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Neun Tage lang rang Hildegard Wichern auf ihrem Schmerzenslager mit dem Tode. Rudolph weilte fast unausgesetzt bei seiner geliebten Schwester. Er hatte die wilden Phantasien der im Fieber Rasenden anhören und mit blutendem Herzen erkennen müssen, dass Hildegard mit heißer, selbstverleugnender Liebe an ihrem bisherigen Verlobten hing.
Am Vormittag des neunten Tages hatte Rudolph seinen Klienten im Gefängnisse aufsuchen müssen. Gleich am ersten Tage nach der Verurteilung Becks hatte er für denselben die Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt und ausführlich begründet. Sie lag zur Zeit dem Reichsgerichte vor, und Rudolph hoffte darauf, in einigen Wochen schon den Erfolg melden zu können. Beck war verzagt und niedergeschlagen, obwohl man ihm alle tunlichen Erleichterungen in seiner harten Lage gewährt hatte.
Als der junge Rechtsanwalt wieder nach der Villa zurückkehrte, sah er von weitem seinen Vater ihm entgegenkommen. Dieser aber schien ihn ebenfalls erblickt zu haben; er wandte sich plötzlich um und ging eilig nach der Fabrik hinüber. Dieses offenbare Ausweichen, das sich selbst am Krankenlager Hildegards in seiner ganzen Schroffheit zeigte, erfüllte Rudolph mit bitterem Weh.
Gerade als Rudolph das Krankenzimmer wieder betreten wollte, kam der Arzt aus demselben. Ein tiefer Ernst lagerte auf seinen Zügen. »Ich glaube, wir werden zum Abend die Krisis haben«, meinte er. »Es ist mir darum lieb, dass ich Sie getroffen habe, obwohl die Wärterin ja auch zuverlässig ist. Gestern abend hatte das Fieber um einen Viertelgrad nachgelassen ,–«
»So meinen Sie wirklich, dass wieder Hoffnung ist?« rief Rudolph.
»Jubeln Sie nicht zu früh«, meinte der Medizinalrat in ernstem Ton. »Steigert sich die Temperatur auch nur um einen halben Grad, so ist die Katastrophe unvermeidlich. Sobald die Hitze heute abend zu steigen beginnt, bitte ich Eis aufzulegen und mich unverzüglich rufen zu lassen.« Dies versprach der junge Rechtsanwalt und begleitete höflich den Arzt nach dem Wagen hinunter. Er ließ sich nochmals alle Verhaltensmaßregeln einschärfen und eilte dann nach dem Krankenzimmer hinauf.
Hildegard lag im Gegensatz zu ihrem unruhigen, fieberhaften Schlummer der letzten Tage in einem festen Schlafe. Rudolph ließ sich neben ihr nieder und erfasste ihre Hände. Ein freudiger Schreck wollte ihn durchzittern, als er statt des trockenen, heißen Fieberbrandes die Haut des jungen Mädchens mit leichten Schweißtropfen bedeckt fand. Er entsann sich der Äußerung des Medizinalrates, dass mit Eintritt des Schweißes schon viel gewonnen sei. Stundenlang blieb er geduldig neben dem Lager seiner Schwester sitzen, immer friedlicher und ruhiger wurde das Angesicht des jungen Mädchens, auch der schwere Schlaf schien allmählich von ihr zu weichen, während immer zahlreichere Schweißtropfen aus den Poren der Stirn und der Hände hervortraten.
Das dauerte bis zum Abend; da schlug Hildegard mit einem Male die Augen wieder auf; sie waren wieder mit klarem Ausdrucke auf ihn gerichtet; vorsichtig beugte er sich ganz nahe zu der unbeweglich Liegenden, da ging ein flüchtiges Lächeln über ihre Lippen. »Rudolph«, flüsterte sie, »du bist es, ich erkenne dich.« Nur angestrengt und mühsam kamen die Worte über ihre Lippen.
»Mein liebes, teures Schwesterchen«, rief der junge Rechtsanwalt, während ein glückliches Lächeln um seine Lippen erschien. »Gottlob, du kennst mich wieder, das böse Fieber ist von dir gewichen.«
»Ich war schwer krank«, hauchte Hildegard, während sie die Augen schloss, »Aber freilich, der hässliche Schreck ,–«
»Nein, nein, du sollst jetzt nicht daran denken«, unterbrach sie Rudolph. »Lasse uns Gott danken, dass das Schlimmste überwunden und du gerettet bist, jetzt aber schlafe und träume süß. Später, wenn dir Gesundheit und Kraft zurückgekehrt sind, dann wollen wir alles miteinander besprechen, aber jetzt nicht, jetzt hast du Ruhe nötig!«
»Wo ist Hugo?«
»Denke nicht an ihn«, bat Rudolph.
