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Das Zedernkabinett

Das ist nun zehn Jahre her, aber ich werde es niemals vergessen können. Von dem Grunde meiner Erinnerung hebt es sich ab wie eine finstere, grausige Schattenschranke, welche die Zeit meiner glücklichen Mädchenjahre, mit ihren närrischen kleinen Sorgen und ihren reichen unschuldigen Freuden, von dem hellen, liebeerfüllten Leben trennt, das mir nachher beschieden ward. Wenn ich zurückblicke, erscheint mir diese Zeit verhangen von einer dunklen und schrecklichen Wolke, die in ihrem Schoße ein Etwas barg, das trotz zärtlichster Liebe und nimmer ermüdender Pflege zum Tode oder zum schlimmeren Ende, dem Wahnsinn, hätte führen können. In jenen Monaten schleppte sich mein Leben mühselig am Rande des Todes dahin, und wenn mir auch der Schrecken des Irrenhauses erspart geblieben ist, die Gesichte des Grauens und der Furcht sind mir nicht mehr fremd. Ach, diese elenden, elenden Tage und Monate, da ich mich so jämmerlich nach Ruhe sehnte, da Sonnenschein Qual war und jeder Schatten unsagbaren Schrecken barg; da meine Seele nach dem Tode bangte, um von dem Grauen erlöst zu werden, das überall lauerte: in dem zarten Hauch des Sommerlüftchens, in dem zitternden Schatten des kleinsten Blattes auf dem sonnenbeschienenen Gras, in jedem Winkel und in jeder Vorhangfalte in meinem lieben alten Heim. Aber die Liebe blieb siegreich, und ich kann jetzt meine Geschichte, wenn auch mit Schrecken und Verwunderung, daß sie wahr ist, still und ruhig erzählen.

Vor zehn Jahren wohnte ich mit meinem einzigen Bruder in einem jener alten efeubewachsenen, rotgiebligen Pfarrhäuser, die so malerisch über die schönen Ebenen Englands verstreut sind. Archibald und ich waren Waisen; und ich war erst ein Jahr lang die Hausherrin in seinem freundlichen Heim, als Robert Draye mich bat, seine Frau zu werden. Robert und Archie waren alte Freunde, und mein neues Heim, Drayes Court, war von dem Pfarrgrundstück nur durch eine alte graue Mauer mit einer niedrigen eisenbeschlagenen Tür getrennt, die aus dem sonnigen Pfarrgarten in den dämmrigen alten Park führte, der den Drayes seit Jahrhunderten gehörte. Robert war der Gutsherr; und er hatte Archie in die Drayesche Waldpfarre geholt.

Es war die Nacht vor meinem Hochzeitstag, und unser Haus war voll von Hochzeitsgästen. Nach dem Essen waren wir alle in dem großen altmodischen Salon beisammen. Als Robert uns spät am Abend verließ, brachte ich ihn wie immer bis zu der kleinen Pforte; es war, wie er es nannte, unser letzter Abschied; wir blieben eine Weile unter dem großen Nußbaum, durch dessen Zweige der Septembermond sein mildes, reines Licht goß. Mit seinem letzten Gutenachtkuß auf den Lippen und einem Herzen voll von ihm und der Liebe, die mir die Welt erwärmte und bestrahlte, wollte ich nicht mehr in den Festestrubel im Salon zurück, sondern ging langsam in mein Zimmer hinauf. Ich sage »mein Zimmer«, aber es war das erstemal, daß ich es als Schlafzimmer benützte. Es war ein hübsches nach Süden gelegenes Zimmer, dessen Wände mit Tafelwerk aus reich geschnitztem Zedernholz bekleidet waren, das die Luft mit einem aromatischen Duft erfüllte. Ich hatte es bei meiner Ankunft zu meinem Zimmer für die Vormittage gemacht; hier hatte ich gelesen, gesungen und gemalt und lange sonnige Stunden verbracht, während Archie nach dem Frühstück in seinem Studierzimmer arbeitete. Ich hatte ein Bett hineingestellt, weil ich es vorzog, allein zu sein; ich hätte sonst mein größeres Schlafzimmer mit zweien meiner Brautjungfern teilen müssen. Es sah hell und behaglich aus, als ich hineinkam; mein Lieblingssessel war vor das Feuer gestellt, und der rote Schein tanzte auf den dunkelglänzenden Wänden, von denen das Zimmer seinen Namen »Das Zedernkabinett« hatte. Mein Mädchen richtete meinen Toilettetisch her, ich schickte sie weg und setzte mich nieder, um meinen Bruder zu erwarten, der wohl noch heraufkommen mußte, mir gute Nacht zu sagen. Er kam; wir plauderten das letztemal vor dem Kamin in meinem Mädchenzimmer; und als er gegangen war, erfolgte noch eine Invasion aller meiner Brautjungfern zu einem Negligé-Empfang.

