn Alberti ärgerlich. »Das Wie und Wo dieser Mordtat werden wir bei dem verstockten Leugnen des Verhafteten wohl niemals aufzuklären vermögen; wichtig und erfreulich für uns ist nur, dass wir in der Person des Letzteren den wirklichen Mörder gefaßt haben.«
»Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich nicht täuschen«, entgegnete der Kommissär mit leichtem Achselzucken. »Mir will, offen gestanden, manches nicht recht einleuchten, ich vermag es zum Beispiel nicht zu fassen, dass ein Verbrecher, der fähig ist, kaltblütig solch eine Entsetzenstat zu vollbringen, auf der anderen Seite die unverzeihliche Torheit begehen soll, die Beweise seiner Schuld auf offenem Arbeitstische liegen zu lassen; zudem hatte er stündlich den Besuch des Gerichtsvollziehers zu erwarten, der zur Abholung der Möbel kommen musste. Wie leicht hätten diesem Kette und Banknoten in die Hand kommen können?«
Alberti lächelte überlegen. »Sie vergessen, dass er müde vom blutigen Werke heimgekehrt ist. Er verbarg die geraubten Gegenstände aufs Geratewohl, damit sie von seinen Angehörigen nicht entdeckt werden sollten, und behielt sich vor, die Wertsachen nach seinem Erwachen besser zu verbergen. Das wäre sicherlich auch geschehen, wenn wir ihn nicht schon unmittelbar am nächsten Morgen nach seinem Aufstehen abgefasst hätten.«
»Aber kann ,– Ihre Vermutung in Ehren ,– seine Behauptung, dass der unbekannte Mörder ihm während der Nacht die Wertstücke durchs offen stehende Fenster unter die Werkzeuge auf den Arbeitstisch gelegt habe, nicht einen Schein von Glaubwürdigkeit erhalten?« wandte der Kommissär wieder ein.
Alberti schüttelte den Kopf. »Sie vergessen das Lügengewebe, in welches er sich verstrickte«, widersprach er bestimmt. »Er wollte das Mordwerkzeug an den Trödler Schimmel verkauft haben, aber die beschworene Zeugenaussage des Letzteren hat ihn Lügen gestraft.«
Der Kommissär zuckte vielsagend die Achseln. »Dieser Schimmel ist nun auch gerade kein klassischer Zeuge«, brummte er.
Alberti sah ihn erstaunt an. »Ihre Parteinahme für den Verhafteten führt Sie zu weit«, meinte er dann. »Sie wollen doch nicht gar den Zeugen eines Meineids beschuldigen? Er ist bisher durchaus unbescholten!«
»Nun ja, was man so nennt«, entgegnete der andere. »Man hat dem geriebenen Burschen freilich noch nicht beikommen können, aber er steht schon gar lang im Verdacht, ein Diebeshehler zu sein. Wir lauern ordentlich auf eine Unregelmäßigkeit, die uns das Recht an die Hand gäbe, uns innerhalb seiner vier Pfähle umzuschauen, das weiß der alte Fuchs auch recht gut und nimmt sich deshalb höllisch in Acht.«
»Jedenfalls ist er für uns ein durchaus einwandsfreier Zeuge«, unterbrach ihn Alberti. »Was für einen Grund sollte er auch haben, durch einen Meineid einen Mann, der ihm zu keiner Zeit etwas zu Leide getan, in unabsehbares Elend zu stürzen?«
»Sie vergessen, dass er vielleicht dabei sich seiner eigenen Haut zu wehren hatte«, sagte der Kommissär. »Es ist ihm vielleicht schon aus dem Grunde unmöglich gewesen, den Erwerb der Werkzeuge einzugestehen, weil er alsdann den Kunden, der diesen Grabstichel ihm abgekauft, hätte verraten müssen. Jedenfalls wäre es mir nicht unangenehm, wenn ich von Ihnen Vollmacht erhielte, eine Haussuchung bei dem Burschen vornehmen zu dürfen.«
»Wo denken Sie hin? Es liegt das beschworene Zeugnis eines vor Gericht unbescholtenen Mannes vor; auf bloße Vermutungen hin darf ich keine Haussuchung anordnen, das wäre ungesetzlich.«
Der Kommissär gab keine Antwort. Der Wagen hielt in demselben Momente auch schon vor dem Justizgebäude. Alberti stieg zuerst aus und verabschiedete sich dann von seinem Untergebenen kürzer und förmlicher, als es sonst in seiner Art lag. Kopfschüttelnd durchschritt er das Portal und stieg die Treppen empor. »Ich verstehe den Mann nicht«, murmelte er ärgerlich vor sich hin. »Er ist doch sonst recht scharfsinnig; wie kann er zweifeln, wo die Schuld doch erwiesen ist!«
Als er sein Amtszimmer betrat, bekam sein Gedankengang sofort eine andere Richtung, denn der Diener meldete ihm, dass Baron Hugo von Engler bereits seit einer Viertelstunde auf ihn im Vorzimmer warte. Sofort nahmen Albertis Züge einen erwartungsvollen Ausdruck an. »Ich lasse den Herrn bitten, einzutreten.«
Wenige Minuten später öffnete sich die Tür. Ein hochgewachsener, schlanker junger Mann, dessen hübsches, ausdrucksvolles Gesicht nur durch einen die Mundwinkel herabziehenden blasierten Zug in seiner Wirkung etwas beeinträchtigt wurde, trat in das Gemach ein und verneigte sich mit vollendetem Anstande vor dem Beamten. Dieser hatte inzwischen hinter seinem Schreibtische Platz genommen; jetzt deutete er artig auf einen Stuhl. »Bitte, nehmen Sie Platz«, begann er.
