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Krahneburg steht Kopf

Eine Völkerwanderung bewegte sich durch die Straßen. Alles staute sich. Im Bahnhofsviertel konnte eine Stunde vor Eintreffen des Zuges kein Mensch mehr vorwärts kommen. Wie leblose Mauern stand die Masse vor dem Empfangsgebäude. Eine Reihe Taxen war in diese Menschenmauer eingekeilt. Die Chauffeure schimpften. Schupos rannten hin und her, drängten die Massen immer wieder zurück, um wenigstens ein paar Meter für den Fährverkehr frei zu behalten; vergebens, die Leute stießen im nächsten Augenblick wieder vor. Es waren nicht nur Krahneburger; weither aus der Umgebung kamen Tausende von Verehrern des Künstlers, um diesen persönlich zu sehen.

Unter der Bahnhofsuhr war ein Podium errichtet; darauf standen ein Dutzend Filmkameras, auch zwei Tonfilmapparate.

Paul und Konrad beäugten die Riesenkästen mit ihrem komplizierten Zubehör. »Das wäre so etwas für uns!«

»Ich würde mich da nicht herantrauen, Paul. Bleiben wir vorläufig lieber beim stummen Film!«

»Chaplin soll auch nicht begeistert sein vom Tonfilm«, meinte Konrad.

»Kann ich mir denken; seine Stärke ist doch die stumme Mimik.«

Sie waren am Hauptportal angelangt. Eben fuhr das Auto des Oberbürgermeisters vor. Als letzter kletterte Karl Kiepenkerl heraus.

Konrad stieß Paul an. »Karl sieht fabelhaft aus, zum Totlachen. Ich bin neugierig, was noch alles kommt.«

Da der Wagen unmittelbar vor dem Eingang hielt, konnte niemand aus der Menge den Chaplinspieler von Krahneburg sehen. Karl hatte es auch eilig, mit seinen Riesenschuhen den andern nachzukommen.

Auf dem Bahnsteig ließen die ehemaligen Filmdarsteller aus »Chaplin auf der Verbrecherjagd« ein Freudengeheul los, als sie ihren Kollegen in Filmtracht erblickten.

Der Oberbürgermeister, der Landrat, die Stadträte, der Direktor des Stadttheaters mit mehreren Schauspielern, viele andere Persönlichkeiten, darunter auch Redakteur Poltermann und Herr Blumenthal vom Apollokino, warteten. Mit einem früheren Zuge waren eine Menge Berliner Zeitungsleute eingetroffen. Sie standen in der Nähe der Filmleute, die auch bis hierher vorgedrungen waren.

Der Fahrdienstleiter kam, in Galauniform neben ihm der Bahnhofsvorsteher. »Würden sich die Herren vielleicht etwas weiter bemühen, bis zum Zeitungstand? Ich habe mich erkundigt. Charlie Chaplin sitzt ziemlich weit vorn im Zuge.«

Paul und Konrad hielten sich bei den andern Jungen auf.

»Was meint ihr«, fragte Kurt, »kommt Chaplin wie immer?«

»Wie immer? Wie denn?«

»Nun, ich meine, so mit den großen Schuhen und …«

Weiter kam er nicht. Die Jungen lachten aus vollem Halse. »Aber Kurt, die Schuhe hat er doch nur im Film an! Du läufst doch auch nicht als Verbrecher herum wie in deiner Rolle.«

Der Dicke zog sich beleidigt zurück, weil man über ihn gegrinst hatte.

16 Uhr 27. Karl hielt es nicht länger aus. Er zupfte den Oberbürgermeister an seinem schwarzen Rock.

»Na, Herr Chaplin junior, Angst?«

»O nein! Aber – aber wenn mich Herr Chaplin etwas fragt …«

»Dann antwortest du ihm eben.«

Karl wandte ein: »Ich verstehe nicht Amerikanisch.«

»Chaplin versteht etwas Deutsch«, beruhigte ihn der Oberbürgermeister. »Du zerbrichst dir viel zu sehr den Kopf, kleiner Mann.«

Einer der Kameraleute kam mit seinem Apparat auf die Gruppe zu. Er stellte ihn einige Meter vor Karl auf und kurbelte im Licht eines Scheinwerfers, das plötzlich aufblitzte.

