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IV
Spuren

Wiederholt musste der Untersuchungsrichter den an der Vorsaaltür des ersten Stockwerks angebrachten Klingelzug in Bewegung setzen, bevor ihm geöffnet wurde. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann erschien im Rahmen der Tür. Er wäre ein Hüne an Kraft und Gesundheit zu nennen gewesen, hätten nicht die blauen, ausdrucksvollen Augen tief in den Höhlen gelegen und wäre nicht jener resignierte Ausdruck in seinen Zügen ausgeprägt gewesen, welchen die unbarmherzige Frau Sorge den ihr verfallenen Menschenkindern unnachsichtlich zu verleihen pflegt.

Mit erstaunten Blicken schaute der Öffnende ,– offenbar nach der Aufschrift des kleinen, an der Vorsaaltür angebrachten Metallplättchens der Kunstschlosser und Feinmechaniker Karl Beck selbst ,– bald auf die ihm völlig unbekannten, schwarzgekleideten Herren, bald auf die drei uniformierten Schutzleute.

»Sie verzeihen«, begann er mit wohllautender, etwas unsicher klingender Stimme, »aber sollte hier nicht ein Irrtum vorliegen?«

Indessen Alberti war schon an dem Sprechenden vorüber in den dunklen, schmalen Korridor getreten. »Sie sind der Kunstschlosser Karl Beck?« fragte er in gemessenem Ton.

Der Gefragte bejahte. »Der bin ich freilich«, versetzte er verwundert. »Dürfte ich nach den Gründen Ihres Besuches fragen?«

»Ich bin der Untersuchungsrichter Alberti und genötigt, einige Fragen an Sie zu richten«, begann der Beamte wieder. »Es wird in Ihrem eigenen Interesse liegen, dieselben wahrheitsgetreu zu beantworten.«

Eine leichte Röte stieg in die Wangen des Angeredeten. »Sie setzen mich wirklich in Verlegenheit«, begann er dann in unsicherem Ton. »Ich weiß wirklich nicht, welcher Umstand Sie hierhergeführt haben kann. Indessen bin ich selbstredend bereit, den Vertretern des Gesetzes bedingungslos zu gehorchen. Nur möchte ich Sie bitten, ein wenig Rücksicht obwalten zu lassen; meine Frau ist recht krank ,–«

Alberti neigte leicht den Kopf. »Seien Sie unbesorgt, es ist mir glücklicherweise in diesem Falle möglich, die allgemeinen Gesetze der Menschlichkeit mit meinen Amtspflichten in Einklang zu bringen«, beruhigte er. »Vielleicht führen Sie uns zuerst durch die Wohnung, ich habe alsdann noch einige Fragen an Sie zu stellen.«

Ergebungsvoll neigte der Mechaniker den Kopf und schritt durch den dunklen Korridor nach der Tür voran, öffnete dieselbe und lud durch eine Handbewegung die Kommission zum Eintreten ein.

Es war ein gar einfaches, ja dürftig eingerichtetes Zimmer, das sich den Blicken der Eintretenden darbot. Zwei Fenster und eine Balkontür erhellten den Raum, in welchem sich beim Eintritt der Männer zwei Frauen ,– offenbar Mutter und Tochter ,– befanden. Erstere, eine zarte Gestalt mit bleichen, durchsichtigen Zügen, lag im Bett. Mit erschrecktem Blicke schaute sie auf den in Begleitung des Polizeikommissärs eintretenden Untersuchungsrichter. Den übrigen Beamten hatte dieser Weisung erteilt, im Korridor zurückzubleiben. Alberti verneigte sich mit teilnahmsvoller Freundlichkeit schweigend vor der kranken Frau, ein ebenso artiges Kopfnicken hatte er für das junge, blühend schöne Mädchen, welches, mit einer Handarbeit beschäftigt, neben dem Tische gesessen und sich hastig vom Strohsessel erhoben hatte. Mit Wohlgefallen ruhte der Blick des Beamten auf der schlanken, wohlgeformten Gestalt des jungen Mädchens, aus dessen rosig angehauchten, regelmäßig geformten Zügen eine reine, unberührte Seele sprach, und dessen mäßig hohe, aber energisch gefügte Stirn, dicht von lose hereinfallenden goldblonden Löckchen umrahmt, von ebenso viel Klugheit, wie die veilchenblauen, großen Augen von Herzensgüte zu sprechen schienen.

