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Dolly: Ein Idyll vom Flußdamm

Dolly war ein Mädel vom Damm, braun und breitschultrig, mit der geschmeidigen Kraft einer Pantherkatze im gedrungenen Körper; ihr absonderliches Gesicht – manchmal, besonders wenn man es im Halbprofil sah, hatte es etwas Ägyptisches – verblüffte und faszinierte. Es war jung und weich, und der volle blühende Mund gab ihm eine leidenschaftliche Süße; aber schwer lag über großen dunklen, ruhig-scharfen Augen der Schatten der schwarzen Brauen, die immer medusenhaft zusammengezogen waren, wie unter einer beständigen Pein.

Auch Dollys sonderbare Art, sich zu kleiden, gemahnte an Ägypten. Zwei Frauentypen sind uns aus den altägyptischen Wandmalereien bekannt: langgliedrige, in Schleier gehüllte Mädchen von wunderlicher, schlangenhafter Grazie – und untersetzte, tiefbusige Weiber in enganliegenden Gewändern, mit offenem, schwerem ebenholzschwarzem Haar. Dolly schien die ziervolle Leichtigkeit der einen mit dem erdhafteren Wuchs der anderen zu verbinden. Die anmutigen antikischen Kleider, die sie trug, waren für Geld und gute Worte nicht zu bekommen; sie mußte sie sich wohl selbst machen. Ihr Lieblingskleid, weiß mit einer purpurroten Zickzackborte, die den Saum entlang lief, lag ihr von den Schultern bis zu den Knien ganz eng an, jeder weichen Linie ihrer kräftigen Gestalt folgend. Natürlich hatte Dolly nie etwas von Ägypten oder von der Antike gehört – sie konnte weder lesen noch schreiben; aber sie hatte einen ästhetischen Instinkt, und dieser überwand alle Hindernisse, welche die Mode im Verein mit Unwissenheit dem Entstehen eines guten Geschmacks in den Weg legt. Ihr langes, schwarzes Haar, das dick wie eine Mähne war und in seiner Neigung sich zu kräuseln verriet, daß in Dollys Adern viel Negerblut floß, trug sie meist offen bis zum Gürtel – eine ins Blaue spielende, tiefschwarze schwere Masse, die ein Luftzug nicht bewegen konnte. Dolly pflegte es sehr sorgfältig; ab und zu frönte sie dem barbarischen Luxus, es mit Butter einzuschmieren. Manchmal richtete sie es ganz koboldisch her, indem sie es steil nach oben kämmte; dann stand es um ihren Kopf, als ob es sein eigenes elektrisches Leben hätte. Vielleicht war ihre Vorliebe für solche Frisuren ein Erbteil ihres afrikanischen Bluts.

Und wirklich, Dolly hatte viel von einer kleinen Wilden an sich, trotz ihres guten Geschmacks. In ihren hemmungslosen, fast wollüstigen Bewegungen war etwas Barbarisches, und sie hatte eine wilde Vorliebe für ungestüme körperliche Übungen. Ein Paar Ruder konnte sie vorzüglich handhaben, und im Schießen war sie so sicher, daß die Dampfbootleute, die Bescheid wußten, Neulinge in der Sausage Row-Schießbude zu Wetten gegen Dolly verleiteten und ihnen so das Geld aus der Tasche zogen. Den Rücken zu den Scheiben, das Ziel in einem Spiegel fassend, so konnte Dolly den ganzen lieben Tag lang schießen, und nach jedem Schuß ratterte die Trommel. Sie schwamm, als wäre sie auf Tahiti groß geworden, und in schwülen Sommernächten stahl sie sich oft vor Tagesanbruch zum Fluß hinab, um sich in die mondschimmernde Strömung zu werfen. »Hast Du denn keine Angst, daß Dich jemand so sehen kann?« fragte eines Morgens ein Polizist erstaunt und etwas entsetzt, als Dolly, ihr Haar auswindend, den Damm entlang kam, nichts am Leibe als ein angeklatschtes nasses Kleid.

»Ach, mich hat nur der niedliche Mond gesehen,« meinte sie und schaute mit ihren dunklen Augen dem guten alten Mond ins Gesicht.