»Ich träumte ja immer nur von ihm«, murmelte Hildegard, während sie die Augen wieder ein wenig öffnete und einen matten Blick auf Rudolph richtete. »Ich wusste wohl, dass du bei mir saßest, und ich bin dir sehr dankbar. Ich habe es dir immer sagen wollen die letzten Tage über, dass Hugo unschuldig ist, aber ich konnte es nicht tun, oh, es war grässlich, dieser Zwang; ich glaube, er hat mich so elend gemacht.«
Liebkosend streichelte Rudolph ihre Schläfen. »Nun schlafe, Schwesterchen«, drängte er sie. »Sei folgsam, das Sprechen strengt dich an.«
»Noch mehr drückt mich die Kummerlast nieder. Ach, Rudolph, du liebst ja auch. Ich ängstige mich um Hugo, er hat keinen Freund, und doch ist er unschuldig, Rudolph!«
»Gib dich nur zufrieden, Hildegard«, flüsterte Rudolph wieder. »Ich glaube ja auch nicht mehr so fest an seine Schuld. Es hat sich manches ereignet ,– aber das erzähle ich dir später.«
»Ich glaube, ich könnte ruhig sein, wenn ich nur wüsste, dass er einen einzigen Freund hat«, stammelte das junge Mädchen. »Aber er ist so allein, und ich bin krank.«
Da leuchtete es in Rudolphs Augen auf. »Aber dein Bruder kann ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen«, meinte er leise, »schon um deinetwillen, Hildegard. Schlafe jetzt nur, morgen Früh gehe ich zu ihm, ich wollte es ohnehin schon tun. Ich will mich offen und ehrlich mit ihm aussprechen, und dann sage ich dir genau, wie ich es meine.«
»Oh, dann ist alles gut«, hauchte Hildegard. Sie schloss die Augen, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. So lag sie lange Zeit hindurch bewegungslos, bis ihre Atemzüge verkündeten, dass sie von neuem in tiefen Schlaf gesunken war.
Die an ihn gerichtete Bitte Hildegards hatte einen tieferen und nachhaltigeren Eindruck auf Rudolph hervorgerufen, als er sich selbst eingestehen mochte. Als er sich am nächsten Morgen im Amtszimmer des Untersuchungsrichters einfand und diesen bat, Hugo im Gefängnis aufsuchen zu dürfen, schaute dieser überrascht auf. »Sie wollen doch nicht etwa auch den Baron verteidigen?«
»Ich denke ihm in der Tat meinen Beistand anzutragen. Ich weiß ja aber noch nicht, ob er annehmen wird.«
»Gegen Ihren Besuch habe ich nichts einzuwenden. Zudem bin ich eben im Begriffe, die Voruntersuchung zu schließen und die Akten der Staatsanwaltschaft einzureichen.« Er füllte eine Erlaubniskarte für den jungen Rechtsanwalt aus.
Als Rudolph die Zelle Hugos betrat, fand er letzteren in tiefem Nachdenken verloren. Der Baron war auffällig bleich. »Sie kommen, mich zu besuchen, Herr Doktor?« rief er. »In der Tat, das hatte ich nicht erwartet.«
»Ich komme, um Ihnen Grüße meiner Schwester zu bringen«, entgegnete Rudolph.
»Sie kommen von Hildegard? Mein Gott, was hat sie Schlimmes ertragen müssen um meinetwillen.«
»Sie hat eine schwere Krankheit durchgemacht.«
»Mein Gott, sie ist tot?« schrie Hugo auf, und ein solches Zittern überfiel seine ganze Gestalt, dass er sich gegen die Mauer des Gefängnisses stützen musste, um nicht umzusinken.
Das rührte Rudolph. »Sie scheinen meine Schwester wirklich lieb gehabt zu haben«, versetzte er, »um Sie indessen zu trösten, kann ich Ihnen sagen, dass Hildegard lebt und sich sogar auf dem Wege der Genesung befindet. Auf ihre Veranlassung bin ich bei Ihnen erschienen.«
»Oh, sie ist ein Engel«, flüsterte der Gefangene. »Sie ist ja auch die einzige, die an mich glaubt, die anderen verdammen mich alle.« In plötzlicher Aufwallung schlug er beide Hände vor das Gesicht und sank auf den nahe stehenden Schemel nieder.