Ein trüber Schatten glitt über die Stirn des Untersuchungsrichters, als er daran dachte, zu welchem Zweck er diese Wohnung betreten hatte, aber die Erinnerung an seine amtlichen Pflichten gab ihm sofort seine ganze Unbefangenheit zurück. Prüfend schaute er sich im Raum um. Sein Blick fiel auf eine offenstehende Tür, die zu einem Nebenraum führte.

Beck, welcher seinen Blicken gefolgt war, deutete erläuternd mit der Hand nach dem Nebenraum. »Es ist mein Arbeitszimmer«, fügte er dann hinzu. »Es befinden sich in ihm nur mein Arbeitstisch sowie mein Lager.«

Der Untersuchungsrichter war bis an die Türschwelle herangetreten und hatte einen prüfenden Blick durch den nur einfenstrigen, sein Licht vom Hofe empfangenden, kahlen Raum schweifen lassen. Dann trat er zurück und wies auf die Balkontür.

»Der Holzbalkon zieht sich um das ganze Haus?« fragte er den Mechaniker.

»Er bildet die einzige Annehmlichkeit unserer Wohnung«, meinte der schwach lächelnd. »Obwohl mitten in der Stadt wohnend, vermögen wir uns doch zuweilen den Genuss frischer Luft zu verschaffen.«

»Sie gestatten?« sagte Alberti, der an ihm vorübergeschritten war und die Balkontür geöffnet hatte. In Begleitung des Kommissärs betrat er, ohne die Erlaubnis abzuwarten, den Balkon. Sie hatten von demselben eine ziemlich umfassende Aussicht auf die von vielen Geschäften belebte Linkstraße, welche demzufolge auch ein reger Verkehrsweg für die Bewohner des Stadtviertels war. Rasch orientierte sich der Untersuchungsrichter. Der Balkon ging wirklich um alle vier Seiten des Hauses herum. Man konnte letzteres auf ihm ungehindert umschreiten.

Als Alberti mit dem Kommissär die Rückseite des Hauses erreicht hatte, blieb er stehen. Sein Blick fiel auf das etwa mit zwei Meter Abstand sich erhebende Stallgebäude, dessen Dachfläche mit der Balkonhöhe in einer Flucht zu liegen schien. »Einem geübten Turner würde ein Sprung vom Dache des Stallgebäudes nach dem Balkon herüber nicht eben schwer fallen«, flüsterte der Kommissär.

Alberti nickte. »Das Haus ist hochgradig verwittert und baufällig«, meinte er dann, die Wandflächen des Gebäudes betrachtend. »Der Kalk blättert überall herab ,– es ist da schwer, eine Spur aufzufinden.«

Der Kommissär hatte sich inzwischen gebückt und bald das Holz des Balkons, bald das Mauerwerk betrachtet. Er deutete lebhaft auf einige Stellen des letzteren. »Hier sind aber entschieden ganz frische Abschürfungen«, meinte er in flüsterndem Ton. »Hier«, fügte er hinzu, auf eine Stelle deutend, die sich ungefähr in gleicher Höhe mit der Balkonbrüstung befand, »ist ganz deutlich der Abdruck eines Absatzes. Beim Herüberspringen mag der Springende ausgeglitten und mit den Füßen gegen das Mauerwerk geschnellt sein. Hier liegt auch auf dem Balkonboden ganz frischer Mörtel!«

Der Untersuchungsrichter nickte schweigend mit dem Kopf. Dann verfolgte er den Weg um die andere Seite des Hauses, bis er wieder vorn an der Straßenfront angelangt war. In einigen Schritten Entfernung war der Mechaniker den beiden Herren gefolgt. Mit verständnisloser Miene hatte er dem Gebaren der beiden zugeschaut; noch weniger hatte er ihre leise geflüsterten Worte zu verstehen vermocht. Als sich jetzt der Untersuchungsrichter weit über die Brüstung beugte, trat auch er hinzu. »Ist Ihnen etwas aufgefallen?« fragte er in befangen klingendem Ton.

