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Im Armenviertel von Cincinnati

Westen, Siebente Straße No. 206, 208, 210 und die geheimnisvollen Hofgebäude, die sich an ein schmales Gäßchen drängen: jämmerliche Quartiere von so pittoresker Armseligkeit, wie sie sonst wohl nirgends innerhalb der Stadtgrenzen zu finden ist, nicht einmal in den Höhlenlabyrinthen des berüchtigten Negerviertels im Ostende. Enge Durchgänge – der Putz ist in unförmigen Stücken von den Wänden gebröckelt – führen zwischen Holzbuden in verwinkelte Hinterhöfe, die im Norden eine Gruppe dreistöckiger Häuser begrenzt. Diese heißen gemeinhin die Baracken, und hier wohnen die Ärmsten der Armen. Im Hofe selbst steht ein Holzbau von grotesker, geradezu unwahrscheinlicher Gestalt; er mag in einer Zeit, da die Stadt noch nicht vom Fluß weg nach Norden und Westen gekrochen war, Bauern als Wohnhaus gedient haben, – nun aber, eingezwängt zwischen die Blöcke der Mietskasernen, steht er da gleich einem jener altersschwachen Hüttchen, die sich um die alten Kathedralen Europas ducken, wie Schutz suchend unter dem Schatten eines mächtigen Glaubens. Verzogen und ganz aus dem Lot sieht es aus wie der Zeichenversuch eines Kindes; Teile des Erdgeschosses sind in den Boden versunken, und nur noch die Südseite des Hauses wird von alten Leuten bewohnt, die mit ihren Erinnerungen und ihren Toten leben.

Hier ist der Pfleger ein häufiger und gern gesehener Besucher, und hier begann unser Rundgang, der uns so viele quälende und doch in ihrer Bildhaftigkeit fesselnde Eindrücke vermitteln sollte. Durch eine verfallene Tür traten wir in die Finsternis eines kleinen Zimmers; die Decke war so niedrig, daß wir fast daran stießen, und in der grauen Dunkelheit, durch die von der Fensterwand ein trüber Lichtfleck schimmerte, flackerte die Ofenglut und schnitt eine breite Bahn von Rot durch die schweren Rauchschwaden.

Das Weinen eines Kindes klang durch die Dunkelheit; und die rauhen Stimmen der Alten, die zu beiden Seiten des flackernden Lichtstreifens saßen, begrüßten die Besucher. Mann und Frau waren Schwarze; er war achtzig Jahre alt und hatte das Lächeln seiner Kinder und Kindeskinder gesehen; die Frau war kaum jünger. Sie erzählten uns von ihrem Leben auf einer Plantage in Virginia, wo sie vor sechzig Jahren einander kennen gelernt hatten; sie gedachten ihres alten Masters, der ihnen später die Freiheit geschenkt hatte, und kramten aus ihrer Erinnerung dieses und jenes hervor, was unsere teilnehmenden Fragen in ihnen wachriefen. Ihre Gesichter waren in der Nacht um den dünnen Lichtstrom nicht zu unterscheiden, aber ihre Stimmen, die aus dem Düster und dem Rauch zu uns sprachen, hatten etwas von einer schwermütigen Poesie, – der Poesie zweier Leben, die einander im Sommer vollkräftiger Jugend begegneten und nun am Ende kaum etwas anderes wissen, als daß damals ein starkes Band ihre Herzen vereinigte, noch ehe Sommer und Sonnenschein vergangen waren; und nun das große Dunkel immer näher kommt, schließen sie sich nur inniger zusammen.