Als ich schließlich allein war, zog ich die Vorhänge zurück und lehnte mich über das niedrige Fensterbrett hinaus. Der Mond war in vollem Glanz; die kleine Kirche und der Kirchhof jenseits des Rasenplatzes lagen in seinem ruhigen Licht; die weißen Grabsteine, die hier und da zwischen den Zweigen hindurchschimmerten, hätten mich daran erinnern sollen, daß das Leben nicht nur Frieden und Freude ist, – daß Tränen und Kummer, Schrecken und Scheiden ihr Teil an ihm haben, – aber ich dachte nicht daran. Die stille Seligkeit, deren mein Herz voll war, floß in einigen linden Tränen über, die ohne Bitterkeit waren; und als ich mich dann niederlegte, schien tiefer vollkommener Friede mit den Mondstrahlen hereinzufließen, die den Raum füllten und auf den Falten meines für den Morgen zurechtgelegten Brautkleides schimmerten. Ich beschreibe die letzten Augenblicke meines Wachens so genau, um zu zeigen, daß nicht Ausgeburt einer überreizten Phantasie war, was folgte.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich plötzlich ins Bewußtsein zurückgeschleudert wurde. Der Mond war untergegangen, das Zimmer war ganz dunkel; ich konnte gerade noch den schwachen Schein eines bewölkten sternlosen Himmels durch das offene Fenster wahrnehmen. Ich konnte nichts Ungewöhnliches sehen oder hören, aber nichtsdestoweniger war ich mir der Gegenwart eines ungewohnten, schrecklichen Etwas bewußt; ein unbeschreibliches Grauen hemmte meinen Herzschlag; mit jedem Augenblicke wuchs die Gewißheit, daß irgendein böses Wesen in meinem Zimmer war. Ich konnte nicht um Hilfe rufen, obwohl Archies Zimmer ganz nahe war und ich wußte, daß ein Schrei durch diese Totenstille ihn zu mir bringen würde; alles, was ich konnte, war starren, starren, in die Finsternis starren. Plötzlich – und ein Schlag fuhr mir durch jeden Nerv – hörte ich hinter der Täfelung, an die mein Bett mit dem Kopfende gestellt war, ein leises dumpfes Ächzen, dem augenblicks ein boshaft kicherndes Lachen von der anderen Seite des Zimmers folgte. Wäre ich eine der Grabsteinfiguren in dem kleinen Friedhof gewesen, den ich vor wenigen Stunden vom Mond beschienen gesehen hatte, ich hätte nicht unfähiger sein können, mich zu bewegen oder zu sprechen; alle Sinneskräfte schienen in der verzweifelten Anspannung des Gesichts und des Gehörs aufgesogen zu sein. Endlich hörte ich hinkende Schritte, das Aufstoßen einer Krücke auf den Boden, dann wurde es still, und langsam, nach und nach, füllte ein fahles, kaltes, ruhiges Licht das Zimmer. Alles sah noch genau so aus wie in dem Zwielicht von Mond und Kaminfeuer, in dem ich es zuletzt gesehen hatte, und wiewohl ich das grelle Lachen in Abständen hörte, verbarg mir der Vorhang am Fußende des Bettes das Wesen, von dem es kam. Wieder wurde leise, aber deutlich das klägliche Stöhnen hörbar, gefolgt von einigen Worten in einer fremden Sprache, und bei diesem Klang kam eine Gestalt hinter dem Vorhang hervor, – ein verkrüppeltes, häßliches Weib in einem weiten Kleid aus schwarzem Stoff mit Goldsternen übersät, die einen trüben Glanz in dem geheimnisvollen Licht ausstrahlten; eine hagere, gelbe Hand griff nach dem Vorhang meines Bettes; juwelenbesetzte Ringe glitzerten auf ihr; – langes schwarzes Haar fiel in schweren Flechten aus einem goldenen Reif über die Verwachsene. Ich sah das alles so deutlich, wie ich jetzt die Feder sehe, die diese Worte schreibt, und die Hand, die sie führt. Das Gesicht war von mir abgewandt, zur Seite gedreht, als tränken die Ohren gierig diese flehenden Jammerlaute; ich bemerkte sogar die grauen Strähnen zwischen den langen Flechten, als ich hilflos in stummem, wirrem Grauen dalag.