Alberti wandte sich um und maß ihn mit einem strengen Blicke. »Sehen Sie sich einmal das Firmenschild an, das hier unten über dem Torweg an der Hausmauer angebracht ist!« forderte er auf. Dabei deutete er auf ein mäßig großes Eisenschild, dessen verblasste Goldbuchstaben die Inschrift ergaben: »Ludwig Schimmel. Ein- und Verkauf von Kleidungsstücken, Gold- und Silberwaren, Antiquitäten.«

»Das Schild ist ja ganz verbogen!« rief der Mechaniker plötzlich überrascht.

Alberti schaute ihn scharf an. »Ist das erst kürzlich geschehen?« fragte er.

»Ich möchte behaupten, dass es gestern noch nicht gewesen ist«, entgegnete hastig Beck, von neuem nach dem Schild hinunterschauend. »Die zweizöllige Handstange ist ja fast gänzlich heruntergebrochen. Eine schwere Last muss sich vorn an das Schild gehängt haben, es ist gerade, als ob das Gewicht eines menschlichen Körpers die Eisenstange verbogen habe.«

Der Untersuchungsrichter schaute ihn lange und prüfend an. »Ich bewundere Ihre Kombinationsgabe«, meinte er dann trocken, »es wäre indessen auch möglich, dass sich irgendjemand das Vergnügen gemacht hat, das Firmenschild mutwillig zu zerstören, um den Anschein zu erwecken, als ob etwa von diesem Balkon hier in der letztverflossenen Nacht jemand auf die Straße hinabgestiegen sei und dabei sich am Schild festgeklammert habe. Nicht wahr?«

Beck wurde rot im Gesicht. Er fühlte die Ironie, welche in den Worten des Untersuchungsrichters lag. »Ich verstehe Sie wirklich nicht«, versetzte er deshalb, »welcher Mensch sollte sich heute nacht hier herabgelassen haben?«

»Oh, ich glaube auch nicht daran, dass sich überhaupt ein Mensch hier herabgelassen hat«, unterbrach ihn Alberti. »Aber wenn es Ihnen recht ist, kehren wir nach dem Zimmer zurück.«

Das geschah. Immer betretener werdend, folgte der Mechaniker den beiden Herren, deren Gebaren und Reden ihm nachgerade rätselhaft geworden zu sein schien.

»Verweilten Sie heute nacht im Hause?« wandte Alberti sich gleich darauf wieder an den Mechaniker.

»Ich war unausgesetzt im Hause anwesend.«

»Es zog heute nacht ein starkes Gewitter herauf?«

»Jawohl, dasselbe brach etwa um zehn Uhr abends aus«, lautete die Antwort Becks. »Meine Frau ängstigte sich, und ich blieb deshalb auf.«

»Blieben Sie allein auf oder leistete Ihnen vielleicht Ihr Fräulein Tochter Gesellschaft?«

»Ich wollte aufbleiben, aber der Vater gestattete es mir nicht«, nahm das junge Mädchen mit tiefer, wohlklingender Stimme das Wort.

»Lagen Sie einen Teil der Nacht schlaflos?« fragte Alberti, sich direkt an das junge Mädchen wendend.

Dieses wurde glühend rot im Gesicht und schaute verwirrt vor sich nieder. »Ich war ziemlich ermüdet«, versetzte sie dann. »Das Gewitter hatte mich etwas abgespannt. Ich glaube, ich bin sofort eingeschlafen; als ich erwachte, war es bereits lichter Tag.«

»So haben Sie also während der Nacht nichts Ungewöhnliches vernommen?«

Das junge Mädchen sah ihn erstaunt an. »Dass ich nicht wüsste.«

»Und Sie blieben also auf«, wandte Alberti sich wieder an den Mechaniker. »Ihre Gattin konnte auch nicht schlafen?«

»Kurz nach Mitternacht schlief sie glücklicherweise ein«, entgegnete Beck, der noch immer nicht den Sinn der an ihn gestellten Fragen zu begreifen schien.

