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Was da wohl noch wird?

Acht Tage schon lief der Film vor stets ausverkauftem Hause. Herr Blumenthal wurde mit dem Geldzählen nicht fertig. Es war ein ganz großer Erfolg.

Der Zeitungskritiker hatte unter anderm geschrieben:

 

»… mag bei strengerer Kritik auch dies oder jenes nicht so ganz gelungen sein, Tatsache ist, daß dieser Film (von Jungen hergestellt!) eine Fülle köstlichen Humors enthält, den man bei manchen andern Filmen vermißt. Der kleine Karl Kiepenkerl als Charlie Chaplin verblüfft durch sein außerordentliches Talent für groteske Darstellung; vielleicht hat er eine Zukunft …«

 

Auch die Arbeit des Regisseurs und des Kameramanns wurde gelobt. Herr Kühn brachte eines Abends Besprechungen aus den Berliner Zeitungen mit; sie waren kürzer als der Bericht des »Krahneburger Anzeigers«, aber auch hier hatten die Kritiker die Mühe und das Geschick der Jungen rühmend hervorgehoben. Für Karl Kiepenkerl aber fanden sie begeisterte Worte. Einer nannte ihn einen zweiten Jackie Coogan, dessen Talent für die Filmgroteske nicht zu verkennen sei.

Paul nahm die Zeitungsausschnitte mit zu Karl. Er traf ihn drinnen in der Stube. Seine Mutter lag krank im Bett, wie so oft. Karl wusch das Geschirr ab. Er freute sich über Pauls Besuch und las die Zeitungsabschnitte. Paul teilte ihm noch mit, daß Doktor Robertsen die zwanzigtausend Mark geschickt habe. Herr Kühn werde sie bald verteilen. Wahrscheinlich bekomme Karl viertausend Mark, Konrad und er selbst auch je viertausend, das seien zusammen zwölftausend Mark. Die beiden Verbrecherdarsteller Kurt und Franz sollten je tausend Mark erhalten, das andere würde unter die übrigen Mitwirkenden, die nicht so viel zu tun gehabt hatten, verteilt. Ob er zufrieden sei?

»Viertausend Mark, Mutter, viertausend Mark!«

»Ist denn das wahr, Paul?« fragte Frau Kiepenkerl. »Ich kann es mir gar nicht denken.«

Paul nickte. »Stimmt aber ganz genau. Ich war doch selber mit dabei, als Doktor Robertsen den Brief an Konrads Vater diktierte.«

»Wer ist denn Doktor Robertsen?« begehrte Karl zu wissen.

»Genau weiß ich es auch nicht«, entgegnete Paul. »Herr Blumenthal erzählte, er sei in Berlin eine große Kanone beim Film, Direktor oder Generaldirektor. Ich glaube, er kennt sogar Charlie Chaplin.«

»Wahrhaftig?« fragte Karl interessiert. »Charlie Chaplin kennt er?«

»Ja. Chaplin ist doch jetzt in Berlin. Übrigens, was habe ich euch neulich gesagt? Die Berliner Jungen würden auch nicht viel von ihm zu sehen kriegen. Ich habe recht gehabt.«

»Wieso? Hast du etwas gehört?«

»Lies mal im ›Tempo‹! Alles abgesperrt, schon stundenlang vorher. Als er ankam, haben sie ihn gleich in ein Auto gesteckt und ins Hotel gefahren. Es muß fürchterlich gewesen sein. So geht es ihm nun in jeder Stadt, ganz gleich, wohin er kommt.«

»Ob das angenehm ist?« meinte Karl zweifelnd.

»Bestimmt nicht. Berühmt sein ist zwar schön, aber so berühmt wie Chaplin, das ist schon wieder nicht mehr schön. Stelle dir vor, wenn er einmal in den Zoo gehen will oder ins Theater oder ein Glas Bier trinken! Das kann er gar nicht; da müßte er immer erst über tausend Menschen springen, die ihm den Weg versperren.«

Karl sann nach. Im Grunde genommen hatte Paul recht. Aber an eins dachte der Freund nicht: Chaplin hatte keine Sorgen, kannte keine Not. Es fiel ihm dabei ein, daß Konrad damals, während sie noch filmten, von Chaplin erzählt hatte, er sei im Londoner Arbeiterviertel aufgewachsen, als genau so ein armer Junge wie er, Karl Kiepenkerl. Nun war er ein berühmter Mann, der große Chaplin, hatte viele tausend Mark oder Dollar, wie sie es in Amerika nennen.