Da ließ Karl Kiepenkerl die Sorgen fahren. Er besann sich auf die Rolle, schwang selbstbewußt das Stöckchen und griff nach dem steifen Hut, den er mit einer drolligen Bewegung abnahm und wieder aufsetzte.

Wie die Raketen schossen jetzt auch die andern Operateure heran. »Bitte, bitte, noch einmal!« rief der eine, » Très charmant, très charmant, je vous en prie!« ein anderer, »Ausgezeichnet!« ein dritter. Alle kurbelten sie wie besessen.

»Ein französischer Filmfritze ist auch dabei«, bemerkte Herr Poltermann zu Blumenthal.

Auf die Bitte der Operateure wiederholte Karl die kleine Szene. Sie zogen ihre Hüte wie vor einem großen Schauspieler. »Danke sehr!« – »Vielen Dank!« – » Merci, merci, petit monsieur!«

Die Scheinwerfer erloschen.

16 Uhr 32. Unruhig geht der Bahnhofsvorsteher auf und ab. Hoffentlich klappt es. Bei solchen Empfängen muß einer höllisch aufpassen. Wenn etwas schief geht, wird man am nächsten Tage in der Zeitung angeschwärzt.

16 Uhr 33. Die Jungen treten von einem Bein auf das andere, als ob es kalt wäre. Dabei ist es ein herrlicher Sommernachmittag, und die Sonne brennt auf das hohe Dach der Halle.

In der Ferne taucht der Schnellzug auf. Der Arm des Signals vor dem Bahnhof draußen ist schräg nach oben gerichtet: Einfahrt! Schon hört man das rollende Geräusch der Räder.

Die Filmleute mustern ihre Apparate, probieren neue Einstellungen aus.

16 Uhr 35. Wieder werfen die Scheinwerfer ihr grelles Licht durch die Halle. Der Zug braust donnernd heran, bremst. Funken sprühen unter den Rädern. Er steht. Türen öffnen sich.

Wie mag er aussehen? denkt Karl und sieht sich nach den Filmleuten um.

Sie kurbeln, sind ganz bei der Sache. »Dort, dort!« ruft einer, nimmt die Kamera und rennt ein Stück weiter nach hinten. Wie eine wilde Meute sausen die andern hinterdrein.

Der Oberbürgermeister und seine Begleiter waren inzwischen zusammen mit Karl an einen der langen Wagen herangetreten.

Ein eleganter Herr in hellem Mantel stieg aus.

Hinter ihm sah Karl einen Bekannten, Doktor Robertsen, der die Lage sofort überblickte, denn er kannte den Krahneburger Oberbürgermeister von einigen Sitzungen in Berlin her.

Doktor Robertsen stellte Charlie Chaplin dem Oberbürgermeister vor, der darauf den Gast mit den andern Herren bekannt machte.

Das also war Charlie Chaplin! Ohne Bärtchen, ohne steifen Hut, wie ein anderer Mensch. An den Schläfen war das Haar leicht ergraut. Die Augen sahen sich fröhlich im Kreise der Fremden um.

Nun trat der Oberbürgermeister zur Seite und nahm Karl bei der Hand.

Charlie Chaplin, der den Leuten im Zug zuwinkte – es gab natürlich ein Riesenhallo auf dem Bahnsteig – hatte Karl noch nicht gesehen. Er wandte sich um und stutzte. Dann schlug er die Hände ineinander. »Aber das ist prächtik, prächtik. Mein lieber, kleiner Boy!« Er faßte Karl unter die Schultern und hob ihn in die Höhe.

Brausender Jubel erfüllte den Bahnsteig. Eben setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr langsam hinaus. Die Operateure drehten wie besessen.

»Euer Film hat gemacht einen großen Eindruck auf mich«, sagte Chaplin und lud Karl wieder ab. »Ich habe mich über dich viel gefreut, my boy.«

Die Zeitungsleute umstanden den kleinen und den großen Chaplin wie ein Bienenschwarm. Jedes Wort wurde gewissenhaft aufgeschrieben. Photographen hielten alle zehn Sekunden ihre Kästen hoch über die Köpfe der Vorstehenden und schnappten ihre Aufnahmen herunter.

