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Nun gab es eine Weile wenig Zeitvertreib, denn so schnell kam das Geld für den neuen Fußball nicht zusammen. Im Gegenteil, als Konrad Kühn seinem Vater von der Sache erzählte und ein paar Mark herauszuholen hoffte, sagte der nur, sie sollten ein andermal besser Obacht geben.
Einige Wochen vergingen. Es war Sommer geworden, und der neue Fußball lag noch immer im Schaufenster eines Ledergeschäfts. Mindestens zehnmal hatte der Verkäufer schon Auskunft gegeben, was er koste, aber es blieb bei der Auskunft. Da bekam Paul eines Tages einen Brief von Konrad Kühn:
Lieber Paul Poller!
Wir laden Euch alle ein, am Mittwochnachmittag zu uns auf die Fabrikwiese zu kommen. Große Überraschung!
Es grüßt Euch
Konrad Kühn
und die Nordländer.
»Der Fußball ist da!« jubelten die Südleute.
»Es sind doch anständige Kerle!« meinte Emil, der damals zuerst die Friedensverhandlungen angebahnt hatte. »Ich wußte es schon, daß sie uns nicht bemogeln.«
Viel zu lange dauerte es, ehe der Mittwoch herankam. Sie zählten die Stunden bis zum Nachmittag. Punkt drei Uhr zog man vereint los. Ein herrlicher Junitag, und die Sonne schien geradeswegs in die ohnehin schon verklärten Gesichter. Manche stritten sich; gelbes Leder wäre besser als braunes. Der kleine, dicke Kurt Würstel meinte, es komme ganz auf das Leder an, nicht auf die Farbe. Sein Vater sei Schuster, und daher wisse er es genau.
Auf der Fabrikwiese wurden die Südleute mit großem Geschrei erwartet. Emil, immer vorneweg, fragte schon aus beträchtlicher Entfernung: »Wo habt ihr ihn?«
Keine Antwort – tiefes Schweigen.
Die Südleute waren näher gekommen. Sie hatten geglaubt, man würde ihnen den schönen neuen Fußball entgegenwerfen. Da nichts von alledem geschah, flog die ursprüngliche Freude aus den Gesichtern wie Spatzen vom Dach, wenn's knallt.
Die Jungen begrüßten sich. Emil fragte nochmals, wo der neue Fußball sei.
»Welcher Fußball? Es hat doch kein Mensch etwas von einem neuen Fußball gefaselt!«
Am liebsten wären die Südleute wieder umgekehrt. So eine Enttäuschung! Da freut man sich auf die Überraschung, und nun?
»Ja, wo bleibt denn die Überraschung?« fragte Paul. Der dicke Kurt steckte sein Gesicht frech durch Pauls Arm, den dieser in die Hüfte gestemmt hatte. Kurt reichte nämlich Paul knapp bis zur Schulter.
Konrad Kühn ging ein paar Schritte auf Paul zu. »Ihr möchtet wohl am liebsten wieder Krach machen, weil wir geschwindelt haben, hm? Nun, wir haben gar nicht geschwindelt, sondern tatsächlich eine große Überraschung für euch. Sie steckt dort in dem Kasten.« Er zeigte mit der Hand auf ein kistenähnliches Gestell, das etwas abseits auf der Wiese stand. Daneben lag noch ein zweites, dessen Umrisse aber wegen der Entfernung nur unklar zu erkennen waren.
Nun schienen die Südleute zum Platzen neugierig.
Aber Konrad Kühn ließ sie zappeln. »Raten, was es ist!« rief er.
Sie rätselten sich halbtot, die armen Südleute, und kamen auf die dümmsten Gedanken. Vergebens. Die letzten Weisheiten wurden ausgekramt:
»Kasperltheater?«
»Nee.«
»Riesenbaukasten?«
»Nee, schon lange nicht.«
»Flohzirkus?«
»Mensch, so viel Flöhe gibt's gar nicht, wie in der Kiste Platz haben.«
»Nun sagt es schon! Ihr seht, wir erraten es nicht«, rief Paul ungeduldig, und Emil tat so, als ob er gähne.