»Und Sie begaben sich dann auch zu Bett?«

»Nein. Meine Frau schlief sehr unruhig, ich beschloss aufzubleiben, zudem hatte ich noch verschiedene Arbeiten zu erledigen.«

»Während der Nacht?«

»Unsereins muss verdienen, wann und wo man immer kann«, entgegnete der Mechaniker. »Die Krankheit meiner Frau kostet viel Geld, und ich habe darum schon manche Nacht durchgearbeitet.«

»Wie lange setzten Sie Ihre Beschäftigung fort?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen«, gestand er. »Das Gewitter mag mich wohl schläfrig gemacht haben; ich tat alles Mögliche, um mich wach zu erhalten, ich rückte meinen Arbeitstisch direkt an das Fenster ,– Sie sehen, er steht jetzt noch dort ,– ja, ich öffnete das Fenster, in der Hoffnung, die eindringende abgekühlte Luft werde mich wach erhalten, aber schließlich siegte die Ermattung doch über meinen Willen. Als ich erwachte, war es bereits fünf Uhr morgens, und ich beeilte mich nun, hastig zu Bett zu kommen, nachdem ich mich vorher überzeugt hatte, dass meine Frau schlief.«

»Ihnen ist heute nacht also ebenfalls nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Nicht das Geringste.«

»Sie waren gestern Nachmittag bei Ihrem Nachbarn, dem Baron von Engler, beschäftigt?«

»Nur wenige Minuten. Dem Herrn Baron war das Missgeschick passiert, den Kassenschrank zuzuschlagen, während der Schlüssel sich innen im Schranke befand. Da der Schrank aus meiner früheren Fabrik stammte, so war ich mit dem Mechanismus ganz vertraut. Es gelang, ihn in wenigen Minuten zu öffnen.«

»Sie erhielten Bezahlung dafür?«

»Ein bitteres Lächeln umzuckte die Lippen Becks. »Der Herr Baron hielt es für angemessen, mich mit einer halben Mark abzufinden«, sagte er.

»Seit jener Zeit haben Sie die Nachbarvilla nicht wieder betreten?«

»Nein!«

»Sie wissen nicht, was sich seitdem in der Wohnung des Herrn Baron zugetragen hat?«

Befremdet schaute der Mechaniker auf den Beamten, dessen Fragen ihn offenbar peinlich zu berühren schienen. »Was sollte sich denn ereignet haben?« fragte er zögernd.

Alberti schaute ihn durchdringend an. »Sollte Ihnen dies wirklich nicht bekannt sein?« fragte er dann, jedes Wort einzeln scharf betonend. »Nun, so will ich es Ihnen verkünden. Der Herr Baron von Engler und seine Nichte sind heute nacht; von ruchloser Hand freventlich ermordet, und der Kassenschrank ausgeraubt worden.«

»Großer Gott!« schrie der Mechaniker auf, während er erdfahl im Gesicht wurde. »Das ist ja nicht möglich! Nein, nein, das kann nicht sein!« Auch die kranke Frau im Bett stieß einen kurzen Aufschrei äußersten Erschreckens aus. Das junge Mädchen aber trat unwillkürlich einen Schritt näher an den Vater heran. Sie legte, einer inneren Eingebung nachgebend, wie schirmend die Hand auf dessen Arm, während sie zugleich mit weitgeöffneten, angstvoll blickenden Augen auf den Untersuchungsrichter schaute. Eine Sekunde hindurch herrschte tiefes Schweigen im Zimmer.

Der Untersuchungsrichter hielt während dieser Zeit den Blick unausgesetzt auf den Mechaniker gerichtet. Dieser aber schlug die Augen nicht nieder; anscheinend offen und unbefangen erwiderte er den Blick des Beamten.

»Sie befinden sich in misslichen Vermögensverhältnissen?« fragte letzterer dann plötzlich.

