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Zwei Tage waren vergangen. Paul und Konrad hüteten ihr Geheimnis. Es war nicht so leicht, und gar zu gern hätten sie gewußt, was aus der Sache mit dem Einbrecher geworden war. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Mehrmals geriet Konrad in Versuchung, Kommissar Pelke aufzusuchen, aber er ließ es sein. Sein Vater war wegen geschäftlicher Dinge verreist, so konnte er mit keinem darüber sprechen. Paul erging es ähnlich. Die andern wußten nichts. Doch endlich platzte die Bombe. Es gab eine Sensation. Auf der Straße sprach man davon, in den Läden, den Gasthäusern, überall teilte man sich das Ereignis mit.
Paul erfuhr die Neuigkeit im Bäckerladen, als er Semmeln holte. Da standen zwei Frauen. Die eine las im »Krahneburger Anzeiger«, die andere schielte über die Achsel der Nachbarin in die Zeitung. »Das sind ja tolle Kerle!«
»Was gibt's denn?« fragte die Verkäuferin.
»Wissen Sie es noch nicht? Hier.« Die Frau reichte das Blatt über den Ladentisch.
Paul ahnte etwas. Er rannte mit seinen frischen Semmeln zum »Krahneburger Anzeiger« und kaufte sich eine Zeitung. Da konnte er in Ruhe alles lesen. Mit zitternden Händen hielt er das Blatt. Die fetten Buchstaben tanzten vor seinen Augen.
»Einbruch in die Photofabrik aufgeklärt – Bekannter Schwerverbrecher
in Berlin verhaftet – Eine Filmaufnahme führte auf seine Spur.«
Überraschend schnell ist es gelungen, den Einbruch in die Krahneburger Photofabrik aufzuklären. Wie wir damals schon vermuteten, handelt es sich um einen Berliner Geldschrankknacker, der in seinen Kreisen unter dem Namen ›Knackermaxe‹ bekannt ist. Er konnte gestern abend in einem Lokal in Berlin O verhaftet werden. Man fand bei ihm von dem geraubten Geld 500 Mark vor. Die Nummern der Scheine stimmten mit denen der gestohlenen Banknoten überein. Der Verbrecher hat daraufhin die Tat zugegeben. Die Polizei hofft, einen großen Teil des Geldes, das ›Knackermaxe‹ in die Hände fiel, in seinem Schlupfwinkel aufzufinden.«
Mit fliegendem Atem las Paul die Nachricht. Er machte einen Luftsprung und rief: »Sie haben ihn!«
Dann las er weiter:
»… Eigenartig sind die Umstände, die zur Verhaftung dieses langgesuchten Einbrechers führten. An dem Tage, an dem ›Knackermaxe‹ auf dem Fabrikhof das Gelände auskundschaftete, offenbar zur Vorbereitung seiner Tat, wurde er zufällig von einer Gruppe Jungen, die dort Filmaufnahmen machten, gefilmt. Der ersten Vorführung dieses Films in der Privatwohnung von Direktor Kühn wohnte Kriminalkommissar Pelke, Krahneburg, bei, der den Verbrecher auf der Leinwand sofort erkannte und seine Festnahme veranlaßte. Wie wir erfahren, heißt der von den Jungen hergestellte Film ›Chaplin auf der Verbrecherjagd‹. Es wäre interessant, wenn wir Krahneburger ihn einmal öffentlich zu sehen bekämen.«
Damit schloß die Zeitungsmeldung.
Paul traute kaum seinen Augen. Immer wieder las er die Nachricht. Wie aus einem Traum erwachte er, besann sich plötzlich auf seine Semmeln und trug sie im Sturmschritt nach Hause. Sein nächster Gedanke war: sofort zu Konrad, zu Karl, zu Felix. Alle sollten es wissen. Er raste los. Heute erschienen die Straßen aber lang, sie nahmen überhaupt kein Ende. Schließlich war die Fabrik erreicht.
Der Pförtner, der gerade die Zeitung weglegte, trat aus seinem Häuschen, als er Paul kommen sah. »Herzlichen Glückwunsch! Jetzt seid ihr berühmte Leute. Sie suchen wohl den Konrad? Der is man vorhin eben vom Redakteur des ›Krahneburgers‹ abjeholt worden.«
»Schade!«
»Der Besitzer vons Apollo-Kino is jrade nach oben gegangen. Hier steht seine Benzinkiste.«
Paul bemerkte einen wunderbaren Mercedes hinter der Toreinfahrt. In diesem Augenblick kam ein kleiner, freundlicher Herr aus dem Wohnhaus.
