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Am andern Morgen brachten die Berliner Zeitungen Bilder vom Empfang Charlie Chaplins in Krahneburg. In der »Morgenpost« erschien jene Aufnahme, auf der Chaplin, der Große, den kleinen Chaplin in die Höhe streckte.
Das Hotel, in dem der berühmte Mann wohnte, war den ganzen Tag über regelrecht belagert. Nicht einmal in Krahneburg hatte er Ruhe. Der Magistrat der Stadt gab ein Festessen, bei dem der Oberbürgermeister eine Rede hielt. Als der Landrat ihn am Nachmittag zu einer Autofahrt in Krahneburgs Umgebung abholen wollte, war Chaplin plötzlich verschwunden.
Alles geriet in große Aufregung. Kein Mensch wußte, wo Chaplin war. Niemand hatte ihn gesehen. War er abgereist? War ihm etwas zugestoßen?
Im Hotel begann man sich Sorgen zu machen. Der Landrat ging ans Telephon und rief Kommissar Pelke an. »Unser Gast läßt sich nirgends blicken«, rief er aufgeregt in den Schalltrichter.
»Welcher Gast?«
»Charlie Chaplin. Er ist weg, spurlos verschwunden.«
»Ach so! Nun, Herr Landrat, ich glaube, wir brauchen uns deswegen keine unnötigen Sorgen zu machen. Ich weiß, wo er ist.«
»Sie wissen es? Wieso denn? Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, gesehen nicht, aber es ist doch selbstverständlich, daß eine so berühmte Persönlichkeit unter dem besonderen Schutze der Polizei steht. Ich lasse ihn nämlich unauffällig von Beamten in Zivil beobachten.«
Der Landrat war beruhigt. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Haben Sie eine Ahnung, wo er gegenwärtig steckt?«
»Ja, in der Vorstadt.«
»In der Vorstadt? Wie kommt er denn in die Vorstadt?«
»Zu Fuß. Kein Mensch hat ihn auf dem Wege dorthin erkannt. Im Auto wäre er bestimmt nicht so rasch hingekommen. Soeben hat mir ein Beamter Bericht erstattet.«
Der Landrat war ein gründlicher Mann. Er dachte nach, was Chaplin wohl veranlaßt haben könnte, ausgerechnet in das häßlichste Viertel der Stadt zu spazieren. Er wußte, daß die Amerikaner, wenn sie in Deutschland sind, gern Wein oder Bier trinken, weil es über dem Großen Teich so etwas wie ein Alkoholverbot gibt. Aber das konnte Herr Chaplin doch schließlich auch hier haben, dazu brauchte er nicht in die Vorstadt mit ihren alten Gassen und gebrechlichen Häusern zu pilgern.
»Können Sie es sich erklären, Herr Kommissar?«
»Ich weiß es sogar. Er macht einen Besuch bei seinem kleinen Filmfreund Karl Kiepenkerl.«
»Wo wohnt der?«
»Augenblick! – Alte Webergasse 5.«
»Danke, danke vielmals!« sagte der Landrat, hängte an und lief durch die Hotelhalle zu seinem Wagen. »Alte Webergasse 5!« rief er dem Chauffeur zu.
Das Auto fuhr los. Vor dem Hotel standen immer noch zahlreiche Leute, die Chaplin sehen wollten.
Ein verrücktes Huhn, wie alle Künstler! dachte der Landrat. In der Alten Webergasse hätte ich ihn zuletzt gesucht. Der Kommissar ist ein tüchtiger Mann. Neulich hat er den Schwerverbrecher herausgefunden, nun läßt er Chaplin auf Schritt und Tritt überwachen, daß ihm nichts zustößt. Wäre auch eine peinliche Sache, wenn Krahneburg melden müßte, Charlie Chaplin sei in seinen Mauern abhanden gekommen.
Das Auto bog in die schmale Webergasse ein. Vor einem der rußigen Häuser sah man von weitem schon einen Menschenauflauf. Der Landrat ließ sein Auto halten, stieg aus und ging zu Fuß weiter. Er sah auf das Hausschild: Alte Webergasse 5. Stimmt schon.
Kinder lärmten vor der Tür. Er bahnte sich einen Weg durch die Leute, die den Eingang dicht umstanden. »Chaplin ist bei Karlchen«, sagte ein kleines Mädchen, als er in den Hausflur trat. Es gab nur zwei Türen. An der einen stand auf einem Porzellanschild: M. Kiepenkerl. Der Landrat klopfte an.
»Herein!«
Karl stand am Fenster. Am Tisch saßen Charlie Chaplin und Karls Mutter. Frau Kiepenkerl weinte.
Der Landrat wurde nicht recht klug aus der Lage. Wenn man solchen Besuch hat, strahlt man doch übers ganze Gesicht! Er stellte sich vor. Chaplin war aufgestanden. Die beiden Herren kannten sich vom Empfang am Bahnhof.
»Aber verehrter Herr Chaplin, was machen Sie uns für Kopfschmerzen! Einfach auszurücken!«
Chaplin lächelte; es schien ihn zu freuen, daß er die andern endlich einmal hinters Licht geführt hatte. » Excuse – wie sagt man deutsch? – Verzeihung, Mister Landrat, aber ich freue mich, wenn ich sein kann eine Stunde für mich.«
Es war unmöglich, Chaplin etwas übelzunehmen. Zudem hatte er recht, besann sich der Landrat.