Alles in allem war Dolly besser als ihre Schwestern vom Damm; sie zankte sich selten, stahl nicht und betrank sich fast nie. Natürlich rauchte sie ununterbrochen, denn das ist im Row eine Lebensnotwendigkeit. Merkwürdig war es, daß sie sich niemandem anvertraute und überhaupt nie von sich selber sprach. Weil sie zurückhaltend und, wenigstens im Vergleich mit den anderen, nüchtern war, weil sie niemals gesessen hatte, und weil es ihr nie an Geld für die Bedürfnisse des täglichen Lebens fehlte, hegten die anderen Frauen nicht gerade freundliche Gefühle für sie, die sich darin ausdrückten, daß es hieß, »Dolly täte sich dick«. Einmal wurde es im Row plötzlich fashionabel, die Fenster mit Töpfen zu schmücken, in denen eine Art blühendes Unkraut steckte; die Farbigen nannten das euphemistisch »Blumen«. Damals tat Dolly sich dick, indem sie diese Mode nicht mitmachte.

»Warum hast Du denn keine Blumentöpfe im Fenster?« fragte Patsy Brazil neugierig.

»Ich denk' ja nicht dran, so schlecht zu den Blumen zu sein,« entgegnete Dolly. »Blumen gehören nicht ins Row.«

Es machte ihr die größte Freude, sich mit einem kleinen krummbeinigen Negerkind zu beschäftigen, dessen Eltern niemand kannte; die alte dicke Maggie Sperlock hatte es adoptiert. Sie konnte Stunden damit verbringen, den Jungen zu unterhalten; sie tollte und lachte mit ihm und flocht ihr Haar zu phantastischen Hörnern und allen möglichen Figuren, um ihm Spaß zu machen. Dann lehrte sie ihn die Namen all der großen weißen Boote, die Namen der fernen Städte, von denen sie herkamen, und die kuriosen symbolischen Ausdrücke des Dampfboot-Slangs der Neger. Wenn eines der langen Schiffe vorüberrauschte, am Bug Furchen im gelben Strom aufwerfend und hinter sich einen Schweif von Dampfwolken herziehend, dann rief Dolly: »Sieh mal Tommy, wie stolz das Mädel heute ist; sie hat 'ne feine Halskrause an. Schau ihren Zopf an, Tommy; guck, wie das Mädel die Haare hinter sich herwehen läßt.« Dolly konnte die Namen auf den Booten nicht lesen, aber sie wußte, wie jedes von ihnen aussah, und kannte ihre wilden tiefen Stimmen. Ebenso lehrte sie den Jungen sie alle kennen, bis sie in seiner Kinderphantasie zu großen Wasserdingen wurden, die am Damm nur schliefen und auf dem Fluß mit fürchterlich lautem Pochen durch das weiße Mondlicht schwammen. Oder sie machte für Tommy aus einem Stück Fichtenholz ein drolliges Schiffchen, mit einem richtigen Heckrad, das das Wasser tüchtig aufwirbelte, wenn der Kleine sein Boot an einem Baumwollstrick am Ufer entlang zog. Endlos konnte Dolly dem krummbeinigen Tommy gruslige Geschichten von Voudoos erzählen – sie nannte sie Hoodoos; das waren Leute, die Schlangenköpfe und Spinnen und allerhand scheußliches Kriechzeug sammelten, um giftige Zauber daraus zu bereiten; das ging so vor sich, daß die Tiere in Whisky weichten, bis der stinkende Fusel »grün wie Gras« wurde. Tommy wäre auf diese Erzählungen hin vor Angst gestorben, hätte ihm Dolly nicht eine getrocknete Kaninchenpfote geschenkt, die er in einem Säckchen um den Hals tragen mußte; denn wie alle Farbigen vom Damm hielt Dolly eine Kaninchenpfote für einen unfehlbaren Zauber gegen jedes Übel.