Beck wurde glühend rot im Gesicht. »Mein Unglück ist ja stadtbekannt«, versetzte er in bitterem Ton. »Vor wenigen Jahren war ich noch ein reicher Mann. Das Unglück begann plötzlich mit harter Hand auf mir zu lasten, noch mehr waren es indessen falsche Freunde, welchen ich arglos vertraute, die mich um alles brachten. Oh, es ist ein Unglück, arm zu sein!« stöhnte er dann mit einem Male auf, während sein Blick sich mit schmerzlichem Ausdrucke auf seine offenbar im letzten Stadium der Lungenschwindsucht befindliche Frau richteten. »Mein armes Käthchen, in unseren früheren Verhältnissen hätte sie sich im sonnigen Süden erholen können.«

»Kommen wir zur Sache«, unterbrach ihn Alberti. »Sie haben vermutlich Schulden?«

Wieder zuckte es eigentümlich erregt um Becks Lippen. »Ja ,– ich habe Schulden«, versetzte er, das Gesicht abwendend. »Nicht nur die schwere Wucht des Unglücks habe ich zu ertragen, die schlimmsten Sorgen bereiten mir unerbittliche Gläubiger, die in den Tagen des Glücks vielfach erheblich höhere Summen an mir verdient haben, als ich sie ihnen jetzt schulde und, ach, so gern bezahlen möchte!«

Der Untersuchungsrichter war einmal im Zimmer auf und nieder geschritten und dabei zufällig an eine Seitenwand des Schrankes herangetreten. Als er auf dieser ein viereckiges, weißes, mit einem blauen Stempel bedrucktes Blättchen Papier kleben sah, schaute er wieder scharf nach dem Mechaniker. »Dieser Schrank ist ja versiegelt!« sagte er.

Ein Ächzen glitt über die Lippen des Mechanikers. »Gestern erst hatte ich den Besuch des Gerichtsvollziehers.«

»Derselbe versiegelte Ihr letztes Mobiliar?«

»So ist es. Er nahm mir den letzten Rest des Geldes, das ich noch besaß. Nur noch mein Handwerkszeug ließ er mir ,–« Der Mechaniker schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber offenbar übermannte ihn der Schmerz. Er biss die Zähne aufeinander und wandte sich hastig zur Seite. Seine Tochter schlang den Arm um seinen Hals und schaute ihm seelenvoll ins Auge. »Fasse Mut, Vater, es wird wieder besser werden«, flüsterte sie.

Der Untersuchungsrichter hatte sich abgewendet. Er war, wie um mit sich selbst zu Rate zu gehen, im Zimmer auf und nieder geschritten. Dann hatte er sich der ins Nebenzimmer führenden Tür genähert. Er warf einen Blick in die kahle Stube. Gleichgültig hafteten seine Augen dann auf dem niedrigen, festgefügten Tisch, dessen Platte mit zahlreichen Werkzeugen, Hämmern, Feilen, Ahlen und Grabsticheln bedeckt war. »Hier also ist Ihr Arbeitsraum?« wandte er sich nun nach dem Mechaniker zurück, während der Kommissär vollends in das Arbeitszimmer trat und sich dem in diesem aufgestellten Arbeitstische näherte.

Der Mechaniker nickte mit dem Kopf. »Ich musste mich in meiner bescheidenen Wohnung so gut oder schlecht einrichten, wie es eben ging«, versetzte er, ebenfalls an die Tür des Nebenraumes herantretend.

In demselben Augenblick stieß der Kommissär einen kurzen Ausruf der äußersten Überraschung aus. »Bitte, Herr Untersuchungsrichter, treten Sie näher!« rief er dann in hastigem Ton, der seltsam von seiner sonstigen kalten und unerschütterlichen Gelassenheit abstach.

»Nun?« fragte Alberti, unwillkürlich näher tretend. Auch der Mechaniker schaute überrascht auf und folgte dem Untersuchungsrichter auf dem Fuße. Alberti trat neben den Kommissär, welcher vor dem Arbeitstische, dessen Rückseite direkt gegen das Fenster gelehnt war, stand. Überrascht entrang sich auch seinen Lippen ein kurzer Ausruf, als er in den Händen des Kommissärs verschiedene Banknoten anscheinend höheren Wertes wahrnahm.

»Was haben Sie da?« fragte er.