»Die Teilnahme aller rechtlich Denkenden wird mit Ihnen sein«, sagte Rudolph ernst, dicht an ihn herantretend, »wenn Sie wirklich unschuldig sind.«
Hugo von Engler sprang plötzlich vom Schemel auf; er trat ganz dicht an Rudolph heran und sah ihm flammenden Blickes in die Augen. »Schauen Sie mich an«, stieß er hervor. »Sieht so ein Mörder aus, oder besser noch, halten Sie mich wirklich für das Scheusal, das in einem Atem einem holden, reinen Mädchen von Liebe sprechen und zwei Mordtaten begehen kann?«
»Geben Sie mir Ihre Hand, Herr Baron«, sagte Rudolph tiefbewegt. »Ja, ich glaube an Ihre Unschuld. Aber das genügt nicht zur Wiederherstellung Ihrer Ehre vor der Welt. Ich will Ihr Verteidiger sein, wenn Sie es wünschen.«
»Dank, tausend Dank«, stammelte der Baron.
»Aber wohl gemerkt, Sie müssen mir Ihr ganzes Herz erschließen! Sagen Sie mir alles, was Sie wissen.«
»Ich habe die ganze Wahrheit bereits gesagt. Vergeblich habe ich mein Gehirn zermartert, um noch irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, welche für oder meinetwegen auch wider mich zeugen könnten. Oh, glauben Sie wirklich, Hildegards Aufforderung gegenüber hätte ich noch lügen können?« ,– Er zog ein zerknittertes, von den darauf gefallenen Tränentropfen fast unleserlich gewordenes Blatt Papier hervor. »Dies schrieb sie mir; gleich einem Talisman habe ich es auf meinem Herzen getragen, es ist ja alles, was sie mir von Hildegard gelassen haben, selbst den Verlobungsring zogen sie mir ab, ehe sie mich in diese Zelle sperrten! Aber freilich, ich verdiene sie nicht mehr, ich bin Ihrer Schwester nimmer würdig.« Die letzten Worte Hugos kamen nur noch gebrochen hervor, dann senkte sich sein Haupt tief auf die Brust herab.
Rudolph eilte auf den Reuevollen zu und ergriff dessen Hände mit kräftigem Druck. Eine Weile herrschte Stillschweigen in der Zelle, dann aber begann der Rechtsanwalt damit, alle Hugo belastenden Verdachtsmomente nochmals mit demselben durchzugehen und sich Notizen darüber zu machen.
»Sie können unbesorgt sein«, meinte er endlich, »eine Anklage gegen Sie wegen des Doppelmordes kann nicht erhoben werden, da Ihr Alibibeweis als gelungen zu betrachten ist. Schlimmer für Sie aber liegt der Todesfall des Trödlers. Sie behaupten in Ihrer Aussage, dass Sie sich nur in der Anzahl der von Schimmel verlangten Tikunakristalle geirrt haben können. Seien Sie offen. Es stieg vielleicht doch der Gedanke in Ihnen auf: Nun könnte ich der Rechnung mit jenem Unhold quitt werden? Sagen Sie es mir, dem Bruder Hildegards!«
Aber der andere schaute ihm freimütig in die Augen. »Wenn ich auch nur vor dem eigenen Herzen Sekunden hindurch ein Mörder gewesen wäre, dann würde ich niemals wieder vor Ihre Schwester hinzutreten gewagt haben!«
Rudolph drückte ihm von neuem die Hand. »Ich glaube Ihnen auch in diesem Falle, wir werden zwar einen harten Stand haben, aber ich denke mein Möglichstes vor den Geschworenen zu tun. Ich werde Sie in den nächsten Tagen wieder besuchen, bis dahin seien Sie guten Mutes.«
»Grüßen Sie Hildegard von mir«, stammelte Hugo beim Abschied.
Die Vorhersage Rudolphs traf fast buchstäblich ein. Der Staatsanwalt erhob nicht einmal Anklage gegen Hugo wegen des in der Engler'schen Villa verübten Doppelmordes. In der Schimmel'schen Angelegenheit aber hatte die Voruntersuchung noch nicht abgeschlossen werden können, sondern zum Zwecke neuer Beweiserhebungen hatte die Staatsanwaltschaft die Akten dem Untersuchungsrichter zurückgegeben. Rudolph stellte den Antrag, zu ermitteln, ob der Trödler wirklich an Krämpfen gelitten habe, und welcher Art dieselben gewesen seien; zugleich hatte er um Vernehmung ärztlicher Autoritäten gebeten, die aussagen sollten, ob unter Umständen die sogenannten Rückenmarksgifte, zu denen auch das Tikunagift gehörte, in geringen Dosen gegen Krämpfe angewendet würden, und mit welchem Erfolge.