… Ein Stockwerk höher. Wir tappten uns vorsichtig einen knarrenden Korridor entlang; verhungerte Ratten hatten die Dielen angefressen. Wir kamen in ein kleines, winkliges Zimmer, kümmerlich erhellt von der tropfenden Kerze und dem Schein des erlöschenden Herdfeuers; die Kalktünche an den Wänden hatte Unschlittfarbe bekommen; ein Haufen Kohle war fast bis an die schmierige Decke aufgestapelt; undefinierbar lange, schäbige Kleidungsstücke hingen herum, und mit ihren zerfetzten Konturen sahen sie aus, als ob sie gespenstische Fratzen hinter den verwelkten Leibern her schnitten, die sie bekleidet hatten. Am Feuer saßen zwei Frauen. Durch die dünnen Kleider der einen schimmerten die weichen Linien eines jugendlichen Körpers; aber ihr Gesicht war im Schatten und unter einem Schleier verborgen. Der Kopf der anderen stand in hartem Relief gegen das unruhige Licht aus Kerzenschein und Ofenhelle. Es war das Profil einer alten Frau – ein scharf geschnittener Kopf mit den Spuren großer Schönheit in seinen Umrissen, jener herben Schönheit der wilden Rassen, die den Köpfen der Alten etwas Raubvogelhaftes gibt, wenn die Formen der Jugend verwittert sind.

»Diese alte Dame,« bemerkte lächelnd der Pfleger, »ist über die Zweiundsiebzig hinaus. Sie hat Indianerblut in den Adern und ist auch recht stolz darauf.«

Die Züge des schmalen feinen Gesichts mit den durchdringenden Augen schienen für diese Behauptung zu sprechen, wenn auch Geschichten dieser Art nicht selten aufgetischt werden, um eine »dunklere« Abstammung dahinter zu verbergen. Sie hatte alle ihre Verwandten verloren; aber ein paar arme Freunde halfen ihr durch, und auch die Stadt zeigte sich mildtätig. Es gab Leute, die sie für zauberkundig hielten und bei unvorhergesehenen Schicksalsschlägen ihren Rat einholten; andere, wie die schweigsame Besucherin an ihrer Seite, liebten es, sich mit ihr zu unterhalten und von den alten Zeiten zu plaudern. Mit jener minutiösen Genauigkeit von Leuten, die vorwiegend in ihren Erinnerungen leben, erzählte die alte Frau in bester Laune von ihren Jugendjahren; je älter sie würde, sagte sie, um so lebendiger würden ihre Kindheitserinnerungen. »Denn erst in den letzten Jahren kann ich mich auf das Gesicht meiner Mutter besinnen, die starb, als ich noch ein kleines Kind war.«

Und diese Wiederkehr der Vergangenheit, dieses plötzliche Emportauchen verschütteter Erinnerungen im Geiste der alten Frau, die in ihrer Einsamkeit saß mit den Schatten Verstorbener und mit toten Gedanken, das hatte etwas so Rührendes, daß ich fragen mußte:

»Können Sie mir davon erzählen?«

»Ich sehe ihr Gesicht,« kam langsam die Antwort; »es ist das Gesicht einer schönen toten Frau, die Augenlider sind geschlossen, langes schwarzes Haar fällt dunkel über ein weißes Kissen. Und das weiß ich nur durch eine noch stärkere Erinnerung. Auf einem kleinen Brückensteg, der über einem schmalen Wasserarm Hegt, kauert eine Magd und wäscht eine weiße Haube und ein langes weißes Kleid. Jemand kommt und fragt, wer denn gestorben sei; und da weiß ich plötzlich, meine Mutter ist tot.«