Konrad Kühn sah sich im Kreise um. Die Nordländer grienten, denn für sie war es ja kein Geheimnis mehr.
»Es ist – wißt ihr's etwa?«
»Los, sag's doch endlich!« schrie es von allen Seiten, auch bei den Nordländern.
»Ein Filmapparat.«
»Was?«
»Ein Filmapparat«, sagte Konrad einfach. Er gab sich redlich Mühe, die Sache als nicht so wichtig hinzustellen, obgleich er fest überzeugt war, daß seine Mitteilung wie eine Bombe einschlagen mußte.
»Ein richtiger Filmapparat?« fragte Kurt der Dicke. »So zum Kinospielen?«
»Nein, nicht zum Vorführen, sondern zum Aufnehmen.«
Nun war alles sprachlos.
Auch Paul Poller schüttelte den Kopf. »Der kostet aber eine Stange Geld!« sagte er, als sich die Horde in Bewegung setzte, um das Wunderding näher zu besehen.
Konrad öffnete den Kasten und zog an einem Ledergriff, an dem der Apparat getragen werden konnte. Unterdessen stellte einer seiner Freunde das Dreibein auf, das bis dahin friedlich neben dem Kasten gelegen hatte. Auf dem Gestell war eine runde Scheibe angebracht; dort schraubte Konrad sachkundig den Aufnahmeapparat fest.
»Damit ihr's glaubt: Gestern hatte ich Geburtstag. Mein Vater weiß, daß ich gern photographiere, und weil ich neulich in einem Jugendwettbewerb den zweiten Preis bekam, schenkte er mir den Filmapparat, allerdings unter der Bedingung, mit den Filmen sparsam umzugehen.« Unterdessen kramte er in einem Seitenfach des großen Kastens herum und brachte nach und nach zehn Blechdosen zum Vorschein. Einige gab er den Südleuten. »Aber nicht aufmachen! Sonst ist der Film futsch.«
Paul nahm eine von den Blechdosen. »30 Meter Agfa-Negativfilm« stand darauf.
»Und nun paßt mal auf!« erklärte Konrad weiter. Er öffnete die Seitenwand des Aufnahmeapparates. Man sah Zahnräder hinter einer mit Zacken versehenen Trommel. Über die Trommel war das gelbliche Filmband gezogen, das aus einem oben befindlichen schwarzen Kasten kam, über die Trommel lief und unten wieder in einem gleich großen Kasten verschwand. »Hier oben ist der unbelichtete Film; er läuft am Objektiv vorbei, wird belichtet und rollt sich unten wieder auf. Später wird er dann entwickelt und kopiert.«
Konrad drehte an der Kurbel. Die Jungen schauten gespannt zu. Langsam schien jetzt das Geheimnis klar zu werden, besser als durch Erklärungen.
»Wirklich fabelhaft!« rief Emil.
Auch Paul konnte sich erst allmählich fassen. Alle Wetter, mit der Kiste ließ sich schon etwas beginnen! Und zehn Dosen waren dabei! In jeder Dose dreißig Meter Film, das gab dreihundert Meter, also einen ganzen Akt. Paul war oft bei seinem älteren Freunde Flims gewesen, der dem Vorführer im Apollokino half. Er wußte so einigermaßen Bescheid. Aber dieser Aufnahmeapparat, das war doch noch eine ganz andere Sache. Da konnte Konrad – gar nicht auszudenken – einen Film drehen, der später im Kino … Paul wurde bei diesem Gedanken abwechselnd blaß und rot.
Emil, Kurt und den andern erging es ähnlich. Sie sahen sich schon in Überlebensgroße auf den Plakatsäulen. Detektiv Paul Poller und sein Gehilfe – müßte darunter geschrieben stehen.