»Es tut mir leid, Ihnen die unangenehme Pflicht haben auferlegen zu müssen, vor mir zu erscheinen, allein es ist mir in hohem Grade wünschenswert, einige Auskünfte von Ihnen zu erhalten.«
Der junge Baron verbeugte sich zustimmend. »Ich stehe mit Vergnügen zu Diensten«, begann er mit einer wie ermüdet klingenden Stimme, während er sich auf den angebotenen Stuhl niederließ, »obwohl ich offen gestanden nicht weiß, worin ich Ihnen werde dienlich sein können.«
»Durch die gleichzeitige Ermordung Ihrer Cousine sind Sie wohl jetzt der einzige Erbe Ihres Onkels?«
»Ich vermute es wenigstens. Mein Onkel ist zwar immer von unberechenbaren Launen abhängig gewesen und hat in einer solchen mir sogar vor einem halben Jahre in völlig unmotivierter Weise das Betreten seines Hauses verboten. Er hat sicherlich ein Testament hinterlassen, in welchem er ,– wie es sich bei seiner misstrauischen Charakterveranlagung eigentlich von selbst verstand ,– genaue Dispositionen über sein Vermögen getroffen hat.«
»Das setzt mich in Erstaunen«, warf der Untersuchungsrichter ein. »Trotz der sorgfältigsten Durchsuchung des Gesamtnachlasses hat sich kein Testament vorgefunden.«
Ein lebhaftes Rot verdunkelte die Wangen des jungen Barons. Ersichtliche Freude spiegelte sich in seinen Zügen wider. »Mein Onkel hatte kein Testament hinterlassen?« rief er dann. »In solchem Falle wäre ich ja unbestreitbar der alleinige Erbe! Aber nein, das ist gar nicht möglich«, unterbrach er sich gleich darauf, »mein Onkel war ein viel zu vorsichtiger Mann, er hat sicher ein Testament gemacht, ich weiß es ganz genau, das Testament ist sogar schon zwei Jahre alt. Sein vertrauter Ratgeber, der Justizrat Braun, hat es, glaube ich, angefertigt.«
»Sie sagen mir nichts Neues«, entgegnete Alberti, »ich kann es Ihnen ja mitteilen, dass ich bereits von Seiten des hiesigen Moritzspitals, welchem bei Lebzeiten des Ermordeten von diesem die Verständigung zugegangen ist, dass es in seinem Testamente mit einer bedeutenden Summe bedacht sei, beauftragt worden bin, Nachforschungen nach einem solchen Testament zu halten. Ich wundere mich über das Verschwinden desselben um so mehr, als der Mörder doch eigentlich kein Interesse an einem solchen haben konnte.«
Baron Hugo hielt frei und unbefangen den forschenden Blick des Untersuchungsrichters aus. »Ich weiß Ihnen wirklich darauf keine passende Antwort zu geben«, meinte er dann im Ton sorgloser Fröhlichkeit. »Mir kommt offen gestanden die Nachricht, dass ein Testament nicht vorhanden gewesen ist, nur erwünscht. Ich glaube kaum, dass in einem solchen mein Oheim mich hervorragend bedacht haben würde, wie ich denn überhaupt bis zur Stunde kaum die Hoffnung gehegt habe, eine nennenswerte Erbschaft antreten zu dürfen.«
»Der Vertreter des Moritzspitals, zugleich der Direktor unseres Landgerichts, behauptet auf das Entschiedenste, dass ein Testament vorhanden gewesen ist«, fuhr der Untersuchungsrichter nachdenklich fort. »Er will es aus dem Munde des verstorbenen Justizrats Braun selbst gehört haben.«
»Dann muss sich in dessen Nachlasspapieren doch eine Abschrift oder dergleichen finden. Vielleicht hat mein Oheim auch ein zweites Testament bei Gericht deponiert«, warf Hugo hastig ein. Alberti entging der rasch auftauchende und ebenso schnell wieder verschwindende, fast lauernde Blick nicht, den der andere auf ihn warf. Aber er fand dieses erwartungsvolle Fragen verständlich, hatte ihm doch der junge Baron deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich der zu erhoffenden Erbschaft wegen nur wenig aus dem Tode seines ungeliebten Oheims mache.
