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Kurts Gesicht sah mehr als ängstlich aus, als die Berliner Untergrundbahn durch die Stollen donnerte. Wie Geisterschrift zitterten die langen Kabel an der Wand. Dann öffnete sich von Zeit zu Zeit der unheimliche Gang, und der Zug hielt an einer Station. Leute stiegen hastig ein und aus und warfen die Türen zu, daß es knallte. Keiner kannte den andern. Weiter rollte der Zug.
Die Jungen hatten während ihres kurzen Aufenthaltes schon allerhand gesehen. Zuletzt waren sie im Zoo gelandet. Wenn es sich nicht um den Abschied von Karl gehandelt hätte, Lehrer Schmidt würde sie kaum bewogen haben, sich vom Affenkäfig zu trennen.
Immer noch rollten die Räder durch den hohlen Schacht. Wieder kam ein U-Bahnhof. »Flughafen« stand in großen Buchstaben an der gegenüberliegenden Wand. Sie waren am Ziel. Der Zug konnte mehrere Stationen vorher kaum noch Fahrgäste fassen. Jetzt stieg alles aus und eilte dem Ausgang zu.
Die Sonne stach in die Augen, als sie wieder an die Oberfläche gelangten. In der Luft summte und brummte es. Zwei Flugzeuge zogen riesige Schleifen über dem weiten Platz, senkten sich langsam nieder, glitten über den Boden und hielten haargenau auf ihrem Stand im Flugbahnhof. Jetzt erst sahen die Jungen, daß der Platz vor dem eigentlichen Flugfeld schwarz von Menschen war.
»Man muß sich erst wieder ans Tageslicht gewöhnen«, meinte Lehrer Schmidt und kniff die Augenlider zusammen. »Gebt Obacht, wir sind hier nicht in unserm gemütlichen Krahneburg!«
Auto auf Auto fuhr an ihnen vorüber. Das Getümmel wurde immer ärger. Bald standen sie eingekeilt unter den dicht gedrängten Menschenmassen. An ein Vorwärtskommen war kaum zu denken.
Zeitungsträger schrien ihre Blätter aus; einer brüllte immer lauter als der andere: »Tempo, die neueste Ausgabe« – »B. Z. am Mittag« – »Der Filmkurier« – »Die Nachtausgabe« – »Tempo, Tempo« – »Der neueste Bildbericht«. Andere hielten ihre Zeitungen in die Höhe und riefen die fettgedruckten Überschriften zehnmal hintereinander über die Fahrbahn: »Letzte Unterredung mit Chaplin« – »Eine Stunde vor der Abfahrt« – »Der Chaplin aus Krahneburg« – »Was Karl Kiepenkerl beim Film erlebte.«
Paul wurde aufmerksam. Dort, auf der ersten Seite, das Bild … »Herr Schmidt, Herr Schmidt – unser Karl!«
»Wo denn?«
»Hier auf dem Bild.«
Schmidt kaufte mehrere Zeitungen. Tatsächlich, dort war ein Bild von Karl Kiepenkerl. Er stand mit Chaplin zusammen vor einem Auto. Der Text unter dem Titel lautete:
»Chaplin mit seinem in Krahneburg entdeckten Schützling. Von links nach rechts: Direktor Robertsen, Charlie Chaplin, Dowlight, der Sekretär Chaplins, Emil Jannings, der zwölfjährige Filmschauspieler Karl Kiepenkerl, Willy Fritsch.«
Die Krahneburger Jungen waren stolz, ihren Kameraden mit solchen Größen auf einem Bilde zu sehen.
»Denk dir mal, Paul«, sagte Emil, »jetzt kennt er schon Emil Jannings und Willy Fritsch! Feine Sache, was?«
»Hierher, Jungen!« forderte Schmidt auf. »Wir müssen versuchen, von der andern Seite aufs Flugfeld zu kommen.«
Sie gingen im Bogen um das Gebäude herum. Doch es war vergebens; auch drüben kamen sie nicht vorwärts. Schmidt wandte sich an einen Schupo. Der zuckte die Achseln. »Bedaure, mein Herr, hier darf ich Sie nicht durchlassen. Der Zugang ist nur für Fluggäste frei. Bitte, gehen Sie zurück!«
Die Jungen waren verzweifelt. »Wir wollen doch Karl noch einmal sehen!« riefen sie.
Schmidt erklärte, daß sie aus Krahneburg kämen und von Chaplin eingeladen seien.
»Tut mir leid, ich kann es nicht erlauben. Sie müßten sich allenfalls an den Aufsichtsbeamten wenden.« Der Schupo zeigte auf einen Uniformierten in der Nähe des ersten Flugzeugs.