»Noch einmal!« sagte sie heiser, als die Töne zu undeutlichem Murmeln verklangen, und einen Schritt vorgehend, stieß sie hart mit einer Krücke an die Zederntäfelung; dann wieder erhob sich lauter, dringender die Stimme zu stürmischem Flehen; diesmal waren es englische Worte.

»Hab Mitleid! Mitleid nicht mit mir, aber mit ihr, mit meinem Kind, mit meiner Kleinen; sie hat dir nichts getan. Sie stirbt, sie stirbt hier in Finsternis; laß mich nur einmal noch ihr Gesicht sehen. Der Tod ist ganz nahe, nichts kann sie jetzt retten; aber gib mir einen Lichtstrahl, und ich will für Dich beten, daß Dir vergeben werde, wenn es überhaupt Vergebung gibt für Deinesgleichen.«

»Ah, kniest Du endlich! Knie vor Gerda, und knie vergeblich. Einen Lichtstrahl! Nicht, wenn Du mit Diamanten dafür bezahlen könntest. Ihr seid mein! Schrei und ruf, soviel Du willst, niemand kann Dich hören. Sterbt zusammen. Ihr gehört mir und den Qualen, mit denen ich Euch peinigen will; mein seid Ihr, mein, mein!« Und wieder schlug das gräßliche Lachen durch den Raum. In dem Augenblick wandte sie sich um. Oh, dieses Gesicht voll grauenhafter Bosheit, das mein Blick traf! Die grünen Augen leuchteten, und mit dem Knurren eines wilden Tieres sprang sie auf mich zu; das scheußliche Gesicht berührte fast das meine; der Griff ihrer fleischlosen juwelengleißenden Hand war dicht über mir; dann – muß ich wohl das Bewußtsein verloren haben.

Viele Wochen lag ich an einem Gehirnfieber darnieder, so verängstigt und überreizt, daß ich noch heute nicht daran zurückdenken will. Auch als die Krisis schon glücklich überstanden war, erholte ich mich nur sehr, sehr langsam; mein Geist war zu Tode erschöpft. Ich lebte in einer Schattenwelt. So ging der Winter vorüber, und so kam der schöne Frühlingsmorgen heran, an dem ich endlich als Braut an Roberts Seite in der alten Kirche stand, kalt, indifferent, fast widerwillig. Es war mir ganz gleich, zu irgendeinem Vorschlag ja oder nein zu sagen; so faßten Robert und Archie für mich Beschlüsse; und ich gestattete ihnen, mit mir zu tun, was sie wollten, während ich still und unaufhörlich über der Erinnerung an diese schreckliche Nacht brütete. – Meinem Mann erzählte ich eines Morgens in einem sonnigen bayrischen Tal alles, und mein schwacher verschreckter Geist sog aus dem seinen Kraft und Frieden; das peinigende Grauen blieb allmählich fort, und als wir nach fast zwei Jahren nach Hause kamen, war ich kräftig und munter wie in meiner Mädchenzeit. Ich hatte glauben gelernt, daß alles das nicht die Ursache, sondern der Anfang meines Leidens gewesen sei. Ich sollte bald eines anderen belehrt werden.