Das Schicksal Chaplins ging Karl nicht aus dem Kopf. Noch spät in der Nacht mußte er daran denken. Er träumte allerhand zusammen, von Herrn Blumenthal, der sich fortwährend verbeugte, von den Jungen, von der Mutter. Alles ging bunt durcheinander. Mit schwerem Kopf wachte er am andern Morgen auf. Er wußte nicht recht, hatte er alles geträumt oder war es Wirklichkeit? Erst nach ein paar Minuten erinnerte er sich an die tatsächlichen Begebenheiten und schied sie von den Traumbildern.

In der Schule fiel es ihm an diesem Morgen sehr schwer, aufzupassen. Herr Schmidt, der Klassenlehrer, hatte überhaupt seine liebe Mühe und Not mit den Jungen. Am Tage zuvor war nämlich in einer Jugendvorstellung »Chaplin auf der Verbrecherjagd« gezeigt worden. Jetzt sprach die ganze Schule nur noch von dem Film. Besonders Karl, Paul und Konrad galten in Krahneburg als große Künstler. Ihre Namen hatten in der Zeitung gestanden. Wenn Karl durch die Straßen ging, tuschelte häufig der eine oder andere: »Dort drüben kommt Charlie Chaplin, dort, der Kleine mit den geflickten Hosen.«

Während der vorletzten Stunde trat Rektor Bendler in die Klasse. Er hielt eine Zeitung in der Hand und sagte zu Lehrer Schmidt: »Herr Kollege, Sie unterrichten sehr berühmte Leute, wissen Sie das schon? Geben Sie nur acht, daß sie nicht eines Tages besser rechnen als Sie selber!«

Lehrer Schmidt lachte und die Jungen lachten auch.

»Hört her! Ihr habt doch gestern den Film gesehen, den eure Kameraden gedreht haben. Da wird es euch interessieren, was hier in der ›Berliner Morgenpost‹ steht.« Der Rektor faltete die Zeitung auseinander und las: »… Nach dem Besuch beim Polizeipräsidenten und Reichsinnenminister besuchte Charlie Chaplin in Begleitung seines Sekretärs und des bekannten Filmgewaltigen Dr. Robertsen eine Vorstellung im Nafa-Palast, wo gegenwärtig der Film ›Chaplin auf der Verbrecherjagd‹ läuft. Chaplin war entzückt über die Einfälle seines kleinen Doppelgängers. Der von den Krahneburger Schülern gedrehte Film hat den Meister der Mimik außerordentlich interessiert.«

Die Klasse tobte, als Rektor Bendler zu Karl Kiepenkerl ging und ihm die Hand schüttelte. Wie immer, wenn Karl eine große Freude erlebte, war er bleich. Nur die Augen strahlten.

»Ich kenne dich, Karl, du wirst nicht übermütig werden«, sagte Rektor Bendler, »deshalb las ich auch den Abschnitt aus der Zeitung vor. Wenn Chaplin selbst deine Leistung anerkennt, freuen wir uns mit dir.«

Rektor Bendlers Geheimnis, sich die Jungenherzen im Sturm zu erobern, bestand darin, daß er sich mit ihnen zu freuen wußte. Genau so fand er auch strenge Worte, wenn es gerade einmal nötig war. Aber das kam nicht oft vor. Die Jungen der oberen Klassen machten sich den Scherz, in ihr Aufgabenheft ein schwarzes Kreuz zu zeichnen, wenn der Rektor einmal böse wurde und schimpfte. Am Ende des Monats erzählte ihm einer, wie oft er gewettert hatte.

Eine Stunde später wußten es alle Jungen, von den Abeceschützen bis zu den Großen, daß Chaplin sich den Film angesehen hatte. Überall, wo Karl sich blicken ließ, verstummten die andern, und Karl mußte erzählen, wie man filmt, ob es schwer ist, mit so großen Schuhen zu laufen, und so weiter. Karl war von jenem Tage ab Ehrenmitglied sämtlicher Jungen-Sportklubs.


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