Konrad ließ seinen Kameraden Zeit, bis sie sich von ihrem Staunen erholt hatten. Dann rückte er mit der zweiten Neuigkeit heraus. »Einen Fußball habe ich zwar nicht bekommen, dafür aber den Filmkasten. Ich glaube, der macht noch mehr Spaß. Weil wir euch nun den Fußball immer noch schuldig sind, so machen wir alle zusammen einen Film.«
»Wieso einen Film?« fragte Emil.
Konrad schmunzelte. »Einen regelrechten Film fürs Kino. Bedingung: es dürfen nur Jungen mitspielen. Habt ihr verstanden?«
»Noch nicht so ganz«, meinte Paul. »Einen Film? Ja, stellt ihr euch das so einfach vor? Das geht doch nicht von heute auf morgen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Konrad, der auf eine Entgegnung gefaßt war, »aber wer sagt denn, daß unser Film morgen fertig sein soll? Ich habe mir alles überlegt. Zunächst muß eine Geschichte geschrieben werden.«
»Dazu brauchen wir doch einen Dichter! Ich habe zwar schon gedichtet, aber einen Film dichten, das ist zu schwer; da werden wir wohl einen richtigen Dichter haben müssen.« Der das sagte, war ein kleiner, schmächtiger Junge. Er hieß Karl Kiepenkerl und wohnte irgendwo in einem Hinterhause der Nordstadt. Konrad Kühn kannte ihn schon lange und war überrascht, daß der Knirps auf einmal den Mut fand, das Wort zu ergreifen. Sonst war Karl sehr schüchtern. Nur wenn die Schule Theater spielte, um die Weihnachtszeit herum, dann sah man ihn auf der Bühne. Allerdings machte er dort seine Sache über die Maßen gut. Daran erinnerte sich Konrad in diesem Augenblick.
»Natürlich, der Karl hat recht«, pflichteten einige von den Nordländern bei. »Wir brauchen einen Dichter. Schreiben wir doch an einen, er soll uns für unsern Film eine Geschichte dichten!«
»Wie wäre es mit Nikodemus Ninkepinke? Der schreibt oft Gedichte für den ›Krahneburger Anzeiger‹.«
»Oder Gerhart Hauptmann; der hat ›Hanneles Himmelfahrt‹ gedichtet, das wir jetzt in der Schule lesen«, sagte Emil, stolz auf seine jüngsten Kenntnisse.
Konrad schüttelte den Kopf. »Nein, erstens dauert das viel zu lange; zweitens verlangen die richtigen Dichter Geld, und Geld haben wir nicht.«
»Sehr richtig, sonst hätten wir schon unsern Fußball«, versetzte kichernd Kurt der Dicke.
»Sehr richtig«, gab Konrad zurück, »aber ich denke, die Filmsache macht mehr Freude. Fußballspielen können wir dann noch alle Tage. Ich schlage vor, einer von uns schreibt jetzt sofort eine Geschichte, denn schließlich wollen wir den Film ganz allein machen, ohne Ninkepinke und ohne Hauptmann.«
Die Jungen schwiegen. Dumme Sache! So eine Geschichte will überlegt sein, das ist gar nicht so leicht.
Schließlich meinte Paul: »Wie wäre es, wenn jeder eine schreibt, jeder von uns? Wir lesen sie einander vor, und die am besten gefällt, nehmen wir dann.«
Der Vorschlag wurde gutgeheißen. Alle waren begeistert. Emil wollte sogar die ganze erste Nacht durchschreiben. –
* * *
Drei Tage später kamen sie wieder zusammen. Es regnete. Konrad Kühn brachte deshalb seine Mitarbeiter, wie er sie nannte, in sein Zimmer. Dort saßen die Filmhelden und hatten rote Köpfe, denn jetzt mußte die Entscheidung fallen. Konrads Vater war feierlich zu der wichtigen Sitzung gebeten worden. Er sollte, falls keine Einigung erzielt würde, sein Urteil darüber abgeben, welche Geschichte am besten sei.
Herr Kühn schien ein gemütlicher Mann zu sein, denn das Vorhaben interessierte ihn so sehr, daß er sich für einige Zeit von der Fabrik losriß, um an der Regiesitzung teilzunehmen.