Konrad wandte sich zu Franz. »Paß auf, wir kriegen Karl gar nicht mehr zu sehen! Es ist schon siebzehn Uhr dreißig. In einer Viertelstunde steigt er auf, dann ist's vorbei.«
Schmidt war es unterdessen gelungen, bis zu dem wichtigen Mann in blauer Dienstuniform vorzudringen. Er sprach mit ihm. Der Flugbeamte winkte dem Schupo, er solle die Jungen durchlassen. Erlöst atmeten sie auf, als der Weg frei war. »Sie hätten sich einen Ausweis beschaffen müssen; an solchen Tagen geht es ziemlich streng zu«, bemängelte der Flugbeamte. »Gehen Sie mit Ihren Jungen dort hinüber! Da steht die Hamburger Maschine D 1412, mit der Chaplin fliegt.«
So nahe hatten die Jungen noch kein Flugzeug gesehen. Hin und wieder brummte einer der Riesenvögel auch über Krahneburg, aber dann war er nicht viel größer als eine Schwalbe überm Schuppendach.
Koffer wurden in den Rumpf des vordersten Apparates getragen. Ein Beamter prüfte die Fahrkarten und die Pässe. Vor der Tür zur Kabine stand eine Holztreppe, über die die Fahrgäste ins Innere gelangten. Es war eine Junkers-Maschine älteren Typs.
»Wo fliegt denn D 1932 hin?« erkundigte sich Paul.
Schmidt sah sich um. »Siehst du dort die Tafel, da links? ›Nach London, über Amsterdam – Hoek van Holland.‹«
Die Kabinentür wurde geschlossen. Der Pilot nahm noch ein Schriftstück entgegen und kletterte in die Maschine. »D 1932 startbereit!«
Der Aufsichtsbeamte hob einen Stab, ähnlich wie der Mann mit der roten Mütze daheim auf dem Krahneburger Bahnhof.
Rrrrrrr – surrte der Propeller und übertönte alle Geräusche ringsumher. Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Schon nach wenigen Metern fuhr es schneller und hob sich bald vom Boden ab. Das Surren des Propellers wurde schwächer.
In diesem Augenblick – die Jungen sahen dem Londoner Flugzeug nach – erscholl aus den Menschenmassen rings um den Flughafen ein vieltausendstimmiger Ruf.
* * *
In der kleinen Stube in Krahneburg, Alte Webergasse 5, tickte die Weckuhr. Sie stand nicht wie sonst auf dem Küchenschrank, sondern auf dem rohen Holztisch. Karls Mutter sah alle Augenblicke nach ihr hin. Vor einer halben Stunde war sie zum Bäcker Fichtner gerufen worden. Ein telephonischer Anruf aus Berlin war gemeldet.
Karl sprach mit ihr; sie erkannte seine Stimme. Sie wollte ihm viel sagen, aber nur mit Mühe brachte sie ein paar Worte zustande. Dann war die Stimme fort, und lange, lange würde sie ihren Jungen nicht mehr hören. Um 17.45 Uhr – hatte er mitgeteilt – werde das Flugzeug abfliegen, nach Hamburg. Dort warte der Ozeanriese, der Chaplin und ihn nach Neuyork bringen sollte.
Wieder sah die Frau auf das Zifferblatt. Noch zehn Minuten. Wenn nur alles gut ging! Sie öffnete eine Lade und kramte die Schuhe und das Stöckchen heraus, die Karl immer zum Filmen mitgenommen hatte. Beides legte sie auf den Tisch.
Minute auf Minute verstrich. Die Weckuhr tickte. Karls Mutter weinte still vor sich hin, man merkte es kaum. Nur auf den verstaubten Schuhen lagen ein paar Tropfen.
* * *
Zwei Autos hielten vor dem Flughafen. Aus dem ersten stiegen Chaplin, sein Sekretär Dowlight, der amerikanische Botschafter in Berlin und Karl Kiepenkerl.
»Wir haben noch zehn Minuten Zeit«, sagte Dowlight. Er gab einige Aufträge an die Dienstleute und wandte sich dann an Karl: »Wenn deine Kameraden hier sind, lasse ich sie rufen.«
Karl sah sich um. Eines der Flugzeuge verdeckte Schmidt und die Jungen. Karl ging einige Schritte vorwärts. Plötzlich erblickte er Emil hinter dem Rumpf des D 1412. »Dort drüben stehen sie«, rief er erfreut.
Dowlight schickte einen Dienstmann hinüber.
Inzwischen kamen scharenweise die Filmleute angerückt. Von allen Seiten wurde gekurbelt, selbst auf dem Dach des Flughafenhotels standen welche und drehten.