Natürlich hatte Dolly »ihren Mann« – einen ganz hübschen, gelben Roustabout; Aleck nannte man ihn am Damm. Im Sommer, wenn der Fluß »lebendig« war, wie die Dampfbootleute sagen, war sie Aleck ziemlich treu; aber wenn der Strom zufror, wenn es im Row kein Geld gab und Aleck weit weg am unteren Mississippi war oder keine Arbeit hatte, gab Dolly sich einem ausgesprochen unmoralischen Lebenswandel hin. Aber Aleck konnte kaum etwas anderes von ihr erwarten, sein Geld ging fast immer ebenso schnell, wie es gekommen war. Entweder lebte er in Saus und Braus oder er hatte überhaupt nichts zu beißen. Einmal kam er im Frühjahr mit einigen vierzig Dollars in der Tasche – einem ganzen Vermögen nach seinen Begriffen – und mit einer neuen silbernen Uhr für Dolly nach Hause; das war wohl der Geldschlager in seiner Karriere. Aus irgendeinem Grund ging die Uhr nicht richtig, und die arme Dolly, die von Dampfbooten weit mehr wußte als von Uhren, machte den Chronometer auf, »um zu sehen, was damit los wäre.«

»Na ja, 'n kleines Haar hat sich in ihre Eingeweide verwickelt,« sagte Dolly, »da kann sie natürlich nicht richtig gehn.« Dann puhlte sie die Uhrfeder heraus. »So 'n verflixt komisches Haar,« meinte sie noch.

Im Gegensatz zu den anderen Weibern am Damm hatte Dolly so etwas wie Selbstachtung und verkaufte ihre Gunst nicht wahllos. Einige Zeit stand sie sogar im Rufe einer gewissen Achtbarkeit. Und als sie am Ende ganz verlassen war, fand sie wohl bei dem himmlischen Vater aller, der Weißen und der Schwarzen, Vergebung für ihre kleinen Verirrungen.

So entwickelten sich die Dinge: Eines schönen Sommerabends betrank sich Aleck auf einem Ball in Bucktown lästerlich und geriet in eine Schlägerei, in deren Verlauf ein Roustabout »total in Stücke geschossen und geschnitten wurde«, wie Dolly sich hyperbolisch ausdrückte. Zwar wurde Aleck nur der Trunkenheit und Gewalttätigkeit angeklagt; weil es aber nicht sein erstes Vergehen dieser Art war, verurteilte man ihn zu fünfzig Dollars Geldstrafe und dreißig Tagen Arbeitshaus. Als die Schwarze Marie davongerollt war und die Menge der Müßiggänger, die immer dabei sein müssen, wenn es etwas zu gaffen gibt, sich zerstreut hatte, ging Dolly in den Stadtpark; dort setzte sie sich auf einen der kleinen Löwen am Springbrunnen und weinte still über die zerbrochene Uhr, die sie von Aleck bekommen hatte. Als sie aufstand, war ihr Entschluß gefaßt: sie mußte Alecks Geldstrafe bezahlt haben, bevor seine dreißig Tage um waren. Langsam ging sie zum Row zurück.

Wenn Dolly fest entschlossen war, etwas zu tun, dann war es so gut wie getan. Darüber, wie Dolly in dreißig Tagen zu fünfzig Dollars kommen sollte – über die einzige Möglichkeit, die sie hatte, das Geld im Row zu verdienen, braucht nicht viel gesagt zu werden. Wer die Verhältnisse im Row kennt, wird ohne weiteres verstehen, was für Schwierigkeiten es da für Dolly zu überwinden gab. Die plötzliche Änderung ihrer Gewohnheiten, ihr unbekümmertes Drauflosleben, bei dem sie den letzten Rest ihrer Selbstachtung wegwarf, verblüffte ihre Kameradinnen im Row und die Polizeibeamten, die jeden Dammbewohner sorgfältig beobachteten. Sie kaufte sich nur dann Essen, wenn sie es nicht erbetteln konnte, bezahlte fast nie ihre Zigarren und schien in allen üblen Höhlen des Row zu Hause zu sein.

»Wenn Du so weiter machst, Dolly,« redete ihr schließlich Patsy Brazil ins Gewissen, »werd' ich Dich schnappen müssen.« Die dreißig Tage Alecks waren damals fast um. Patsy, der immer freundlich war, aber auch immer fest blieb, drohte nur einmal; und Dolly wußte das.

Natürlich hatte Dolly noch nicht genug beisammen, um Alecks Strafe bezahlen zu können. Eine Hilfsquelle war ihr noch geblieben – sie konnte ihre Kleider und ihre Einrichtung – einen Ofen, ein Bett und eine alte Uhr – verkaufen. Sie bekam natürlich noch weniger dafür, als das armselige Zeug wert war. Todmüde kam sie in ihr kahles, leeres Zimmer zurück und schlief auf dem Fußboden ein, hungrig, aber glücklich, weil sie endlich so viel hatte, daß sie die Strafe ihres Mannes bezahlen konnte. Und Aleck war wieder ein freier Mann.