… Während wir Korridor um Korridor und Zimmer um Zimmer im Gebäudekomplex durchschritten, ließen uns alle diese neuen Bilder und Eindrücke bald erkennen, daß die Armut in Cincinnati nicht nur die charakteristischen, allem großstädtischen Elend gemeinsamen Merkmale trägt, sondern daß ihre Schlupfwinkel, ihre Kleidung, ihr Möbelkram, ihre Gewohnheiten, Leiden und Bedürfnisse, ja auch ihre Wohnstätten überdies eine gewisse lokale Uniformität zeigen, die unverkennbar ist. Die Quartiere des Grundstücks sahen einander so ähnlich, daß die Beschreibung eines einzigen von ihnen für ein ganzes Dutzend Geltung hat; wenn man eine Reihe von ihnen gesehen hatte, blieb nur eine vage, ganz allgemeine Erinnerung zurück, und nur mit Hilfe dieses oder jenes ungewöhnlichen Eindrucks konnte man einzelne Bilder vor dem Untergehen in der Einförmigkeit bewahren. Das gleiche verwahrloste Zimmer, der gleiche rissige Ofen, die gleichen schmutzigen Wände mit der phantastischen Verkleidung aus verschossenen Fetzen und mit den grotesken Schatten scharfer Profile; der gleiche Haufen städtischer Kohle in einer Ecke, das gleiche Kerzenstümpfchen, das an der Mineralwasserflasche heruntertropft; das gleiche schmale ungemachte Bett mit der gleichen zerschundenen Kommode am Fußende, derselbe warme Dunst und widerliche Gestank. Sogar die Gesichter der alten Weiber schienen fast alle nach ein und derselben Schablone gefertigt zu sein. Als aber der Kreis unserer Beobachtungen sich mehr und mehr erweiterte, begannen diese Ähnlichkeiten nach verschiedenen Richtungen zu divergieren; der Pfleger war genötigt, scharfe Grenzen zwischen einzelnen Klassen des Armenviertels zu ziehen. Alte Iren zum Beispiel, die zu den Pfleglingen der Stadt gehören, bilden eine Klasse für sich, und zwar eine ziemlich große. Im Gegensatz zu den armen Farbigen wissen sie leidlich zu leben und ihren bescheidenen Wohnungen eine gewisse Behaglichkeit zu geben.

Diese Merkmale und Klassenunterschiede fielen schon, ehe der Pfleger seine letzten Besuche in den Baracken der Siebenten Straße machte, an einigen Rosenkranz betenden alten Weiblein auf, die im irischen Idiom den Segen des Himmels auf ihren Wohltäter herabflehten. Später, besonders bei den allerletzten Besuchen, wurden diese Charakteristika immer markanter.

… Der Pfleger erzählte mir von einem originellen Negerweib, das sich in diesen Quartieren aufzuhalten pflegte. Gerüchten nach war sie hundertundsiebzehn Jahre alt. Sie war als junges Mädchen von Afrika durch einen Sklavenhändler nach den Staaten gebracht worden und erinnerte sich noch jetzt mancher interessanten Dinge, der tropischen Bäume und seltsamen Tiere, der bienenkorbartigen Hütten ihrer Leute, des Brüllens der Raubtiere durch die Nacht, der Gebräuche des Stammes und einiger Vokabeln ihrer Muttersprache. Aber sie war diesmal nicht zu finden; später hörten wir, daß sie gar nicht von ihrer Heimat, sondern von Washington zu reden pflegte.

Nach einer kurzen Runde durch die Häuser an der Kirche besuchten wir eine baufällige Hütte der Achten Straße. Der Zustand der Verwahrlosung und des Verfalls im Inneren war uns nichts Neues; aber in der Tür tauchte im Schein einer zitternden Kerze, ein spitzes, welkes Gesicht auf, so versorgt und vergrämt, daß ich tagelang die quälende Erinnerung daran nicht loswerden konnte. Tiefe Schatten lagen um die Augen, und die langen, harten Furchen um den Mund sprachen von der Mutlosigkeit und apathischen Erstarrung eines Lebens voll bitterer Enttäuschungen. Das Weib sah den Besuchern scheu und verängstigt entgegen, und es war fast fühlbar, wie verletzend in dieser Atmosphäre ewigen Elends der Anblick eines glücklicheren Wesens wirkte.

»Wie geht's dem Alten?« fragte der Aufseher freundlich.

Sie zuckte verdrossen die Achseln und entgegnete mit heiserer, brüchiger Stimme, daß er ins Armenhaus gegangen wäre. Ihr achtzigjähriger Mann hatte sie in ihrer Schwäche und Hilflosigkeit allein gelassen; sie konnten nicht »länger mit einander auskommen; er fing immer Krach an und war ganz kindisch«.