»Bitte, sehen Sie«, entgegnete der Kommissär. »Vier Eintausendmarkscheine!«

Ein heiserer Aufschrei wurde laut, aber die beiden Herren beachteten ihn nicht. Blitzschnell hatte der Kommissär sein Notizbuch hervorgezogen und einen Blick in dasselbe getan. »Überzeugen Sie sich selbst«, versetzte er dann in gedämpftem Ton, auf die Nummern der einzelnen Banknoten weisend, »der letzte Zweifel ist hinfällig geworden. Die Nummern 098,463 bis -72 sind geraubt worden, und hier in meinen Händen befinden sich die Nummern 098,464, -65, -69, -71.«

Der Untersuchungsrichter hatte sich nach dem Mechaniker umgewendet. Dieser stand an allen Gliedern zitternd, mit aschfarbenem Gesicht, ein Bild unfassbaren Staunens und Befremdens da. »Das ist unmöglich!« rief er, nachdem er wiederholt vergeblich zum Sprechen angesetzt hatte. »Ich habe keine zwei Mark im Hause, »geschweige denn solche Banknoten!«

Ein verächtliches Lächeln umspielte die Lippen Albertis, als er sich von dem Mechaniker abwandte; er hielt offenbar die Bestürzung desselben für vollendete Heuchelei, die ihn anwiderte. »Sie müssen sich doch wohl getäuscht haben«, meinte er dann. »Dies hier sind wirklich und wahrhaftig echte Banknoten.«

Der Kommissär zupfte ihn heimlich beim Arme. Mit vielsagender Miene deutete er dann auf einige der über der Tischfläche ausgebreitet liegenden Werkzeuge. »Dasselbe Monogramm K.B. findet sich fast ausnahmslos auf den Griffen aller Instrumente hier«, flüsterte er.

Der Untersuchungsrichter musste an sich halten, seine große Überraschung nicht laut werden zu lassen. »Selbstverständlich belegen Sie alles mit Beschlag«, versetzte er, sich nach dem Mechaniker umwendend. »Hier herrscht nunmehr volle Klarheit.«

»Hier ist noch mehr!« rief der Kommissär, einen blitzenden Gegenstand unter einem Handamboss hervorziehend. »Sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, hier ist das fehlende Stück des Amethysthalsbandes!« Damit überreichte er auch schon dem Untersuchungsrichter ein etwa fußlanges Stück eines mit auserlesen schönen Amethysten besetzten, reich gravierten Goldhalsbandes.

»Wir fanden davon vorhin zwei Glieder«, versetzte Alberti kaum hörbar. Die beiden Beamten tauschten einen Blick des Einverständnisses aus. Dann wandte sich der Untersuchungsrichter plötzlich mit der Kette in der Hand an den Mechaniker und hielt diesem das glitzernde Geschmeide dicht vor Augen. »Wie kommt dieses Schmuckstück hier auf Ihren Arbeitstisch?« fragte er. »Wir fanden vorhin zwei Glieder davon eingezwängt in dem Kassenschrank des ermordeten Barons von Engler.«

Beck war aschfarben im Gesicht geworden. Auf seiner Stirn traten dichte Schweißtropfen hervor. Mit erloschenem Blicke starrte er auf das verhängnisvolle Geschmeide. Dann griff er sich mit der Hand nach der Stirn. »Nein, nein, es ist nur ein Traum. Das kann nicht wahr sein!« murmelte er. »Verzeihen Sie, meine Herren, ich ,–«

»Kein Leugnen mehr!« unterbrach ihn schroff der Untersuchungsrichter, während er zugleich mit der Rechten seine Schulter berührte. »Im Namen des Gesetzes, Karl Beck, verhafte ich Sie wegen des in der letztvergangenen Nacht von Ihnen an dem Baron von Engler und dessen Nichte verübten Doppelraubmordes.«

Ein schriller Schrei entrang sich den Lippen des unglücklichen Mannes. Die Augen quollen ihm weit aus den Höhlen hervor, die Adern traten dick aus seiner Stirn heraus, seine Brust hob und senkte sich krampfhaft. Seine Fäuste ballten sich, und einige Sekunden hatte es den Anschein, als ob er in entfesselter Wut sich auf den Beamten stürzen wolle.