Seine Dankbarkeit für Dolly ging so weit, daß er sich eine ganze Woche lang nicht betrank; und er glaubte natürlich, mit dieser nicht unbeträchtlichen Leistung an Selbstverleugnung sich genügend revanchiert zu haben. Aber der Mann in der blauen Uniform mit den blanken Knöpfen wußte besser, wie teuer diese Freiheit erkauft war; als er die eingesunkenen Augen in Dollys verfallenem Gesicht sah, murmelte er nur: »Gott erbarm' sich ihrer!« Hunger und Schlaflosigkeit hatten in ihrem trotz aller Robustizität nervösen Organismus die Lebenskraft gebrochen. Schließlich bekam Aleck auf einem Maysviller Paketboot Arbeit und fuhr vom Damm ab, und die arme Dolly, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war, winkte trotz aller Verbote Pickets mit einem zerfetzten roten Taschentuch aus ihrem Fenster. Wenige Minuten, bevor das Boot abging, läutete jemand die Schiffsglocke.

»Wer macht denn den Blödsinn mit der Glocke?« schrie Dolly und ließ ihre Zigarre fallen. »Das bedeutet ein Unglück, wenn man das macht.« Wie oft mußte sie an diese Glocke denken, wenn das Schiff Woche für Woche regelmäßig den langen Quai heraufkam – ohne Aleck. Aleck hatte ihr erzählt, daß er »die Liebengott-Leute besuchen« wolle – so nennen die Roustabouts einen Besuch in ihrer Heimat –, aber nie hätte sie gedacht, daß er sie so lange allein lassen würde.

Eines Abends, als sie vor der Tür von »Picket's« saß und aus schön gebleichten Rindsknochen Hemdknöpfchen für ihren Aleck zurechtfeile, kam jemand und erzählte ihr, daß Aleck sich oben in Maysville verheiratet hätte und daß die Hochzeit »tip-top« gewesen sei. Dolly blieb ganz still, sie nahm ihre Rindsknochen und ihre kleine Feile zusammen und ging hinauf.

»Hier in der Gegend stirbt keiner,« sagt Patsy Brazil, »solange sein Wille noch lebt. Der Wille stirbt zuerst.« Und Dollys Wille war tot.

Ein paar Frauen vom Damm hoben ihren mageren Körper vom Fußboden in dem leeren Zimmer auf und trugen ihn zu einem Bett. Dann schickten sie nach dem alten Richter Fox, dem grauhaarigen Negerpriester, der eine Barbierstube im Sausage Row hat. Was der alte Neger unter Theologie verstand, wird wohl höchst eigenartig gewesen sein; doch er hatte schon so manchem sterbenden Weib den letzten Trost gespendet. Sofort machte er seinen Laden zu und kam, um für Dolly zu beten und zu singen, aber sie achtete weder auf seine Gebete noch auf die alten Sklavenhymnen, die er sang. Der graue Abend war zur Nacht geworden; durch das offene Fenster sah der Mond in Dollys hageres Gesichtchen; der Fluß warf den Schein seines gekräuselten Wassers auf die weißgetünchten Wände des Zimmers, und in das Beten und Singen scholl das tolle Schrillen der Banjos, das Brummen der Baßgeigen und das Stampfen der Tänzer herauf. Unten spielte die Musik »Big Ball Up Town«, oben sangen die Frauen nach einer überirdisch sanften Melodie:

»Oh, bin ich selig, daß mein Jesus erstand,
Oh, bin ich selig, daß mein Jesus erstand,
Oh, bin ich selig, daß mein Jesus erstand,
Und tut den Himmel auf.

Hier kommt mein Pilger Jesus,
Er reitet ein milchweiß Pferd;
Er reitet hin gen Osten und reitet hin gen West
Und nach jeder anderen Seite von der Welt.
Oh, bin ich selig, usw.

Hier kommt mein Herre Jesus,
Den Himmel in den Augen sein;
Er gehet ein zur Glorie
Und sagt der Welt Adieu.
Oh, bin ich selig, usw.