Unsere kleine Tochter war in der Rosenzeit zu uns gekommen; und nun war Weihnachten da, unser erstes Weihnachten zu Hause, und das Haus war voller Gäste. Es wurde ein entzückendes altfränkisches Fest mit Schlittschuhlaufen und allerlei Spaß im Freien und voller Fröhlichkeit im Haus. Gegen Neujahr setzte schwerer Schneefall ein, der uns alle zu Gefangenen machte; aber gerade damals verflogen die Tage fröhlich, und jemand machte den Vorschlag, an den Abenden lebende Bilder zu stellen. Robert wurde zum Arrangeur gewählt; nach einer kurzen Debatte wurden die Sujets bestimmt, und nun erhob sich die Frage, woher wir in so kurzer Zeit Kostüme nehmen könnten. Mein Mann schlug einen Beutezug zu einigen geheimnisvollen Eichentruhen vor, die vor Jahren in ein Turmzimmer geschafft worden waren. Er erinnerte sich, als Junge einmal dabei gewesen zu sein, als der Hausmeister sie durchsah, und ihr Inhalt hatte in ihm eine nebelhafte Vorstellung hinterlassen von prachtvollen alten Brokaten, Goldspitzen, gürtellosen Kleidern, Reifröcken und Kapuzen; alles Dinge, deren Aufzählung allein uns in einen Zustand exaltierter Begeisterung versetzte. Mrs. Moultrie wurde gerufen, bückte gebührlich entrüstet über die Entweihung von Sachen, die für sie heilige Reliquien waren; da sie aber einsah, daß nichts dagegen zu machen war, zeigte sie den Weg, einen Protest in jeder rauschenden Falte ihres steifen Seidenkleides.

»Was für ein entzückender alter Raum,« rief alles, als wir in das lange eichengedielte Zimmer traten, an dessen Vorderseite in gefälliger Ordnung die Truhen mit dem begehrten Inhalt standen. Mit stillschweigendem Protest öffnete die arme Mrs. Moultrie eine nach der anderen, und bat dann, sich zurückziehen zu dürfen, um von uns ungehört über die »Verwüstung« klagen zu können. Im Nu war der Boden mit Haufen aus Samt und Seide bedeckt. »Meg,« schrie die kleine Janet Grawford, und hüpfte zu mir, »sind wir nicht gut dran, im Zeitalter der Tülle und leichten Seiden? Stell' Dir vor, Du wärst für Dein ganzes Leben in so einer Festung gefangen!« Dabei hielt sie ein schweres Brokatkleid, karmoisin mit Gold, in die Höhe, das überall mit Fischbeinen gesteift war. Sie warf es auf die Seite, versank halb in einer anderen Truhe und wurde still. Dann – »Schauen Sie, Major Fraude! Das ist das Richtige für Sie – ein echtes Astrologengewand, ganz aus schwerem Samt mit Goldsternen. Wenn es nur lang genug wäre; es paßt gerade mir.«

Ich drehte mich um und sah – die kleine schmächtige Gestalt des harmlosen Mädchens in dem schwarz und goldenen Kleid, das dem andern ganz genau glich – dem andern, an das ich mich nur zu genau erinnerte. Mit einem Schreckensschrei verbarg ich mein Gesicht und kauerte mich nieder. »Leg es ab! Janet – Robert – so nimm es ihr doch ab!«

Alle drehten sich verwundert um. In einem Augenblick sah und erfaßte mein Mann die Ursache meines Schreckens, packte das Kleid, warf es in die Truhe zurück und machte den Deckel zu. Janet sah ein wenig beleidigt aus, aber die Wolke war sofort verflogen, als ich sie küßte und mich entschuldigte, so gut ich konnte. Rob lachte über uns beide und meinte, wir sollten das Suchen aufschieben, bis die Truhen in ein wärmeres Zimmer gebracht wären, wo wir dann mit mehr Ruhe alles durchstöbern könnten. Bevor wir hinuntergingen, traten Janet und ich in ein kleines Vorzimmer, um uns einige alte Bilder anzusehen, die gegen die Mauer gelehnt waren.