Endlich konnte man weitergehen, durch die Unterführung und durch die Empfangshalle auf den Vorplatz.

Als Chaplin neben Karl Kiepenkerl aus der Tür trat, setzte ein ohrenbetäubendes Willkommengeschrei ein. Die Leute gebärdeten sich wie unsinnig, warfen ihre Hüte in die Luft und fuchtelten mit den Händen, als ob sie nicht wüßten, wohin damit. »Hoch, hoch Charlie Chaplin! Hoch der große, hoch der kleine Charlie! Es lebe Chaplin! Hoch, hoch!«

Es war schwer, in dem ungeheuren Lärm etwas zu verstehen. Vom Podium vor dem Haupteingang sprang ein Mann und stellte ein Mikrophon vor Chaplin auf. »Für die Berliner Funkstunde«, rief er.

Chaplin winkte heftig ab.

»Weshalb will er denn nicht ein paar Worte sprechen?« fragte der Oberbürgermeister den Dr. Robertsen.

»Er tut es nirgends. Auch neulich in London nicht, wo man ihm ein ungeheures Honorar geboten hatte.«

Der Radiomann ließ nicht locker. »Es soll gar keine Rede sein, nur ein paar Worte.«

Chaplin winkte erneut ab und wollte weitergehen.

Da faßte sich Karl ein Herz. »Herr Chaplin, die vielen Jungen, die Sie nicht sehen, könnten Sie dann wenigstens hören«, bat er.

Chaplin blieb stehen.

Der Radiomann steckte sein liebenswürdigstes Lächeln auf. »Einen Satz nur!«

»Gut, einen Satz! Bringen Sie her!«

Das Mikrophon wurde aufgestellt.

»Bitte, es ist eingeschaltet. – Achtung! Achtung! Soeben ist Charlie Chaplin in Krahneburg eingetroffen. Der Bahnhofsplatz steht voll Menschen. Chaplin hat mir einen Satz ins Mikrophon versprochen, ich darf ihn nicht warten lassen. Achtung!«

Chaplin trat an die Apparatur. »Sie werden sein neugierig, weshalb ich bin in Krahneburg; aber mein Besuch gilt dem kleinen Chaplin von Krahneburg, der neben mir steht, und den viele von Ihnen schon im Film haben gesehen. Good bye!«

Tosender Beifall erscholl. Der Jubel kannte keine Grenzen mehr. Die Massen drängten vor. Vergebens suchten die Schupos standzuhalten. An einer Stelle war die Kette schon durchbrochen. Einige kletterten auf das Podium, wo die Kameraleute drehten. Sie wurden aber mehr oder weniger sanft hinuntergeschickt.

Chaplin, der Oberbürgermeister, Dr. Robertsen und Karl stiegen ins Auto. Es war die höchste Zeit.

Der Wagen mußte ohnehin langsam fahren. Wohin Karl Kiepenkerl auch sah, überall standen winkende Menschen. Chaplin zog alle Augenblicke den Hut, verbeugte sich, winkte mit beiden Händen zurück. Mehrere Straßen waren schon durchfahren, aber immer noch winkte auf den Bürgersteigen eine begeisterte Menge.

Jetzt begriff Karl erst ganz, was es heißt, berühmt zu sein, was unter Umständen gar nicht so einfach ist.

So erging es Chaplin nun jeden Tag. Vielleicht war die Arbeit im Filmatelier nicht halb so schwer wie die Erholungstage in Europa.

»Ich möchte Sie bitten, Herr Chaplin, sich bei Ihrem Aufenthalt in Krahneburg als Gast der Stadt zu betrachten«, sagte der Oberbürgermeister, als der Wagen vor dem Hotel hielt.

Chaplin dankte. »Wir sehen uns noch, my boy«, sagte er zu Karl und reichte ihm beide Hände hin. Mit Dr. Robertsen und dem Oberbürgermeister verschwand er hinter der großen Drehtür des Hotels.

Von draußen hörte Karl Hochrufe. Der Chauffeur öffnete das vordere Fenster. »Ich soll dich nach Hause fahren, nicht wahr?«

»Ja, bitte.«


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