Die Sonnen wird er löschen, in Flammen tun die Welt,
Der Mond hat blut'gen Schein.
Die Sünder – –«

»Pscht!« machte Dolly und richtete sich mit einer verzweifelten Anstrengung auf. »Tut da nicht das alte Mädel reden?«

Ein Klang, tiefer und voller als die heilige Weise und als die barbarische Musik dröhnte über den mondbeschienenen Damm – das Dampflied des Maysviller Paketboots, das hereinkam.

»Helft mir hoch!« ächzte Dolly – »das liebe alte Mädel bläst Dampf ab; 's ist Aleck; 's ist mein Mann – mein Mann!«

Dann fiel sie zurück und blieb ganz ruhig liegen – in der Ruhe des letzten, des traumlosen Schlafes.

Als sie kamen, ihr das Totenhemd anzuziehen, sahen sie, daß sie in ihrer kleinen knochigen Hand etwas hielt – so fest, daß man die Finger, die es umklammerten, kaum lösen konnte.

Es war eine alte silberne Uhr, aus der die Feder herausgezerrt war.

Banjo Jim's Erlebnis

Schwermütig sind die grauen Regenabende am Fluß, die langen Zwielichtstunden, da ein nasser, wolkenverhangener Tag über dem Damm zur Neige geht. Lautlos schießt das gelbe Wasser unter einem aschfarbenen Himmel dahin; die Uferhügel hängen als dunkle verschwimmende Flecken im fahlen Nebel; über das falbe, kranke Grau des Stromes schleppt sich träge der Rauch der Boote; wüst und häßlich starren die alten verwitterten Häuser im Row, formlose Stein- und Ziegelhaufen mit klaffenden Rissen und leeren Fenstern. Aber in solchen Regennächten scheinen die Stimmen der Lust am Damm sich zu vervielfachen – lauter brummen die Bässe, toller schrillen die Banjos und kreischen die Fiedeln, und die Nacht ist erfüllt von den wilden Schreien der Tänzer.

In sternhellen Nächten, wenn eine sanfte Brise über den Fluß streicht und die ruhigen Wasser den Samt des Himmels oder die Silberscheibe des Mondes spiegeln, ist es die Lust an der Lust, welche die Farbigen zu ihren Vergnügungen treibt. Doch die lärmende Fröhlichkeit des Row in Sturm- und Nebelnächten hat wohl eine andere Ursache: es mag jenes vage Angstgefühl sein, aus dem zur Nacht Menschen in öden Häusern singen oder laut rufen, um den Bann der Einsamkeit zu brechen.

Regennächte haben immer etwas Unheimliches, aber nirgends fühlt man es so stark wie in alten Gebäuden; das Haus ist voll von rätselhaften Geräuschen: da schlurft es und da ächzt es und da klopft es, da ist ein Tappen zu hören, als ginge etwas über morsche Stiegen, die unter jedem Tritte stöhnen. Nun steht in den älteren Teilen des Row ein altes Haus neben dem anderen, und die Leute erzählen sich, daß in Regennächten die Toten in den düsteren Torwegen lauern und in den dunklen Ecken der verlassenen Tanzhäuser, die seit der großen Überschwemmung geschlossen sind, ihr Wesen treiben. Und die Dammbewohner haben eine unbeschreibliche Angst vor den Toten.

»Sehn mal, Mädl,« sagte Banjo Jim zu der armen Mary Pearl, als sie in ihrem Tanzhaus im Sterben lag, »wenn Du sterben, Du nicht werden kommen dahier zurück, wenn Du gegangen tot, weil ich geht über der Fluß – ich tut das.« Und als Mary gestorben war, ging Jim mit ein paar Dammädels über den Fluß. Nach dem Glauben der Roustabouts nämlich können Tote Wasser nicht überschreiten; und der von Geistern Gequälte ist auf einem Dampfboot vor seinen Quälgeistern sicher. Aber es heißt, daß Mary trotzdem wiederkam und in Regennächten immer wieder kommt, in Begleitung ihrer toten Freundinnen; – Winnie, das hübsche, kleine weiße Mädel, das in Picket's Tanzhaus gestorben ist; Pferdekopf-Em, die große Mulattin mit den lasterhaften Augen, die sich zu Tode getrunken hat; und Mattie Philips, die junge Quarteronin, die im Arbeitshaus gestorben ist, weil sie ohne Morphium nicht leben konnte. Unter dem Hause, in dem Mary ihr Lokal geführt hatte, ist ein ausgedehntes, tiefes Kellergeschoß mit einem langen Gang, der zu einem finsteren Schlafzimmer führt. Kurz nachdem das alte Tanzhaus in andere Hände übergegangen war, verirrte sich eines Nachts ein angetrunkenes Dammädel in dieses Zimmer; sie lief schleunigst wieder heraus und erzählte, vor Schreck nüchtern geworden, beim flackernden Schein eines Talglichts hätte sie drei tote Weiber um einen Tisch sitzen gesehen – Mary Pearl, Jane Goodrich und Pferdekopf-Em – und Mary hätte sich »auf sie losgestürzt«. Seitdem wagte niemand, in diesem Zimmer allein zu schlafen.

