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Audienz im Rathaus

Der nächste Tag hielt ganz Krahneburg in Aufregung. Extrablätter wurden verteilt. Paul erwischte auch eins und las:

 

» Sonderausgabe
des ›Krahneburger Anzeigers‹
Chaplin kommt nach Krahneburg
!

Wie wir soeben aus Berlin erfahren, wird Charlie Chaplin morgen nachmittag mit dem D-Zug 16 Uhr 35 in Krahneburg eintreffen. Der große Filmschauspieler hat, wie es seine Gewohnheit sein soll, den Reiseplan plötzlich geändert und wird erst zwei Tage später Europa verlassen. (Nähere Einzelheiten in der heutigen Zeitung.)«

 

Die Ereignisse überstürzten sich. Die Zeitung schrieb, Chaplin habe nichts Genaueres über den Grund dieser plötzlichen Reise verlauten lassen, wahrscheinlich aber bestehe ein Zusammenhang zwischen der Fahrt nach Krahneburg und dem kürzlich herausgekommenen Film der Krahneburger Jungen. Jedenfalls freue sich die Stadt über die Ehre, den größten Filmschauspieler der Welt in ihren Mauern beherbergen zu können. Deshalb solle Chaplin am Bahnhof auch feierlich von den Vertretern der Stadt begrüßt werden.

Am späten Abend klopfte es bei Frau Kiepenkerl an die Tür. Karls Mutter öffnete.

Ein Mann im Chauffeuranzug stand draußen. »Guten Abend! Könnte ich Ihren Sohn Karl sprechen?«

Karl kam gerade mit Kohlen aus dem Keller. Er stellte den Eimer hin. »Bitte?«

»Ich bin der Chauffeur vom Oberbürgermeister. Du möchtest so freundlich sein und sofort mit mir nach dem Rathaus fahren.«

Karl sah an seinem schäbigen Anzug hinunter.

»So, wie ich bin?« »So, wie du bist. Nur recht schnell! Die Herren warten schon.«

Karl wusch sich die Hände. Was er im Rathaus solle, jetzt abends um neun Uhr?

Der Chauffeur zuckte die Achseln; er wisse es nicht, aber es hänge wohl mit dem Besuch Chaplins zusammen.

Sie fuhren los. Es war ein herrlicher Sommerabend, alt und jung noch auf den Straßen. Wie schön es ist, dachte Karl, so im Auto durch die Stadt zu flitzen! Er war früher nie Auto gefahren. Woher sollte er auch das Geld dazu haben! Als sie damals filmten, hatte er zum ersten Male in einem Auto gesessen. Heute fuhr er sogar ganz allein und zum Oberbürgermeister.

Der Wagen hielt vor dem Rathaus. Karl stieg mit dem Chauffeur die breiten Stufen hinauf. Sie landeten im großen Sitzungszimmer. Mehrere Herren saßen um einen ovalen Tisch.

Der Oberbürgermeister stand auf und begrüßte ihn. Karl kannte ihn von der Vorstellung im Apollokino her. »Erledigt, Herr Köppke, danke. Sie fahren nachher den Jungen zurück. Ich lasse rufen. – Also, meine Herren, falls Sie ihn noch nicht kennen sollten, hier steht Karl Kiepenkerl vor Ihnen, unser Krahneburger Chaplin.«

Karl gab der Reihe nach den Herren die Hand und nahm an dem Tisch Platz. Alle sahen auf ihn. Es wurde ihm fast unheimlich zumute unter so viel ernsten Gesichtern. Aber da der Oberbürgermeister ein freundlicher Mann war, mochte es angehen.

»Darf ich bitten, meine Herren? Wir haben nicht viel Zeit; vielleicht können wir zu Ende kommen. Über den Empfang haben wir schon gesprochen. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: die Jungen, die an dem Film mitgewirkt haben, begrüßen Chaplin auf dem Bahnsteig. Wir müssen natürlich alles absperren lassen, sonst kommt unser Gast nicht mehr lebendig aus dem Gewühl heraus. In Berlin ist es toll zugegangen.«

Einer der Herren meldete sich zum Wort. »Wird denn unsere Polizei überhaupt ausreichen an einem solchen Tage?«

»Nein, ich habe noch Schupo aus Kitzenhausen angefordert. – Aber nun möchte ich dich fragen, Karl, könntest du nicht als Charlie Chaplin erscheinen, genau so wie in eurer Filmrolle?«

»Sehr gut!« stimmten einige bei.