»Bei Gericht ist kein Testament deponiert«, entgegnete der Untersuchungsrichter nach sekundenlangem Stillschweigen. »Die Papiere des Justizrats Braun stehen ebenfalls nicht mehr zur Verfügung. Der alte Herr war Junggeselle, seine unverheiratete Schwester führte ihm die Wirtschaft, und diese hat nun unverantwortlicherweise in ihrer Rechtsunkenntnis die Nachlassakten ihres Bruders zum größten Teil als Makulatur verkauft. Es sind schon mehrere ärgerliche Prozesse dadurch entstanden.« Ein leises Lächeln umspielte auf Augenblick die Lippen des Barons.
»Aber um auf den eigentlichen Grund der an Sie ergangenen Vorladung zu kommen«, begann Alberti, der inzwischen vor sich ins Leere gestarrt hatte, wieder, »so möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie nicht vielleicht irgendwelche Kenntnis von dem Inhalte des Testamentes gehabt haben.«
»Vermutungen kann ich ruhig aussprechen«, meinte der Baron. »Es ist ja leicht möglich, dass mein Oheim mich im Testament vollständig übergangen, meine Cousine Dora aber zur Universalerbin eingesetzt und bedeutende Summen zu wohltätigen Zwecken vermacht hat, aber wie die Sache nun einmal liegt und steht, kann es mir niemand übelnehmen, wenn ich als erstberechtigter Erbe auftrete und den Verwandten meiner überdies nur im dritten Grade mit mir verwandten Cousine das Nachsehen überlasse.«
»Das sind Privatangelegenheiten, über welche mir keinerlei Urteil zusteht«, unterbrach ihn Alberti höflich, aber bestimmt. »Wie standen Sie mit Ihrer Cousine?«
»Eigentlich gar nicht. Sie war eine alte Jungfer, misstrauisch und scheelsüchtig. Ich habe ihr zum großen Teil die Verfeindung mit meinem Oheim zu verdanken.«
»Oheim und Nichte standen aber gut miteinander?«
Der Baron zuckte die Achseln. »Das will ich gerade nicht behaupten«, meinte er dann in gedehntem Ton. »Der Onkel hat vor seiner treuen Pflegerin wohl etwas Furcht empfunden.«
»Sie pflogen keinerlei Verkehr mit dem Ermordeten?«
»Unsere Wege gingen weit auseinander; nachdem er mir das Haus verboten hatte, existierte er einfach nicht mehr für mich.«
»Sie werden natürlich Ihre Erbansprüche sofort geltend machen?«
»Das kann mir kein Mensch verübeln; ich sage es ganz offen, dass mir die Erbschaft recht erwünscht kommt. Ich bin nicht eben günstig von Hause aus gestellt, das Leben in unseren Kreisen macht einen gewissen Aufwand nötig, für die Folge wird es mir natürlich leicht fallen, denselben zu bestreiten.«
»Es ließ sich heute Morgen schon ein Herr von Gerstenberg bei mir melden«, schaltete Alberti beiläufig ein. »Derselbe kam ebenfalls wegen des Testamentes. Er behauptete, der nächste Erbe seiner Schwester Dora zu sein und von ihr die bündigste Erklärung erhalten zu haben, dass sie im Testamente ihres Oheims zur Universalerbin eingesetzt worden sei.«
Ein spöttisches Lächeln umspielte Hugos Lippen. »So werde ich mich vermutlich mit diesem Herrn wegen meiner Ansprüche auseinanderzusetzen haben; nun, das soll mir wenig Sorge machen.« Er erhob sich von seinem Stuhle. »Kann ich Ihnen sonst noch mit irgendwelcher Auskunft dienen?« fragte er liebenswürdig.
Alberti erhob sich ebenfalls. »Nein, Herr Baron, ich würde Ihnen überhaupt gern den peinlichen Gang nach dem Gerichtsgebäude erspart haben. Ich hoffte, Sie vielleicht in der Villa Ihrer Verwandten begrüßen zu dürfen ,–«
Hugo von Engler machte eine Gebärde der Abwehr. »Um Gottes willen«, rief er hastig, »mir widerstrebt nichts so sehr wie der Anblick von Blut und Leichen.«
»So werden wir uns bei dem Leichenbegängnis, an dem ich ebenfalls teilnehme, wiedersehen«, entgegnete Alberti. »Zur Stunde befinden sich die entseelten Körperhüllen Ihrer Verwandten wahrscheinlich schon im Leichenschauhause.«
Der junge Baron verabschiedete sich. Gedankenvoll blickte Alberti ihm nach. »Junges, leichtsinniges Blut«, murmelte er vor sich hin, »aber gerade und offen. Er kann die Freude über die ihm unerwartet zugefallene Erbschaft kaum verbergen!«