Zu der Zeit, als die scheußliche Geschichte von der toten Mary, die wiederkam, um im Finsteren auf einzelne Leute loszugehn, am Damm eifrig besprochen wurde, fiel es plötzlich auf, daß während des letzten Jahres erschreckend viele Leute im Row gestorben waren. Da war Dave Whitton, der lange, dürre Geigenspieler aus Picket's Tanzhaus; Onkel Dan Booker, der ausgemergelte alte Fechtbruder, der immer am Damm umhergezogen war, vom Alter gekrümmt wie ein Fiedelbogen, und schließlich im Arbeitshaus starb, während er eine Strafe wegen Vagabundierens absaß; die hübsche Winnie, die kleine Tanzhausköchin; Matt. Philips, die Morphinistin; Pferdekopf-Em; die graziöse Tanz-Sis, die plumpe Jane Goodrich, die arme Mary Pearl, die sich in ihrer Todesstunde vergeblich abgequält hatte, dem Richter Fox irgendeine schreckliche Beichte abzulegen. Sie alle waren im Laufe eines Jahres aus dem Leben des Row verschwunden. Manche glaubten, die große Überschwemmung sei daran schuld, die ihren gelben Schlamm und ihre giftigen Dünste zurückgelassen hatte. Man steckte die Köpfe zusammen: wenn erst mal einer ohne Schatten wiedergekommen sei, um am Damm zu spuken, würden die anderen auch nicht lange auf sich warten lassen. Und man sprach davon, ob es nicht vielleicht gut sei, über den Fluß zu gehen.

»Sein kein Sinn ihnen sagen, Sachen sein unmöglich,« meinte Richter Fox höchst würdevoll; »ich glaubt an die Bibel, ich glaubt da dran; und ich weißt, es geben da um hier Leuten, das reden mit Leuten, was sein tot gegangen, und begehen schrecklichen Sünden gegen der Herr.« Das ging wahrscheinlich auf den alten Jot, den Voudoo-Zauberer, der mit den Geistern in intimem Verkehr stehen sollte.

Schließlich, in einer stürmischen Nacht – schwarze Wolkenfetzen jagten an einem verbogenen Mond vorüber – ereignete sich etwas, was das ganze Row in furchtbaren Schrecken versetzte, – Banjo Jim's Erlebnis.

Seit Picket nach der letzten Überschwemmung sein Etablissement von No. 17 in die Front Street verlegt hatte, war das alte Tanzhaus nicht mehr vermietet worden. Wenn man auf einen Stuhl oder auf ein Faß stieg, konnte man durch das kleine schmutzige Fenster über der Tür ganz gut ins Innere sehen. Der Deckenbewurf war in großen unregelmäßigen Stücken heruntergefallen; grüne Streifen auf den kahlen Wänden zeigten noch die Spuren des eingedrungenen Wassers; die Tür der hölzernen Scheidewand war ausgehängt und lag auf ein paar leeren Fässern; große, fette Spinnen – dem guten Jot wäre es eine wahre Wonne gewesen, sie zur Bereitung seiner giftigen Voudoo-Dekokte zu verwenden – hatten in den dunklen Winkeln riesige Weben gesponnen; auf dem Boden hatte sich dicker Staub abgelagert, der jeden Schritt unhörbar machen mußte. Nun hatte kurze Zeit, bevor unsere eigentliche Geschichte sich begab, Matt. Adams herumerzählt, daß in Regennächten ein unheimliches Lärmen das alte Tanzhaus erschütterte – das Brummen einer gespenstischen Baßgeige, das schwere Stampfen tanzender Füße und ein scheußliches Gelächter, »wie die Lache von Leuten, die schon lange tot sind«. »Einmal in der Nacht hab' ich an der Tür gehorcht,« berichtete Matt., »und da hab' ich sie reden gehört; es war die Tanz-Sis und der Dave Whitton, sie haben im Finstern gelacht, aber ich hab' nicht verstehn können, was sie gesagt haben.« Nach dieser Erzählung des Mädchens ging Banjo Jim bei Nacht fast nie durch das Row, ohne vorher eine Kaninchenpfote in die Brusttasche seines Wollhemds gesteckt zu haben.