»Das wäre ein guter Rahmen für die lebenden Bilder, Jenny,« sagte ich, auf einen riesigen Rahmen zeigend, der mindestens zwölf Quadratfuß groß war. »Da ist ein Bild drin,« fügte ich hinzu und zog die staubigen Falten eines schweren Vorhangs auseinander, der es verbarg.

»Der läßt sich ja ganz leicht bewegen,« sagte mein Mann, der uns gefolgt war.

Mit seiner Hilfe zogen wir den Vorhang ganz zur Seite, und in dem jetzt schnell abnehmenden Licht konnten wir gerade noch die Figur eines Mädchens in Weiß gegen einen dunklen Hintergrund unterscheiden. Robert rief um eine Lampe; als sie kam, drehten wir uns voller Neugier um, das Bild anzusehen, über dessen Vorwurf wir während des Wartens die närrischsten Wetten gemacht hatten. Das Mädchen war jung, fast noch ein Kind – wunderschön, aber unsagbar traurig! Große Tränen standen in den unschuldigen Augen und auf den jungen runden Wangen, und ihre Hände klammerten sich zärtlich um die Arme eines Mannes, der sich zu ihr neigte, und, träumte ich? – nein, da war in abscheulicher Deutlichkeit die gräßliche Frau vom Zedernkabinett, die gleiche in jeder der verzerrten Linien, sogar das Sternenkleid und der goldene Haarreif fehlten nicht. Die dunklen Farben von Kleid und Gesicht hatten uns sie erst übersehen lassen. Dieselben bösen Augen starrten mich an. Einen wilden Satz machte mein Herz, dann schien sein Schlagen aufzuhören, und ich wußte nichts mehr. Auf eine lange tiefe Ohnmacht folgte große Abgespanntheit und eine Nervenüberreizung: meine Krankheit brach wieder aus, und Monate hindurch blieb ich anfällig. Als Roberts Liebe und Geduld mir meine alte Gesundheit wieder erobert hatten, erzählte er mir die Geschichte, so wie sie in alten Familienerinnerungen erhalten war.