»Hm,« warf der Pfleger hin, »sonst leben wohl keine Verwandten mehr, was?«

Die alte Frau lächelte ein vergrämtes Lächeln und ging mit dem Licht zu einer alten Kommode, einem jämmerlichen Ding, das sich an das armselige Bett lehnen mußte, um nicht umzufallen. Sie kramte hastig in den unteren Schubladen und brachte einen vergilbten, abgegriffenen Brief heraus, den sie uns hinhielt. Er war aus einer Minenstadt im fernen Westen datiert. Er erzählte von einer glücklichen Heirat, Aussichten auf Reichtum, schönen Erfolgen in der Jagd nach dem Glück und versprach den Alten den Beistand eines starken Sohnes.

»Das war der letzte,« murmelte sie, »… 1849.«

Wie oft und wie gern mochte dieser Brief gelesen und immer wieder gelesen worden sein, bis es so weit war, daß sein altes Papier still blieb, wenn die welke Hand es in bitterer Verzweiflung zerknüllte, um es schließlich doch wieder nur glatt zu streichen und die bösen Kniffe zu entfernen. Müde kamen und gingen die Jahre; mit ihnen kam die Not, und sie ging nicht wieder; Winter um Winter, und jeder schien härter noch als sein Vorgänger, deckte die Straßen weiß zu, und unheimlich wimmerte am Schlüsselloch der Wind; das kleine Minenstädtchen im fernen Westen war eine große Stadt geworden; aber das Schweigen blieb für immer ungebrochen, und langsam erstarb das Vertrauen in die Hand, die die vergilbten Worte »Liebe Mutter« geschrieben hatte, wie das rote Leben glimmender Kohle in der grauen Asche erlischt. Und seltsam: als sich die Tür mit heiserem Kreischen hinter uns geschlossen hatte, fühlten wir ganz stark, daß in dieser Nacht beim flackernden Kerzenlicht der Brief noch einmal gelesen würde, ehe er an seinen verstaubten Ruheplatz wanderte.

… Dieses Wandern durch die Stätten der Armut, durch lichtlose Behausungen und verfaulende Hütten, durch übelriechende Sackgassen, in deren Namen schon die Vorstellung von Düsterem und Häßlichem lag, – sie erregte den Geist zu einer magischen Schau des Gesehenen, die wie ein Alp auf die Seele drückte. Es war eine spukhafte und grausige Vision – ein Traum von schwarzen, taumelnden Häusern mit abgelegenen Gängen und nicht endenwollenden Treppen; mit endlosen Fluchten verkrüppelter Zimmer: die Böden schief, die Mauern verbogen: an den fahlen Wänden lange Fetzen und abgerissene Gewänder wie schemenhafte Besucher oder Blendwerk der Toten; und all die Kammern waren bevölkert mit hageren Schatten und versteinerten Gesichtern, die sie mit der Bitternis verwelkter Hoffnungen erfüllten und mit der Pein des Wartens auf den großen Schlaf, den gewaltigen Schatten, der sich schweigend über die kleinen Finsternisse senkt und alles in sich saugt. Die fürchterliche Vorstellung dieses Wartens auf ein einsames Ende – allein mit den Erinnerungen und der wilden Phantasmagorie des Feuerscheins an den Wänden; sich entsetzend vor der Grimasse des eigenen Schattens; vor dem erblindeten Spiegel mit Grauen zusehend, wie die Umrisse des Schädels allmählich durch die Fleischmaske treten – diese Vorstellung trieb uns einen eisigen Schauer durch alle Glieder.

… »Sechzehn Jahre im Bett,« sagte der Pfleger mit mitleidheischendem Blick. Es war im zweiten Stock eines verrußten Hauses auf dem Felsen von Eggleston Avenue Hill. Der Kranke war ein alter Mann; seine Glieder waren aufgedunsen, und die Erlösung durch den Tod konnte nicht mehr weit sein. Das Zimmer sah aus wie alle anderen, nur daß in seiner Mitte ein unregelmäßiges Loch klaffte, zur Hälfte durch ein zerbrochenes Waschfaß verdeckt; und auch die übliche Altweibergestalt mit der Elendsmiene fehlte nicht. Der Hinsterbende stöhnte von Zeit zu Zeit schwach und murmelte in seinem Irisch ergebungsvolle Gebete.