Ob Jim in der denkwürdigen Freitagnacht seine Kaninchenpfote vergessen hatte, ist nie genau bekannt geworden; aber es ist sehr wahrscheinlich, denn er hatte sich bei Maggie Sperlock, wo eine große Tanzerei stattgefunden hatte, einen ordentlichen Rausch angetrunken. Es war fast zwei Uhr morgens, als der Ball sein Ende fand, und Jim lungerte noch als der letzte am Schanktisch herum. Als er ins Freie trat, war es ihm, als ob das dunkle Row, die schweigenden Dampfboote am Pier und die klotzigen Pfähle der Sperrkette nach der Musik der letzten Tour – Big Ball Up Town – einen phantastischen Reigen tanzten. Es war eine heiße, fiebrig-schwüle Nacht; der Himmel drohte mit schwerem zerrissenem Wettergewölk, das in gespenstischer Prozession vor einem glühenden Wind einherzog, der aus Vulkanen zu blasen schien; Blitz um Blitz züngelte über den Horizont. Jim lauschte, ob nicht irgendwo der freundliche Ton einer Polizeipfeife zu hören sei, das Lachen eines Dammädels oder der Schritt eines Roustabouts. Aber alles blieb stumm wie die schweigenden Boote; die Stimmen des Damms waren gestorben; nirgends in den Fenstern war Licht.

»Ich glaubt, das Row sein tot,« murmelte Jim, »aber mir sein das alles ganz eins, ich wird lassen erzählen das alte Luder.« Er nahm sein Banjo vor und, am löcherigen Trottoir entlang taumelnd, spielte er wie ein Verrückter das Negerlied:

»Ole Joe kickin' up ahind an' afore,
An' a yaller gal a-kickin' up ahind ole Jole.«

Plötzlich war er an den zerbrochenen Stufen gegenüber dem verlassenen Tanzhaus, trat fehl und fiel der Länge nach hin; das Banjo schlug mit einem schwachen Wehlaut auf das holperige Pflaster.

»Verfluchtigen Sch…dreck,« bemerkte Jim.

Ein gräßlich schallendes Gelächter folgte dieser Äußerung. Jim blickte sich suchend nach den Lachern um, aber niemand war zu sehen. Er hielt den Atem an und horchte. Der Spektakel einer Negerunterhaltung schien aus dem alten Tanzhaus zu kommen – das Kee-yah, Kee-yah des Roustaboutlachens, das Trampeln tanzender Füße und die Melodie von »The Arkansaw Traveler«, rasend heruntergespielt von einer kreischenden Fiedel. Jim war zu betrunken, um sich darüber klar zu werden, wo er eigentlich war; der Damm schien eine Meile lang geworden zu sein, und wahrscheinlich meinte er, das neue Ballhaus vor sich zu haben. Er torkelte zur Tür, sie war geschlossen; er klopfte, aber niemand gab Antwort. Da drehte er ein Müllfaß unter das Fensterchen, stieg drauf und sah hinein.

Ein mattes meergrünes Licht füllte den alten Saal – ein Schimmer wie das ungewisse Strahlen der tiefen Wasser, das dem Taucher auf seinem Wege leuchtet; es schien vom Boden aufzuwallen und über die Wände zur brüchigen Decke emporzusteigen, doch war keine Lichtquelle zu sehen. Das Zimmer war voll von Tänzern, die sich wild und mit gespenstischen Gesten bewegten, und auf der zerbrochenen Holztür, die von ein paar Fässern gestützt war, stand hoch und hager Dave Whitton, der tote Geigenspieler, und fiedelte wie besessen seine Lieblingsmelodie »The Arkansaw Traveler«. Unter den Tanzenden erkannte Jim die Gesichter vieler toter Freunde – Winnie und Tanz-Sis, Em und Matt. Philips, und alle die toten Mädels aus dem Row; in einer Ecke saß der ausgemergelte Dan Booker und schlief über seinem Fechtkorb, wie er es immer getan hatte.