»Chaplin, Chaplin, Chaplin! Auf Wiedersehen in Berlin!« riefen die Tausende hinter der Polizeikette und schwenkten Taschentücher und Hüte.
Karl erinnerte sich des Tages, an dem Chaplin nach Krahneburg gekommen war. Welch kurze Zeit lag dazwischen, und doch war so vieles, vieles anders geworden in diesen drei Tagen!
»Bitte, einen Augenblick!« hörte Karl neben sich.
Aha, das war der Funkreporter, der sein Mikrophon anzubringen versuchte! Diesmal blieb Chaplin jedoch standhaft, er sprach auch nicht einen einzigen Satz, nicht ein Wort.
Da wandte sich der Funkonkel an Karl. »Sag du doch wenigstens ein paar Worte zu den Hörern!«
Sekretär Dowlight nickte Karl ermutigend zu.
»Ich weiß aber nicht, was man da spricht«, wandte Karl ein.
Der amerikanische Botschafter, der sich bisher mit Chaplin unterhalten hatte, hörte diese Worte. Er beugte sich zu dem kleinen Chaplin hinab. »Schau, mein Junge, du fährst jetzt nach Amerika; wie wäre es, wenn du deiner Heimat einen Abschiedsgruß zuriefst?«
Das war ein Gedanke.
Der Funkreporter stellte das Mikrophon auf. »Achtung, Achtung! Sie hören jetzt den jüngsten deutschen Filmschauspieler Karl Kiepenkerl wenige Minuten vor dem Abflug nach Hamburg.« Er winkte Karl näher an das Mikrophon heran. »Darf ich bitten?«
Karl fühlte sein Herz gewaltig klopfen. Jetzt hörten sie ihn in Berlin, in Krahneburg, überall, und so rief er ins Mikrophon: »Lebt recht wohl! Ich fahre gern mit Charlie Chaplin nach Amerika, aber ich freue mich schon aufs Wiedersehen. Lebt wohl!«
Ein Großlautsprecher trompetete die Worte weit über das Flugfeld. Tosende Beifallsrufe waren die Antwort.
Chaplin grüßte nach allen Seiten; auch Karl zog seine neue Mütze.
»Bitte, einen Augenblick stillhalten!« bat einer der Kameramänner, stellte seinen Apparat eine Armlänge vor Karl auf und kurbelte mehrere Meter Großaufnahme herunter. »Sehr fein. Danke!«
Die andern machten es nach. Bald war der große Chaplin, bald der kleine den Kurbelkästen ausgeliefert.
Unterdessen langte Schmidt mit seinen Jungen an. Felix ging zu Karl und umarmte ihn.
»Halt, großartig, noch einmal!« riefen die Operateure. Felix schaute sich verwirrt um.
»Nein, meine Herren«, sagte der Botschafter, der die Szene beobachtet hatte, »das war echt. So etwas kann man nicht nochmal machen, auf Befehl schon gar nicht.«
Der Reihe nach begrüßte Karl die andern Jungen. Er war so froh, nicht allein zu sein unter den vielen Fremden.
Chaplin entfloh dem Kreuzfeuer der Photographen und unterhielt sich mit den Krahneburgern. Sie bedankten sich bei ihm. Herr Schmidt hatte ihnen erst auf der Fahrt erzählt, daß Chaplin es war, der sie nach Berlin eingeladen.
»Auch ich mich selbst freue«, sagte Chaplin; »es ist gewesen sehr schön in eurer Stadt. Ich bitte zu grüßen.«
Kurt, der gerade an einer Riesenbanane kaute, wollte wissen, ob auch er später einmal nach Hollywood kommen könne. »Verbrecher brauchen Sie doch auch«, verteidigte er sich.
Chaplin lachte herzlich über diesen Vorschlag, und der amerikanische Botschafter setzte verschmitzt hinzu: »Haben wir selber genug drüben, kleiner Mann.«
Die Jungen verstanden den Doppelsinn der Worte nicht. Kurt mußte doch mit seinem Plappermaul jedesmal dabei sein! Noch dazu hatte er den Mund voll, das war schon ganz ungehörig. Aber der Botschafter schien nichts übelzunehmen; er unterhielt sich schon wieder mit den Herren, die aus dem zweiten Auto gestiegen waren.
»Bitte, sich zum Einsteigen bereitzuhalten!« rief einer der Aufsichtsbeamten und öffnete die Tür des Flugzeuges D 1412.