»Obs besser geht?« krächzte die Alte mit einem resignierten Heben der Arme, das einen Hexenschatten auf die Wand warf. »Oh je, mein Herzchen, wenn man mal so weit ist, da gibts kein Besser mehr, das weiß der liebe Himmel.«

»Er soll jetzt wohl schlafen, nicht?« nickte der Pfleger und dämpfte seine Stimme zu einem teilnehmenden Flüstern.

»Nich pischpern, Herzchen; wir ham so Angst vor ihr,« sie zeigte auf das Loch im Boden, »vor dem Deibel da unten unter uns.«

Sie hatte noch nicht geendet, als das Keifen einer wütenden Weiberstimme heraufscholl; wir hörten das Geräusch von schweren Schlägen, dazwischen das Weinen eines mißhandelten Kindes. Da unten wurde ein Kleines grausam geschlagen, und sein ersticktes Schreien war der Hilferuf hoffnungsloser Angst und Pein. Immer wieder und immer dichter hagelten die Schläge, es schien, als könnte nur ein Erlahmen des rasenden Arms ihnen ein Ende setzen; die Schreie wurden immer heiserer, die Pausen zwischen ihnen immer länger, bis sie schließlich ganz verstummten und nur noch ein ersticktes Gurgeln zu hören war. Dann brach das Geräusch der Schläge ab, und etwas fiel schwer zu Boden; das Keifen hub von neuem an.

»Mein Gott,« murmelte der Pfleger, »sie muß ihre Kinder ja totprügeln.«

»Freilich bringt se se um,« wisperte die Alte und sah erschrocken auf das Loch im Boden, als ob sie fürchtete, der »Deibel« könnte auf einmal darin auftauchen.

»Aber wie oft passiert denn das?«

»Das, – wie oft das passieren tut? Oh je, das hört ja gar nie nich auf, nee, überhaups nich. Hoch, die verprügelt die armen Würmer ja immer, wenn sie'n Troppen zuviel hat, – nach Troppen kann man bei ihr einklich woll nich rechnen – und – der liebe Gott wird mirs harte Wort schon verzeihn – besoffen is se die ganze liebe lange Zeit, jajaja, Tag un Nacht is se besoffen. Und wenn ich mir mal 'n Rand nehm un dem Satan da 'n Wort sage, denn nimmt se ne Stange und haut den Plafong ein; tja, un wie oft bin ich in der Nacht dagestanden, weil ich den Fußboden hab runter halten wolln, und sie hat mit der Stange die Bretter zwischen meine Fieße eingebrochen.«

Diese groteske Zugabe zu der Bürde des täglichen Jammers ließ seine Trostlosigkeit nur noch stärker ins Bewußtsein treten, und uns war nicht nach Lachen zu Mute, als wir das arme Wesen in seiner schlotternden Angst vor uns sahen. Also gibt es für diese armen Teufel doch noch Schlimmeres, dachten wir, als allein mit den Schatten auf das Ende zu warten. Die verhärmte, abgerackerte Frau, die bei ihrem sterbenden Mann die Wache hielt, unaufhörlich geängstet von den tollwütigen Exzessen im Untergeschoß; das Ächzen des armen Dulders, die Angstschreie des Kindes, die unbarmherzigen Schläge und wilden Flüche, – das alles glich mehr den Bildern und Lauten eines entsetzlichen Traums als der Schlußszene einer Tragödie des Armenlebens.