Im 16. Jahrhundert regierte in Draye Court ein böses verwachsenes Weib. Ihr verkrüppelter Leib, ihr scheußliches Gesicht und vor allem ihre Bösartigkeit, die sie alles Gute und Schöne wegen seines Gegensatzes zu ihr selbst hassen und erniedrigen hieß, ließen jedermann sie fürchten und meiden. Eine Gabe nur hatte sie: Talent für Musik. Aber die Weisen, die sie mit Meisterhand mannigfachen Instrumenten entlockte, waren so wild und so fremdartig, daß diese Gabe die Furcht, mit der sie angesehen ward, nur vermehrte. Ihr Vater war gestorben, ehe sie auf die Welt kam; die Mutter hatte ihre Geburt nicht überlebt; nahe Verwandte waren nicht da. Von frühester Jugend auf hatte sie hier ihr einsames liebeleeres Leben gelebt. Als ein junges Mädchen ins Haus kam, wußte man nur, daß es eine arme Verwandte war. Die finstere Frau schien die junge Kusine mit freundlicheren Blicken anzusehen als jeden anderen, der bisher ihren dunklen Pfad gekreuzt hatte; und wirklich, so groß war der Zauber, den Marians Güte, Schönheit und unschuldige Heiterkeit auf jedermann ausübten, daß die Dienstboten sich nicht darüber wunderten, als sie die Gunst ihrer düsteren Herrin mehr und mehr gewann. Das Mädchen schien eine Art verwunderter, mitleidiger Zuneigung zu diesem unglücklichen Weib zu hegen: sie sah sie in einer von ihrem eigenen sonnigen Naturell geschaffenen Atmosphäre, und eine Zeitlang ging alles gut. Als Marian ein Jahr dagewesen war, erschien ein fremder Musiker auf der Bildfläche. Er war Spanier und war von Lady Draye zum Bau einer Orgel engagiert worden, die von unerhörter Macht und Süße sein sollte. Lange strahlende Sommertage hindurch blieben er und die Herrin von Draye Court im Musikzimmer eingeschlossen – er war mit der Konstruktion des wunderbaren Instruments beschäftigt, sie half ihm und überwachte die Arbeit. Diese Tage verbrachte Marian auf vielerlei Art – mit süßem Nichtstun und angenehmen Beschäftigungen; lange Ritte auf ihrem kleinen Ponyfuchs, mit der Angelrute verträumte Morgen am Bach, ein Gang ins nahe Dorf, wo sie allerorten willkommen war. Sie spielte mit den Kindern, wartete die Kleinsten, ging den Müttern zur Hand, schwatzte mit den Alten und verschönte jedermann, mit dem sie in Berührung kam, den Tag. Dann am Abend saß sie mit Lady Draye und dem Spanier im Saal, wo sie sich in der weichen fremden Sprache unterhielten, deren sie sich gewöhnlich bedienten. Aber das war nur das Vorspiel; das schreckliche Drama stand noch bevor. Das Motiv war natürlich das eines jeden Lebensdramas, das sich seit den uralten Tagen abspielte, da sich der Vorhang über der Gartenszenerie des Paradieses hob. Philipp und Marian liebten einander, und nachdem das süße Geheimnis zwischen ihnen ausgesprochen war, wollten sie, wie es ihre Pflicht war, die Patronin davon unterrichten. Sie fanden sie im Musikzimmer. Ob der Blick in eine schönere Welt, die ihr verschlossen war, sie rasend machte, oder ob auch sie den Fremdling liebte, ist nie bekannt geworden; aber durch die verschlossene Tür wurden heftige Worte gehört, und sehr bald kam Philipp allein heraus und verließ das Haus, ohne jemand Lebewohl zu sagen. Als die Diener endlich einzutreten wagten, fanden sie Marian leblos auf dem Boden. Lady Draye stand mit hocherhobener Krücke vor ihr, und Blut floß aus einer Wunde auf des Mädchens Stirn. Sie trugen sie hinaus und pflegten sie sorgsam; ihre Herrin verschloß die Tür, als sie gegangen waren, und blieb die ganze Nacht allein im Dunklen. Die Musik, die pausenlos in die stille Nachtluft hinausströmte, war verruchter und gottloser als alle Weisen, die bisher aus ihren Fingern geflossen waren; sie hörte mit dem Morgenlicht auf; und als der Tag anbrach, merkte man, daß Marian während der Nacht entflohen war, und daß Philipps Orgel ihr letztes Lied gesungen – Lady Draye hatte sie zertrümmert und für immer zum Schweigen gebracht. Sie schien niemals von Marians Abwesenheit Notiz zu nehmen, und niemand wagte es, deren Namen zu erwähnen. Nie ließ sich etwas Sicheres über sie in Erfahrung bringen; man nahm an, daß sie sich mit ihrem Geliebten vereint hätte.