»Sie suchten wohl unsern Konrad, Herr Blumenthal?« rief der Pförtner.
Der kleine Herr drehte sich um und kam herüber. »Ja. Er ist nicht da.«
»Aber hier wäre zum Beispiel sein oller Freund Paul. Sprechen Se man mit dem! Der kann Ihnen det ooch sagen.«
Blumenthal machte eine Verbeugung und forderte Paul auf, mit ihm zu fahren.
»Ich muß aber erst mit Konrad sprechen«, wandte Paul ein.
»Sehr einfach, sehr einfach. Wir spritzen rasch nach der Redaktion, dort treffen wir ihn.«
Paul nahm im Auto Platz. Es war ein tadelloser Wagen. Der Motor summte nur leise. Herr Blumenthal paffte eine Zigarre. Paul hustete.
»Oh, stört es?« bedauerte der kleine Herr, öffnete das Fenster und warf die kaum angebrannte Zigarre hinaus. »Ich will nämlich euern Film vorführen«, sagte Blumenthal nach einer Pause. Der Wagen sauste gerade über die Brücke. Wie schnell das ging!
Paul fuhr mit einem Ruck herum. »Sie wollen …?«
»… euern Film vorführen. Warum machst du so ein erstauntes Gesicht?«
»Sie kennen ihn doch gar nicht«, wandte Paul ein.
»Gewiß, aber ich habe mich danach erkundigt, bei Kommissar Pelke; sofort, als ich in der Zeitung die Meldung las. Vielleicht kann ich ihn heute abend einmal sehen, dann führen wir ihn morgen vor.«
Paul hörte wohl nicht recht? Zuerst wird Kurt aus der Schriftleitung hinausgeworfen, jetzt holen sie Konrad feierlichst ab. Dann kommt der Besitzer des größten Lichtspieltheaters der Stadt persönlich und bittet um den Film. War denn die Welt mit einem Schlage umgekippt, daß sich alles so schnell änderte?
Ein Ruck – der Wagen hielt. Paul ging mit Blumenthal über den Platz, wo das Zeitungsgebäude stand. Eine Menge Menschen lasen die ausgehängten Seiten und besprachen das Ereignis.
In der Redaktion wurden sie freundlich empfangen. Herr Poltermann fragte gerade Konrad aus. Er hatte sich auf einem Blatt Papier Aufzeichnungen gemacht. Paul wurde vorgestellt.
Poltermann nahm die Brille ab. »Das habt ihr gut gemacht, Jungen. Ich schreibe für morgen einen Aufsatz über euern Film und seine Entstehung.«
»Er soll morgen schon bei mir vorgeführt werden«, ergänzte Blumenthal.
»Geht denn das?« erwiderte Poltermann. »Er muß doch erst durch die Zensur.«
»Richtig, richtig! Daran dachte ich nicht. Aber ich werde mit dem Film nach Berlin fahren und erledige die Sache persönlich; sonst dauert es zu lange. Dann kann er übermorgen seine Krahneburger Uraufführung in der Öffentlichkeit erleben.«
Konrad konnte es sich nicht verkneifen, Herrn Poltermann zu sticheln. »Sehen Sie, Herr Poltermann, vor einigen Wochen war einer unserer Mitspieler bei Ihnen. Er klagte uns sein Leid, wie Sie ihn angefaucht haben.«
Poltermann strich sich das Kinn. »Das konnte doch kein Mensch wissen«, entschuldigte er sich. »Sie gestatten doch, daß ich heute abend bei der Probeaufführung im Apollotheater zugegen bin?« lenkte er ab. –
Außer Redakteur Poltermann, Blumenthal, Konrad und Paul erschien noch ein Berliner Filmdirektor zu dieser Vorführung. Er nannte sich Doktor Robertsen und war wegen geschäftlicher Abschlüsse zu Blumenthal gereist.
Paul hörte, wie Blumenthal dem Schriftleiter zuflüsterte: »Eine Kanone im Filmbetrieb. Der Mann hat glänzende Verbindungen von Emil Jannings bis zu Charlie Chaplin.«
Zum zweiten Male sahen die beiden Jungen ihren Film. Bei der Szene, wo »Knackermaxe« zu sehen war, erklärte Konrad den Herren kurz den Zusammenhang.