Sie lachten und unterhielten sich miteinander, aber Jim konnte kein Wort verstehen, sei es nun, daß sie in einer fremden Sprache redeten, oder daß die laute Musik ihre Stimmen übertönte. Er beobachtete auch, daß die Füße der grausigen Gäste keinen Staub aufwirbelten, und daß die Gestalten keinen Schatten warfen. Dave Whittons Augen glommen unheimlich, und sein Fiedelbogen schien bei jedem Strich einen fahlen Feuerstreifen hinter sich her zu ziehen.

Als Jim dem Treiben ungefähr eine Stunde lang zugesehen hatte, begann das Bild sich allmählich zu ändern. Die Gestalt des Gespensterfiedlers streckte sich zu immer schrecklicherer Höhe, seine Geige wurde länger und breiter, die Töne, die aus ihr hervorbrachen, klangen wie das Keuchen eines Pferdes, und der Phosphorschein nach jedem Bogenstrich wurde immer heller. Gleichzeitig wuchsen die tanzenden Geister, bis sie an die Decke ragten. Der Geiger spielte nicht mehr den Traveler, es wurde nach der grusligen Weise von »The Devil among the Tailors« weitergetanzt. So rasend wirbelte der Spuktanz, daß die Gestalten zu zerfließen und ineinander überzugehen schienen. Instinktiv blickte Jim zu dem Musikanten hinauf, um zu sehen, ob er schon bis zur Decke gewachsen sei. Aber diese Stufe der Grausigkeit mußte das Unwesen bereits erklommen haben, noch während Jim den Tanzenden in seiner nächsten Nähe zusah. Der lange Geiger war nicht nur bis zur Decke gewachsen, er wuchs jetzt tatsächlich an der Decke entlang, dem Fenster über der Tür zu, und bog sich in schreckenerregender Weise über das Geistervolk unter ihm. Der erschrockene Roustabout rechnete sich unwillkürlich aus, daß bei dieser fürchterlichen Wachstumsgeschwindigkeit der Kopf des Gespenstes in ungefähr einer Minute die Fensterscheibe berühren müßte. Er begann darüber nachzudenken, ob der Geist dann nach unten wachsen und sich wie eine Riesenschlange um den Ballsaal winden würde. Das wogende Licht verlor seinen grünen Schimmer und verfärbte sich in ein fahles Leichengrau, und Jim fühlte, daß die Dinge einer Krise entgegengingen. Die ganze Zeit, während er durch das Fenster schaute, hielt ihn irgendein scheußlicher Zauber dort fest; er hatte nicht einmal die Kraft zu schreien. Er spürte, daß ein einziger lauter Angstruf ihn befreien würde, aber er konnte es nicht einmal bis zu einem Flüstern bringen; eine unheimliche Macht hatte ihn gelähmt und der Stimme beraubt. Plötzlich drang der helle Ton einer Polizeipfeife an sein Ohr – der Polizeileutnant machte seine Frührunde, und der Bann war gebrochen.

»Gott im Himmel,« japste Jim entsetzt, als eine Lichtflut sich über den Damm ergoß – ein Flammen weißen Feuers, dem ein nicht endenwollendes Krachen folgte.

 

Fünf Minuten später fanden zwei Polizisten bei strömendem Regen einen Neger, der wie tot neben einem umgestürzten Müllfaß und einem zerbrochenen Banjo lag.

»Der Blitz muß ganz in der Nähe eingeschlagen haben,« sagte Wachtmeister Brazil. »Das ist ja Banjo Jim; ob's ihn erwischt hat?«

Wachtmeister Knox bückte sich, öffnete das Wollhemd des Roustabouts und fühlte nach dem Herzen.

»Na, er scheint tüchtig was abgekriegt zu haben,« meinte Knox schmunzelnd.

»Vom Blitz?« fragte Patsy Brazil und schickte sich an, selbst nachzusehen.

»Ja, Whisky-Blitz,« erwiderte Knox.

Jim erzählt es anders, und die Dammbewohner treiben sich zur Nachtzeit nicht mehr in der Gegend von No. 17 herum.


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