Jahre vergingen, und mit jedem wurde Lady Drayes Charakter unerträglicher und bösartiger. Sie verließ ihr Zimmer nur einmal im Jahr, bei der Wiederkehr jener unheilvollen Nacht; dann hörte man stundenlang das Aufschlagen ihrer Krücke und ihrer hochstöckligen Schuhe, während sie im Musikzimmer auf und ab ging, das sie nur einmal im Jahre zu dieser Nachtwache betrat. Der zehnte Jahrestag war herangekommen, und dieses Mal wachte sie nicht allein. Die Diener hörten deutlich eine Männerstimme in ernsthafter Unterhaltung mit ihren schrillen Tönen; sie lauschten lange, und schließlich wagte einer der Kühnsten, selbst ungesehen, hineinzuspähen. Er sah einen erschöpften reisebeschmutzten Mann, bestaubt, mit wundgelaufenen Füßen, ärmlich gekleidet; trotzdem erkannte er sofort den hübschen fröhlichen Philipp von einst. In seinen Armen trug er eine kleine verhüllte Gestalt; lange Locken, die denen der armen Marian glichen, flossen über seine Schultern. Er schien in der fremden musikalischen Sprache für den kleinen Schützling zu bitten; denn während er sprach, schlug er mit behutsamer Hand den Mantel zurück und ließ das Gesichtchen eines schlafenden Kindes sehen; das sollte, meinte er wohl, für sich selber sprechen. Das Weib hob mit einer wilden Bewegung seine Krücke, um nach dem Kinde zu schlagen; er wich rasch zurück, bückte sich nieder, küßte das kleine Mädchen, dann wandte er sich wortlos und ging. Lady Draye rief ihn mit einer herrischen Gebärde zurück, sagte ein paar Worte, die er dankbar anzunehmen schien, und gemeinsam verließen sie das Haus durch das offene Fenster, das auf die Terrasse führte. Die Diener folgten ihnen: sie nahmen den Weg zum Pfarrhaus, das damals unbewohnt war. Die Leute meinten, er sei wohl in irgendeiner politischen Gefahr, dazu in dürftigster Armut, und die Herrin hätte ihn hier verborgen, bis sie ihm eine bessere Zuflucht verschaffen könnte. Einige Nächte ging sie zum Pfarrhaus und kehrte vor der Morgendämmerung zurück; sie glaubte sich dabei unbeobachtet. Aber eines Morgens kam sie nicht wieder; ihre Leute berieten sich untereinander; die vermeintliche gute Tat an Philipp und seinem Kinde hatte in den Herzen der Dienerschaft freundlichere Gefühle für die Alte geweckt; sie suchten sie im Pfarrhaus und fanden sie tot auf der Schwelle; die steifen Finger hielten eine Phiole umklammert. Es war kein Anzeichen dafür da, daß Philipp und sein Kind bis zuletzt dagewesen wären; man nahm an, daß sie sie weggeschickt hätte, bevor sie sich tötete. Sie legten sie in ein Selbstmördergrab. Mehr als fünfzig Jahre blieb das Pfarrhaus verschlossen. Obwohl es dann später wieder bewohnt wurde, war niemand durch die Erscheinung erschreckt worden, die ich gesehen hatte.

Robert beschloß, den Flügel, der das Spukzimmer enthielt, niederreißen und neu aufbauen zu lassen; und bei dieser Gelegenheit wurde die Wahrheit meiner Geschichte auf das schauerlichste bestätigt. Als die Wandbekleidung im Zedernkabinett abgenommen wurde, entdeckte man eine Nische in der massiven alten Mauer, in der die vermoderten Reste eines Männer- und eines Kindergerippes lagen!

Daraus konnte nur ein Schluß gezogen werden; das böse Weib hatte sie unter dem Vorwand, sie verbergen und ihnen helfen zu wollen, hier eingeschlossen; und als sie ihr auf Gnade und Ungnade ausgeliefert waren, kam sie Nacht für Nacht, mit unausdenkbarer Grausamkeit sich an ihrer Ohnmacht zu weiden; und als ihre langen Qualen ein Ende gefunden hatten, beschloß sie ihr Leben durch Selbstmord. Über das rätselhafte Bild konnten wir nichts erfahren. Philipp war ein Künstler, und es mag sein Werk gewesen sein. Wir haben es zerstört, damit uns nichts mehr an diese schreckliche Geschichte erinnere. Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich erst durch diese düstern Tage – Lady Drayes Hinterlassenschaft des Grauens und des Entsetzens – den unermeßlichen Schatz kennen gelernt habe, den ich in der zärtlichen, unermüdlichen, treuen Liebe meines Mannes besitze.


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