»Gute Augen muß der Kommissar Pelke aber trotzdem gehabt haben«, bemerkte leise der Redakteur.
Oft mußten Poltermann und Blumenthal lachen. Nur Doktor Robertsen saß, ohne ein Wort zu sprechen, in der Loge. Als es wieder hell wurde, sagte er zu Paul, der ihm am nächsten saß: »Das habt ihr Jungen euch allein ausgedacht?« Er schüttelte den Kopf. »Erstaunlich! Wer ist denn der Darsteller des Chaplin? Solch eine Leistung, meine Herren, ist mir noch nicht begegnet, bei einem Jungen von – von … Wie alt wird er sein?«
»Zwölf Jahre, glaube ich«, warf Konrad dazwischen.
Doktor Robertsen schüttelte wieder den Kopf. »Das müßte Chaplin sehen!« sagte er vor sich hin.
»Vielleicht kommen die Herren in mein Privatkontor«, forderte Blumenthal auf. Die andern folgten.
Doktor Robertsen wandte sich an Konrad. »Dein Vater wird doch nichts dagegen haben? Ich will euch nämlich einen Vorschlag machen. Euer Film gefällt mir; er hat gewiß seine Fehler, aber er ist ein Original, eine seltene Arbeit. Ihr überlaßt mir das Negativ, und ich stelle eine Anzahl Kopien her, so wie diese Musterkopie, die ich eben sah.«
Blumenthal glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Der nüchterne Geschäftsmann Robertsen entschloß sich sonst nicht so leicht zu einem Ankauf.
»Die Sache mit dem Einbruchdiebstahl und ihrer Aufklärung durch den Jungenfilm«, fuhr Doktor Robertsen fort, »ist nämlich gestern in den Berliner Abendblättern ausführlich besprochen worden. Da Sensation heute Trumpf ist, wird man sich bald um den Film reißen, denn euer ›Chaplin auf der Verbrecherjagd‹ ist, auch als Film betrachtet, eine Leistung.«
Konrad und Paul saßen wie angewachsen. Blumenthal beugte sich herunter und flüsterte: »Wenn Robertsen euch das sagt, könnt ihr's schon glauben.«
Der Filmdirektor bat Blumenthal, ein paar Zeilen diktieren zu dürfen. Der kleine, dicke Kinobesitzer brachte sich halb um; er sprang auf, lief hinaus und kam nach ein paar Sekunden prustend mit einem jungen Mädchen zurück. »Herr Doktor wird Ihnen diktieren.«
»Darf ich bitten, Fräulein?« forderte Robertsen auf.
Das Mädchen zog Bleistift und Notizblock heraus.
»Nein, bitte gleich in die Maschine! – So, schön! Also schreiben Sie:
Herrn Fabrikdirektor Kühn, Krahneburg
Sehr geehrter Herr!
Gelegentlich einer Geschäftsreise sah ich heute den von Ihrem Sohn und seinen Kameraden hergestellten Film ›Chaplin auf der Verbrecherjagd‹. Er gefällt mir. Ich möchte mich daher mit Ihnen wegen der geldlichen Seite der Angelegenheit in Verbindung setzen. Mit Ihrem Einverständnis übernehme ich den Vertrieb dieses Filmes gegen ein Honorar von 20 000 Mark, das Sie den an der Herstellung des Filmes beteiligten Jungen übergeben wollen. Vertrag folgt. Erbitte Ihre umgehende Antwort.
Mit vorzüglicher Hochachtung.
So, danke«, sagte Doktor Robertsen und unterschrieb den Brief.
Konrad sah Paul an, Paul sah Konrad an. Ähnlich hielten es Blumenthal und Poltermann.
»Zwanzigtausend Mark?« fragte Paul, als hätte er nicht recht verstanden.
Doktor Robertsen lächelte. »Ist es euch zu wenig?«
Paul nahm seine Mütze und rannte zur Tür hinaus. Verdutzt sahen die Herren ihm nach.
»Er wird es Karl sagen. Karl hat den Chaplin gespielt. Er ist ein armer Junge«, erklärte Konrad. »Sie dürfen es nicht übelnehmen, Paul macht es immer so.«
Doktor Robertsen lächelte nicht mehr. »Es müßte noch mehr solche Jungen geben wie euch«, sagte er sehr ernst.