Sein Aufschrei hatte einen doppelten Widerhall gefunden. Ein schwacher, jammernder Laut war von den Lippen der todkranken Frau gedrungen, ein leises, wehes Schluchzen erschütterte jetzt noch die mit über der Brust gefalteten Händen am Türeingange stehende Tochter des verhafteten Mannes. Der Polizeikommissär war schon bei den ersten Worten seines Vorgesetzten rasch durch das Wohnzimmer geeilt und hatte die Ausgangstür desselben aufgerissen. Im nächsten Augenblick schon durcheilte er ,– gefolgt von den bis dahin auf dem Korridor verbliebenen Schutzleuten ,– das letztere wieder und trat mit ihnen in den Arbeitsraum ein. »Karl Beck, Sie sehen, jeder Widerstand ist unnütz. Ergeben Sie sich gutwillig«, ermahnte der Untersuchungsrichter.

»Nein, es ist nicht möglich!« schrie da der Verhaftete jäh auf, »Man kann mir keine solche Untat zutrauen!«

»Verantworten Sie sich vor Gericht!« schnitt ihm der Untersuchungsrichter das Wort ab, »meine Pflicht ist hier zu Ende.« Sekundenlang war es wieder still im Zimmer.

Flehend blickte Beck auf den Beamten. »Haben Sie Mitleid mit mir!« stöhnte er dann auf. »Bei Gott dem Allmächtigen schwöre ich Ihnen, dass ich keine Ahnung von den Banknoten oder dem Geschmeide hatte. Ich weiß nicht, wie sie auf meinen Arbeitstisch gelangt sind ,– ich habe sie vorhin zum ersten Male gesehen.«

Der Untersuchungsrichter zuckte nur frostig mit den Schultern. Die Schutzleute waren an den Unglücklichen herangetreten und hatten ihn an beiden Armen ergriffen. Den Kopf tief auf die Brust herabgesenkt ließ Beck dies willenlos geschehen. Da klang aus dem Nebenzimmer zu seinem Ohr ein leises Weinen, das ihm bis tief ins innerste Herz dringen mochte. Ein schriller, heiserer Schrei entrang sich seinen Lippen. Mit gewaltigem Rucke riß er sich von den Polizisten los. Den sich ihm entgegenstellenden Kommissär stieß er zurück und stürzte aus dem Arbeitsraum.

Die Beamten, voran der Untersuchungsrichter, eilten ihm nach. Als aber Alberti wahrnahm, dass der Mechaniker sein Heil nicht in schneller Flucht gesucht, sondern neben der Bettstatt seiner Frau auf die Knie niedergesunken war, da winkte er den Beamten zu, sich vorläufig zurückzuhalten.

Ein ergreifendes Schauspiel entwickelte sich vor den Augen der Herbeigeeilten. Die arme kranke Frau, zu schwach fast, um sich aufzurichten, hatte mit letzter Kraftanstrengung mit beiden zitternden Händen den Kopf des geliebten Gatten umspannt. »Mein teurer Mann ,– mein guter, guter Karl«, hauchte sie kaum vernehmbar, »wie können die Herren dich verhaften wollen! Du bist unglücklich, aber ein Ehrenmann. Stelle es ihnen vor, dass es ein Irrtum ist ,– oh, verlasse mich nicht ,– bleib' bei mir, Karl!« Ein dumpfes Schluchzen erschütterte den Körper des neben ihr auf den Knien Liegenden.

Die Tochter, welche bisher, bleich wie der Tod, ein Bild starren Schreckens, dagestanden hatte, eilte jetzt an das Bett heran und sank neben ihrem Vater auf die Knie nieder. »Weine nicht, verzweifle nicht, Vater«, hauchte sie ihm zu. »Gott ist gerecht, er kann und wird uns nicht verlassen! Deine Unschuld muss sich herausstellen. Wir glauben an dich, wir wissen, dass du nicht fähig bist, Unrecht zu tun!«

Beck hob den Kopf aus den Kissen empor. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich entsetzlich verändert; jene verzweiflungsvolle Unruhe sprach aus seinen Zügen, die ebensogut einem foltergequälten, unschuldigen Herzen, als dem mahnenden Drucke eines fluchbeladenen bösen Gewissens zu entspringen vermag. Mit zitternder Hand strich er über den Scheitel seines Kindes. »Ich danke dir, Hedwig ,– du hast Recht ,– es ist nur ein Irrtum, es kann nur ein solcher sein!« rief er mit gebrochener Stimme.