Karl staunte. Auf diesen Gedanken wäre er nicht gekommen. Es ist doch gut, wenn die Stadt einen Oberbürgermeister hat. Das war ein glänzender Gedanke, als Chaplin vor Chaplin zu erscheinen.

»O ja, Herr – Herr Oberbürgermeister! Felix, unser Friseur vom Film, hat sicher noch Puder und Schminke.«

»Gut. Ich lasse dich morgen nachmittag um vier Uhr mit meinem Wagen abholen, sonst halten dich die Leute für den richtigen Chaplin, wenn du zu Fuß angelaufen kommst.«

Die Herren schmunzelten vergnügt. Der Oberbürgermeister drückte auf einen Knopf am Tischende. Ein Magistratsbeamter erschien. »Herr Köppke soll den kleinen Chaplin nach Hause fahren.«

Karl verabschiedete sich. Er hörte noch, wie der Oberbürgermeister sagte: »Über den Empfang in Krahneburg wird in der Berliner Presse viel berichtet werden, deshalb …«

Die Tür klappte zu.

Unten stand der Chauffeur und öffnete den Wagenschlag. »Da wird wohl morgen allerhand los sein?« sagte er zu Karl. »Nee, so 'n Einfall, kommt der Chaplin ausgerechnet nach Krahneburg!«

Auf der Rückfahrt und später zu Hause war Karl still. Kaum, daß er mit der Mutter darüber sprach. Sie meinte natürlich, er solle seinen besten Anzug anziehen. (Er hatte überhaupt nur zwei.) Karl mußte ihr erst begreiflich machen, was soeben beschlossen worden war. So einfach aber, überlegte er sich, ging die Sache denn doch nicht. Der wirkliche Chaplin würde gewiß scharf Obacht geben, ob er alles richtig machte.

Karl wollte einschlafen und konnte nicht. Lange lag er wach. Wenn er es sich ehrlich eingestand, so hatte er Angst vor morgen.

Doch auch diese Nacht ging schließlich vorüber.

* * *

Nach der Schule besuchte er Felix und erzählte ihm von der Sitzung beim Oberbürgermeister. Er verhehlte auch keineswegs, welchen Bammel er vor der ganzen Geschichte habe. Schließlich fragte er Felix, ob er zum Oberbürgermeister gehen und ihm sagen solle, er möchte lieber nicht als Chaplin verkleidet erscheinen.

»Quatsch!« schalt der Freund. Felix war viel zu begeistert von dem Plan, um Karl abzuraten. »Mensch, überleg dir mal, wie die Leute lachen! Der Bahnhof wird wackeln.«

»Wenn ich mich aber falsch benehme?«

»Ich verstehe dich nicht, Karl; dreißigmal oder noch öfter hast du als Chaplin vor der Kamera gestanden, und jetzt auf einmal kriegst du Angst.«

»Beim Filmen wart nur ihr dabei.«

Felix wurde ungeduldig; er packte seinen Freund bei den Schultern und rüttelte ihn gehörig zurecht. »Du kannst doch nicht drei Stunden vor der Ankunft dem Oberbürgermeister einen Strich durch die Rechnung machen. Überleg dir das nur! Unsinn! Mit dir muß man kurzen Prozeß machen. Es ist jetzt halb zwei Uhr. In einer Stunde spätestens bin ich bei euch und helfe dir beim Schminken. Wir nehmen diesmal nicht so viel Puder und gar kein Rot, sondern malen die Augenbrauen schwarz an. Es ist ja nicht für den Film. Die Schuhe, Stöckchen, Hut und so weiter hast du doch noch?«

Karl nickte nur stumm und wußte zunächst nichts zu erwidern.

»Mach nicht solch ein dummes Gesicht, Karl! Da kann einem ganz sauer werden. Geh und schlaf dich 'ne Stunde aus! Das schadet nichts.«

In der Schule hatten Konrad und Paul von Karls Maskerade gehört. Sie waren genau so Feuer und Flamme wie Felix. Ihren Kameraden begriffen sie nicht.

Aber so war nun einmal Karl: trotz dem großen Erfolge blieb ihr Freund der kleine, schüchterne Karl Kiepenkerl, der er schon immer gewesen war.


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