»Also wer hat geschrieben?« fragte Paul.
Es meldeten sich acht Jungen.
Nun ging's ans Vorlesen. Da gab es viel Gelächter, denn manche hatten wunderbare Geschichten zusammengedichtet mit Luftschiffen und Raketenflugzeugen. Einer beschrieb sogar eine Mondexpedition. Konrad meinte, so ginge es natürlich nicht. Wo sollten Raketenflugzeuge hergenommen werden? Wie wollte man auf den Mond kommen? »Ihr solltet bedenken, und ich habe es auch neulich gesagt, als ich den Apparat erklärte: wir müssen uns darauf beschränken, unsere Aufnahmen im Freien zu machen, denn zu Aufnahmen im Zimmer, überhaupt in bedeckten Räumen, brauchen wir künstliches Licht. Solche Anlagen sind aber sehr teuer und umständlich.«
Nun fiel verschiedenen Dichtern das Herz in die Hosen. Geschichten schreiben war also zunächst einmal leichter, als sie nachher zu verfilmen.
Es blieben nur noch zwei Geschichten übrig. Eine davon hatte Konrad geschrieben; sie hieß »Das Erbe Harry Piels«. Die andere zog plötzlich Karl Kiepenkerl aus der Hosentasche.
»Ruhe! Vorlesen!«
Karl ordnete die Blätter und fing an zu lesen. Zuerst tuschelten die Jungen über dies und jenes, was sie an den andern Manuskripten auszusetzen hatten, aber bald verstummten sie und hörten aufmerksam, zuletzt sogar gespannt zu. Hin und wieder vernahm man ein »Alle Wetter!« oder »Fabelhaft!« Sogar Herr Kühn, der eine dicke Zigarre paffte, vergaß, die Asche abzutupfen, und sagte am Schluß: »Großartig!«
»Und wie heißt dein Filmmanuskript?« fragte Konrad.
Karl Kiepenkerl schwitzte vor Aufregung, als er sagte: »Chaplin auf der Verbrecherjagd.«
»Das ist ein wunderbarer Titel für unsern Film!« rief Konrad nicht minder aufgeregt. »Da müssen wir eine Bombenreklame machen. Karl, das hast du fein gedeichselt! Den Chaplin mußt du selbst spielen. – Ja, natürlich, du bist doch wie geschaffen dazu. Rektor Bendler hat erst Weihnachten zum Schulrat gesagt: ›Mein bester Theaterspieler.‹ Also, du spielst den Chaplin, verstanden!«
Sämtliche Jungen waren einverstanden, sogar Kurt der Dicke, der anfangs verschnupft gewesen war, weil alle über seine Schlaraffenlandgeschichte gelacht hatten.
»Na, Kinder, da braucht ihr mich wohl nicht mehr?« sagte Herr Kühn und erhob sich. »Also viel Glück oder vielmehr Hals- und Beinbruch!, wie man das bei Schauspielern nennt. Geht aber sparsam mit dem Filmband um! Nachbewilligungen gibt es nicht. Mit dreihundert Meter müßt ihr auskommen.«
»Wir kommen auch aus. Wir proben vorher, dann muß jede Szene sitzen«, rief Konrad ihm nach.
Als Herr Kühn die Dichterstube verlassen hatte, ging ein Höllenlärm los. Karl Kiepenkerl mußte noch einmal sein Drehbuch vorlesen, Rollen wurden verteilt, Aufnahmetage festgelegt. Konrad las aus einem Buch »Die Kunst des Schminkens« vor und gab anschließend bekannt, daß jeder für den Film so viel Reklame machen müsse, wie er nur könne, denn Reklame sei beim Film mit die Hauptsache.
Dann trennten sich die Jungen.
Was gilt die Wette, daß jeder in dieser Nacht von Charlie Chaplin geträumt hat? Nur Kurt nicht, der fraß sich im Filmschlaraffenland durch einen Puddingberg, der ihm Ersatz bieten sollte für seine abgelehnte Dichtung.