Wir suchten den »Satan« auf – eine gemeine, starkknochige Person mit flammend rotem Haar über einem gedunsenen Gesicht; wenn sie sprach, schlug uns eine Wolke von Alkoholdunst entgegen. Sie wußte nicht, daß wir alles gehört hatten, und brachte die Kinder vor, um sie von uns bewundern zu lassen. Sie waren nicht mager und sahen nicht verhungert aus, aber aus ihren kleinen Gesichtern sprachen schlimmere Leiden als Hunger und Kälte. Mit ängstlichen Augen verfolgten sie die kleinsten Bewegungen der Mutter, und die armen Gesichtchen formten gehorsam jede ihrer Mienen nach. Das Frauenzimmer lächelte, um liebenswürdig zu erscheinen, und da lächelten die elenden kleinen Wesen auch; aber was für ein Lächeln! Daß Gott erbarm!

… Es ist doch eigentlich unverständlich, daß alte Leute, schon halb erdrosselt unter dem harten Griff der Not, kümmerlich aus öffentlicher Hand ihr Leben fristend, einander das Dasein schwer machen, da sie doch alle unter einem Joch stöhnen. Aber wir hatten es ja nur zu deutlich erfahren. Täglich muß der Pfleger aus dem Munde seiner Schutzbefohlenen mißgünstige Beschwerden über Lumpereien und Betrügereien anderer Stadtarmer hören. Aber zu ihrem Glück überhört der gute Pfleger solche Klatschereien fast immer, wenn er sich auch von seinen Almosenempfängern geduldig alles erzählen läßt; voll Verständnis für die kleinen Schwächen der Menschen läßt er lieber einmal fünf gerade sein, als daß er jemand durch Tadel wehtäte.

… Belustigend und rührend zugleich in ihrem Pathos waren die kleinen Beweise ästhetischer Neigungen, die sich die Negerbevölkerung auch im schlimmsten Elend nicht nehmen läßt, und die sie einem an den unwahrscheinlichsten Orten präsentiert. Es war doch einigermaßen überraschend, auf dem Schutzgeländer vor einer Kellertreppe in Bucktown jenes unverkennbar griechische Leistenornament zu finden, das eine Linie durch eine Reihe rechter Winkel laufen läßt, jenes Muster, mit dem schon vor dreitausend Jahren die Frauen Athens den Saum ihrer Kleider bestickten. Aber es war noch überraschender, in einer Kellerwohnung einem verschossenen Stich der berühmten »Beatrice Cenci« zu begegnen, oder einem blassen Druck nach Raphael Morghen. Ein Bildchen an der Wand einer miserablen Holzbude nahe Culvert Street stak in einem Rahmen, der mit dem Taschenmesser aus Brennholz zurecht geschnitten war; unter einer dicken Schicht von Schmutz und Staub waren gerade noch die Umrisse eines Madonnenkopfes des Raffael zu erkennen. Das Pendant dazu war ein Stahlstich mit der impertinenten Visage eines Weißen. Dazwischen leuchtete ein farbiger Druck, auf dem zu sehen war, wie ein lehmfarbenes Kind ein anderes über einen grünen Bach trug. Dieses Kunstprodukt hielt die Besitzerin natürlich für das Glanzstück ihrer kleinen Sammlung.

Die arme Frau lag erschöpft auf ihrem Bett, und ihr letztes Stündlein schien gekommen; ein paar farbige Freunde saßen um ihr Lager herum; ein kleiner Nigger mit einem wilden Busch krauser Haare auf dem Kopf weinte in einem Winkel; und ein alter Negerpriester plärrte unaufhörlich den Refrain einer kuriosen Hymne, der er offenbar besondere Kraft geistlichen Trostes zutraute.

»Mein verstorbenes Gebein – Hallelujah!
Mein verstorbenes Gebein – Hallelujah!
Mein verstorbenes Gebein,
Balde wirst Du Dich verein',
Ja! und gehn in Himmel rein –
Hallelujah!«

Die Sterbende hatte ihre Augen starr auf das kleine Bildchen gerichtet, das in seinem plumpen Rahmen aus Brennholz über dem Bett hing. Wahrscheinlich dachte sie weniger an den Himmel als an den Mann, der mit seinen derben Fäusten den armseligen Rahmen geschnitzt hatte, – den braven Schiffer, von dessen letztem Ruheplatz kein Kräuseln des Stromes Kunde gibt.


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