Auf Karls Mutter deutend fuhr Chaplin fort: »Aber ich habe bereitet dieser Frau großen Schmerz; ich will mitnehmen den kleinen Chaplin nach Hollywood, und ich will mit ihm machen einen großen Film.«
Der Landrat setzte sich. »Waaas? Das ist ja herrlich! – Karl, was sagst du denn dazu? Solch ein Glück!«
»Glück?« erwiderte Chaplin. »Der Boy Charlie hat sehr viel Begabung. Das ist Hauptsache in Hollywood. Ohne Begabung ich ihn nicht würde mitnehmen.«
Frau Kiepenkerl trocknete sich mit ihrer Schürze die Tränen ab. »Ich habe zwar noch mehr Kinder, Herr Chaplin, aber Karl ist mir am meisten ans Herz gewachsen. Wie oft habe ich über ihn lachen müssen, wenn ich müde von der Fabrik kam und er seine Späße machte!«
Frau Kiepenkerl sprach etwas undeutlich. Der Landrat, der merkte, daß Chaplin nicht alles verstanden hatte, übersetzte es ins Englische.
Chaplin war ergriffen. Er stand in der Mitte der Stube, sah Karl lange an und dachte wohl an seine eigene Kindheit, wie er im Londoner Fabrikviertel die ersten Jahre verbracht hatte, unbekannt, arm wie dieser kleine Karl Kiepenkerl. »Ich Sie verstehe; aber die Welt soll über ihn lachen, nicht nur seine Mutter.« Chaplin hatte Mühe in deutscher Sprache das auszudrücken, was er eigentlich sagen wollte.
Deshalb wandte sich der Landrat an Frau Kiepenkerl. »Wenn Sie Ihren Jungen liebhaben, müssen Sie ihn in die Welt ziehen lassen.« Und mit einem Blick auf Chaplin setzte er hinzu: »Nicht jeder darf sich einen so berühmten Begleiter wünschen.«
Karl lehnte am Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Nun würde er bald Abschied nehmen müssen von denen da draußen, von Fritz, Herbert, Joseph, der kleinen Marthel, von seinen Geschwistern und vom alten Kruse, der ihm manchen Apfel geschenkt hatte, wenn er mit seinem Obstkarren nach der Stadt zog.
Chaplin trat hinter ihn. »Woran denkst du, my boy? Wirst du nun mitfahren wollen?«
Karl blieb tapfer. »Ja, Herr Chaplin, ich will.«
Der Landrat gab ihm die Hand. »Einmal mußt du deine Freunde doch verlassen, wenn du älter bist. Nun entschließt du dich etwas eher dazu. Ich wünsche dir alles Gute.«
Sie blieben noch eine Weile beisammen und sprachen mit Karls Mutter über die Einzelheiten der Abreise.
Chaplin bat den Landrat, die Darsteller des Jungenfilmes einzuladen, daß sie Karl auf seine Kosten bis Berlin begleiteten.
»Gern; und nun darf ich Sie wohl in meinem Wagen mitnehmen? Ich glaube, so unbehelligt wie bisher kommen Sie nicht wieder ins Hotel zurück.«
Vor dem Hause wimmelte es von Menschen. Die Kunde, daß Chaplin da sei, war mit Windeseile bis in die letzten Hinterhäuser gedrungen. Chaplin grüßte nach allen Seiten. Die Leute machten Platz; sie lärmten nicht wie die Massen am Bahnhof. Nur die Kinder riefen begeistert: »Chaplin – Charlie – Chaplin!« und drängten sich um das Auto.
Karl stand an den Haustürstufen. Er sah dem Wagen nach, der langsam davonfuhr.
* * *
Rektor Bendler ließ die Filmhelden aus »Chaplin auf der Verbrecherjagd« zu sich kommen und teilte ihnen mit, daß sie übermorgen schulfrei hätten, auf besonderen Wunsch des Schulrats. »Wer will, kann Karl bis Berlin begleiten. Es kostet nichts. Ich selbst würde gern dabei sein, wenn er von euch Abschied nimmt, aber es geht leider nicht. Lehrer Schmidt wird mit euch fahren.«
Das war eine Freude! Die meisten, fast alle, kannten Berlin noch gar nicht. Manche wußten nur, daß es eine Riesenstadt ist, in der einer ohne Auto oder Straßenbahn gar nicht bis zum andern Ende gelangt. Nur der Abschied von Karl trübte die Freude.
Am Nachmittag waren Paul, Konrad und Karl zusammen. Auch Felix erschien später. Sie tauschten Erinnerungen an die Filmzeit aus.
»Ich dachte immer, wir würden noch einen zweiten Film drehen können; nun ist's aus«, sagte Konrad. »Karl geht nach Hollywood und läßt uns im Stich.«
»Ich komme doch wieder.«
»Aber wann? Da können wir lange warten.«
»Sei doch zufrieden, daß unser erster Film so gut gelungen ist! Wenn Chaplin noch mehr Jungen braucht, hole ich euch nach.«
Das war gewiß ein schwacher Trost, aber es war doch einer.
»Du mußt uns gleich schreiben, wie es beim richtigen Film zugeht. Überhaupt, alter Freund, wenn du das Schreiben vergißt, bekommst du von uns keine Zeile, daß du es weißt!«
Paul verlangte jede Woche zwei Briefe, Konrad gar drei, nur Felix wollte sich mit einem begnügen. »Er wird wohl nicht so viel freie Zeit haben«, meinte er. Das konnte schon stimmen. Was sie hier gemacht hatten, war Spiel, in Amerika wurde aus der Filmerei Ernst.
»Hinter den Kulissen sieht es anders aus«, sagte Felix. Er hatte den Satz irgendwo in einer Zeitung gelesen, darüber nachgedacht und ihn als richtig anerkannt. Deshalb brachte er ihn jetzt vor.
Karl ging zeitig nach Hause. Es gab noch viel zu tun. Die Mutter hatte ihm neue Anzüge und neue Wäsche gekauft. Sie lagen in einem großen Koffer, den am nächsten Tage ein Dienstmann abholen sollte.