Dann wandte er sich an die Polizisten, welche näher traten und ihn ergreifen wollten. »Lassen Sie mich Abschied nehmen von meiner Frau, sie ist so krank und schwach«, murmelte er. »Der plötzliche Schreck kann sie ,–« Er vermochte nicht weiterzusprechen. Der namenlose Jammer, der sein Inneres erbeben machte, brach seine Stimme. Mit beiden Armen umschlang er die zarte, gebrochene Gestalt Frau, auf dessen Angesicht schon der verklärte Abglanz der Ewigkeit ausgebreitet lag. »Käthchen«, murmelte er dann mit inniger Stimme, »Käthchen, halte dich aufrecht, sei ruhig und weine nicht! Dein Leben ist der Inhalt meines sonst wertlosen und verfehlten Daseins, erhalte es mir ,– auf Wiedersehen, Käthchen, auf baldiges Wiedersehen ,– nicht wahr?«

Aber er erhielt keine Antwort von der Kranken. Mit banger Scheu blickte er in deren leichenblass gewordenes Gesicht. Plötzlich nahm er wahr, dass der Kopf seiner Frau schwer nach hinten übersank. Ein Schrei entrang sich seinen Lippen. »Sie ist tot! Ihr habt sie ermordet!« schrie er auf. Dann wandte er sich händeringend wieder nach der Leblosen zurück. »Käthchen«, rief er ihr in die Ohren, »wache auf ,– ich bitte, ich beschwöre dich, wache auf!«

Seine Tochter eilte zum Tische und holte frisches Wasser herbei. Die Beamten traten zurück. Keiner von ihnen wagte, die erschütternde Tragik des vor ihren Augen sich abspielenden Auftrittes zu unterbrechen. Mit fast irrem Mienenausdrucke hatte der Mechaniker sein Ohr auf die Brust seiner Frau gepresst; atemlos lauschte er auf den lange ausbleibenden Herzschlag der Unglücklichen. Dann entrang sich ein erlösender Seufzer seinen Lippen. »Gott sei gepriesen; sie lebt ,– sie lebt!« stöhnte er auf. Er sprang auf und trat zu seiner Tochter. »Beschirme die Mutter ,– dir befehle ich sie an!« stieß er hervor. »Und noch eines, wende dich sofort an deinen Bräutigam Rudolph. Er ist Rechtsanwalt, er soll, er wird mir beistehen.«

In diesem Augenblick legte ihm der Untersuchungsrichter die Hand auf die Schulter. »Ich habe Ihnen hinreichend Zeit gelassen, Abschied zu nehmen von den Ihrigen«, versetzte er ernst und gemessen. »Sie sehen, Ihre Gattin erholt sich zusehends. Es ist besser, Sie schicken sich jetzt gleich in das Unvermeidliche, als dass Sie durch einen erneuten Auftritt das Leben der Kranken ernstlich gefährden.«

»Es ist also wirklich Wahrheit!« stöhnte der Mechaniker auf. »Unter grässlichem Verdacht schleppt man mich von Frau und Kind! ,– Gut denn, ich folge Ihnen, aber ich schwöre, dass ich unschuldig bin!« Er machte einen Schritt gegen die Beamten. Sofort erfassten die Polizisten seine beiden Arme.

Hedwig hatte sich umgewendet. Ein leiser, weher Schrei entrang sich ihren Lippen. Von neuem stürzte sie an die Brust des geliebten Vaters. »Mut! Mut!« hauchte sie, »Gott ist mit dir, er wird auch uns behüten!« Der Unglückliche nickte ihr zu; sprechen konnte er nicht. Dann ließ er sich willenlos von den Schutzleuten fortführen.


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