Karl sprach mit Paul, Konrad und Felix. »Grüßt mir alle Freunde! Ja, ich schreibe euch, wie es in Hollywood aussieht.«
Die Jungen wollten noch so viel wissen, aber jetzt fiel ihnen nichts mehr ein. Karl ging es ebenso.
Zwei Minuten blieben noch.
Die Leute draußen machten einen Höllenlärm; sie wurden nicht müde, immer wieder zu rufen, zu johlen, zu winken. Der Funkreporter rannte von einer Ecke in die andere, überall dahin, wo eine Berühmtheit aufzutreiben war.
Karl nahm Felix beiseite. Er legte den Arm auf die Schulter seines besten Freundes. »Felix, wenn ihr heute nach Krahneburg zurückkommt, geh doch bald zu meiner Mutter! Erzähle ihr, wie es war!«
Felix versprach es. Karl erschien ihm in diesem Augenblick viel älter, nicht mehr als der kleine Knirps aus der Alten Webergasse, mit dem er Kasperltheater und Räuber und Fänger gespielt hatte. »Ist es nicht gut so? Meine Mutter wird sich jetzt nicht mehr zu plagen brauchen. Sag ihr das!«
Felix kämpfte mit den Tränen. Er biß sich auf die Lippen. Karl sollte es nicht merken. Die andern verloren einen Schulkameraden, einen Gespielen – er verlor den einzigen Freund. Obgleich Karl jünger war als er, hatten sie sich doch recht gut verstanden.
»Aber Felix, was hast du denn?«
»Nichts.«
Felix riß sich zusammen. Es war auch Unsinn, hier, wo alles sich freute, alles jubelte, alles lärmte, Trübsal zu blasen. Hollywood war gewiß weit, aber es lag nicht aus der Welt, und wenn sogar Chaplin nach Europa kommt, dann würde wohl Karl erst recht wieder den Weg zurückfinden.
Sie gaben sich die Hand.
»Leb wohl, Karl!«
»Auf Wiedersehen, Felix!«
Sekretär Dowlight kam. »Also, es wird ernst, Jungen. – Karl, wir müssen einsteigen.«
Karl Kiepenkerl nahm Abschied von Felix, Konrad und Paul, seinem Lehrer und den andern Kameraden.
»Bitte beeilen!« rief der Flugbeamte herüber, der mit der Uhr in der Hand neben dem Flugzeug stand. Dowlight hob Karl in die Kabine und kletterte nach. Die Tür klappte zu.
»D 1412 startbereit!« wurde gemeldet.
Wieder sah der Beamte nach der Uhr und verglich sie mit der großen Normaluhr am Flughafenhotel. Dann hob er den Stab. Die Operateure kurbelten.
»Zurücktreten!« Staub wirbelte auf. Der Propeller knatterte.
»Karl! Leb wohl, Karl!« riefen die Jungen.
D 1412 fuhr an, glitt mit leichten Schwankungen über den Boden und raste davon. Ein wahrer Orkan brauste ihm nach.
»Soeben hat D 1412 mit Chaplin den Flughafen verlassen«, brüllte der Riesenlautsprecher über den Platz. Die andern Worte gingen im Lärm unter. Das Toben der Menge erreichte den Höhepunkt, als sich das Flugzeug in die Luft erhob und einen Halbkreis über dem Flugfeld beschrieb.
Konrad, Paul, Felix und die andern sahen in die Höhe. Sie winkten mit den Mützen. Kurt hatte sogar seine Jacke ausgezogen und schwenkte sie in großem Bogen hin und her.
Immer noch drehten die Operateure mit steil nach oben gerichtetem Objektiv. Sie hockten hinter ihren Apparaten wie Jäger auf der Lauer nach Wild. Dann hörte einer mit der Kurbelei auf, dann der zweite – drei – vier. Es dauerte nicht lange, so zogen sie, den Kasten mit dem Stativ über die Schulter gepackt, los. D 1412 verschwand mehr und mehr im Dunst des heißen Sommernachmittags.
Auch die Jungen wandten sich auf einen Zuruf Schmidts zum Gehen. Nur Felix stand noch lange auf dem Platz, wo er kurz zuvor von Karl Abschied genommen hatte. »Felix, Hallo, Felix!« rief Schmidt.
Ohne sein Gesicht abzuwenden, rief Felix zurück: »Ich sehe es noch.« Fast schmerzten ihn die Augen, denn die Sonne stand noch ziemlich hoch. Aber er verfolgte hartnäckig den Punkt in der Ferne, der immer kleiner und kleiner wurde, bis er am dunstigen Horizont entschwand.
In dem Punkt flog Karl Kiepenkerl, der Junge aus der Krahneburger Vorstadt, einer großen Zukunft entgegen.
* * *