Ungleich trüber hatte sich das Los Becks gestaltet. Die von Rudolph eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde war vom Reichsgericht zurückgewiesen worden. Die Entscheidung des betreffenden Senates lautete dahin, dass durch die Nichtvernehmung Hugos sowie des Trödlers ein dem Angeklagten nachteiliger Einfluss nicht ausgeübt worden, dieselbe vielmehr als durchaus überflüssig anzusehen sei. Hugos Täterschaft an den Verbrechen schien nach den Erhebungen ausgeschlossen, der Trödler aber, falls er wirklich der Mittäterschaft schuldig gewesen, würde keinesfalls von seinem in der Voruntersuchung abgelegten eidlichen Zeugnisse abgewichen sein.
Somit war die Verurteilung Becks eine endgültige geworden, und die Staatsanwaltschaft ordnete seine Überführung nach der Landesstrafanstalt Z., einem etwa zwei Eisenbahnstunden entfernten kleinen freundlichen Landstädtchen, an.
Schon tags darauf wurde der Unglückliche nach der Strafanstalt verbracht. Rudolph ließ sich nicht abhalten, ihm das Geleite bis an den Bahnhof zu geben. Als dann Beck mit seinen Transporteuren schon im Eisenbahnwagen saß, sprang Rudolph nochmals auf das Trittbrett und tauschte einen langen Händedruck mit dem Verurteilten aus. »Mut und Hoffnung aufrecht erhalten, lieber Herr Beck«, rief er dem Scheidenden, der trübe und trostlos dareinblickte, noch zu, als der Zug sich schon in Bewegung setzte. Die Antwort Becks verhallte im Winde.
Mit Hedwig stand Rudolph im Briefwechsel, der indessen nur von seiner Seite aus regelmäßig geführt wurde. Notgedrungen hatte er dem jungen Mädchen die wenig erfreulichen Nachrichten mitteilen müssen. Bitter schmerzlich hatte es ihn berührt, der Geliebten die anfänglichen frohen Hoffnungen wieder nehmen zu müssen; indessen Hedwig hatte sich wunderbar gefasst erwiesen. In wenigen Worten hatte sie Rudolph nochmals für alle seine Liebe und Güte gedankt, zugleich aber ihn gebeten, nunmehr sie zu vergessen; sie befände sich in geordneten, ihr Auskommen sichernden Verhältnissen, aber die Kluft zwischen einst und jetzt sei zu weit und tief.
Diese lange befürchtete Absage beugte den jungen Anwalt tief. Wäre nicht die rasch voranschreitende Wiedergenesung Hildegards gewesen, es wäre ihm sterbensweh ums Herz gewesen.
Vater und Sohn verkehrten fast gar nicht miteinander. Der alte Herr hatte sich vollständig zurückgezogen und mit verdoppeltem Eifer sich wieder seinem Fabrikgeschäft zugewendet. So schlich sich das Leben in eintönigem Verlauf bis kurz vor Weihnachten hin, ohne dass sich etwas Nennenswertes ereignet hätte. Hugo, der von seinem Verteidiger nun häufig besucht worden war, befand sich noch immer im Gefängnisse. Die Voruntersuchung gegen ihn war nunmehr endgültig abgeschlossen, und die Staatsanwaltschaft bereitete die Anklageschrift vor. Gleich nach Weihnachten hatte voraussichtlich die Strafkammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden.
Da, am kürzesten Tage des Jahres, als ringsum Berg und Tal in tiefem Schnee eingehüllt lagen, erhielt Rudolph einen Brief aus Z. Er war von Beck und enthielt nur wenige Zeilen. Dessenungeachtet aber machte der Inhalt einen erschütternden Eindruck auf den jungen Anwalt.
Mein teurer Herr Doktor!
Ich habe jenen Mann gesehen, welchem ich damals vor dem Laden des Trödlers Schimmel begegnet bin. Er ist ebenfalls in der hiesigen Strafanstalt, wollte Gott, Sie könnten kommen!
In alter Treue Ihr dankbarer
Karl Beck
Es wurde Rudolph mit einem Male warm und verheißungsreich ums Herz. Nach kurzem Besinnen beschloss er, den Kommissär Grösser ins Vertrauen zu ziehen.
»Wissen Sie was«, sagte dieser, nachdem er den Brief gelesen, »dem Untersuchungsrichter sagen wir vorläufig nichts, der verfährt uns sonst noch die ganze Geschichte. Wir beide wollen einmal die Sache allein in die Hand nehmen. Ich mache mich dienstfrei, und morgen in aller Frühe dampfen wir nach Z. Ist's Ihnen so recht?«
Dankerfüllt drückte Rudolph ihm die Hand.