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Einundzwanzigstes Kapitel

Brahms, Joachim und noch einige andere Musiker veröffentlichten eine Erklärung: sie hätten mit der musikalischen Richtung, die Liszt durch seine Arbeiten vertrete, nichts zu tun. Er las es und zuckte die Achseln. Joachims Verrat bedeutete ihm im Verhältnis zu seinem Schmerz nichts. Was aber die neue Musik anbelangte, so war ihm die Aufführung des »Tannhäuser« in Paris viel wichtiger. Er konnte ihr nicht beiwohnen, erwartete aber um so sehnsüchtiger Nachrichten darüber. Die Nachrichten trafen ein: »Tannhäuser« war schwer und schmählich vor dem Pariser Publikum durchgefallen.

»Sehen Sie«, rief die Fürstin aufgeregt, »wie lange sage ich Ihnen schon, daß Sie diesen Menschen nicht so begünstigen und sich mit ihm nicht identifizieren sollen! Das schadet Ihnen nur.«

»Es lohnt nicht, darüber zu streiten, Carolyne. Dieser Mensch ist ein Genie, und er wird siegen! Und wenn ich auf der ganzen Welt der einzige bin, der das klar erkannt hat, dann bleibe ich eben allein. Es wird aber eine Zeit kommen, wo hinter mir Millionen Menschen stehen werden.«

Die Fürstin leugnete jetzt nicht mehr, daß sie Wagners Feindin war. Es hatte schon lange Debatten darüber gegeben – umsonst. Und Franzi hatte sich neuerdings angewöhnt, solchen Debatten einfach aus dem Wege zu gehen. Zwar war das nicht gerade leicht, denn Carolyne war jetzt wieder ganz die alte mit ihrem gehetzten Tatendrang und der ständigen Unruhe ihres Geistes. Sie erhielt fortlaufend gute Nachrichten aus Petersburg. Endlich traf auch das Telegramm ein, daß die Kirchenbehörde in Petersburg die Nichtigkeit der Ehe anerkannt habe. Jetzt fehlte nur noch die Zustimmung des Papstes. Nach ein paar Tagen traf Okraszewski selbst ein mit dem Petersburger Urteil in der Tasche. Das war eine große Freude, zugleich aber auch eine große Sorge. Denn Okraszewski forderte siebzigtausend Rubel. Das begründete er damit, daß das Urteil nunmehr vorliege und die päpstliche Zustimmung nicht seine Sache sei. Die Fürstin hingegen hatte die Vereinbarung so ausgelegt, daß sie nur nach der endgültigen Entscheidung zu zahlen verpflichtet sei. Sie vermochten sich nicht zu einigen und verblieben endlich dabei, zusammen nach Rom zu reisen. Dort würden sie sicherlich die Zustimmung des Papstes leicht erhalten, denn der jüngere Bruder von Manjas Gatten, der Bischof Hohenlohe, war der erste Vertraute des Papstes. Andererseits hatte auch der Großherzog von Weimar versprochen, dem Staatssekretär Kardinal Antonelli zu schreiben. Der Erfolg stand außer Zweifel.

An einem Maitage reiste die Fürstin mit Okraszewski ab. Am Abend vorher unterhielten sich Carolyne und Franzi bis zum Morgengrauen. Sie malten sich ihre Zukunft aus. Die Fürstin bestand darauf, daß sie sich in Rom, in der ewigen Stadt ihres Glaubens, trauen lassen sollten. Sobald Franzi das Telegramm erhalten würde, sollte er sofort nach Rom kommen. Und sie würden dann, nach so vielen Jahren bitterer Herzensqualen, vor den Altar treten.

Franzi blieb allein in der Altenburg zurück. Er arbeitete. Er schrieb unter dem Titel » Les morts« eine Symphonie, die den Tod seines Sohnes beweinte. Er vertonte Psalmen und sah sein Oratorium über die heilige Elisabeth nochmals durch. Die Fürstin mußte in Rom überrascht feststellen, daß es nichts Schwierigeres gab, als vor das Antlitz des Papstes Pius zu gelangen, mochte man auch noch so viele Fürsprecher haben. Im Mai war sie weggereist, und es wurde September, ehe sie eine Audienz erhielt. Die allerhöchste Zustimmung gestaltete sich auch nicht als eine so ganz einfache Angelegenheit. Der Papst versprach, die Sache untersuchen zu lassen, und entschloß sich nicht sofort. Die zweite Audienz hatte die Fürstin fast mit Gewalt erzwungen. Verzweifelnd schluchzend warf sie sich dem Heiligen Vater zu Füßen und flehte solange, bis der Papst nachgab. Die Sache kam noch am gleichen Tage vor die Konferenz der Kardinäle. Die Kardinäle ihrerseits entschlossen sich dann schnell, und zwar zugunsten der Fürstin. Jetzt waren nur noch die Formalitäten zu erfüllen. Weimar gehörte zum Kirchenbezirk des Bischofs von Fulda. Franzi mußte also vom Bischof von Fulda, dem er ein Gesuch unterbreitete, die Heiratserlaubnis erhalten. Dazu war jedoch Voraussetzung, daß der Bischof von Fulda seinerseits eine diesbezügliche vom Wiener Nuntius, dem Kardinal Lucca, erhielt. Hierzu war wiederum erforderlich, daß der Heilige Stuhl den Wiener Nuntius entsprechend anwies. Diese Weisung ging nunmehr aus Rom ab. Von Tag zu Tag wartete Franzi auf den Brief des Bischofs zu Fulda. Und er bereitete sich nunmehr endgültig auf den bedeutendsten Schritt seines Lebens vor. Er ging mit sich zu Rate: er hatte die ehrlichste Absicht, der Fürstin seinen Namen und sein Leben zu geben, wenn auch die Zeit der glühenden Küsse schon längst vorüber war. Er schuldete Carolyne sein Leben wie eine Ehrenschuld, und die wollte er restlos tilgen, so daß er sein Testament aufsetzte, bevor er heiratete. Sein Vermögen, insgesamt zweihundertzwanzigtausend Franken, hinterließ er zu gleichen Teilen seinen Töchtern. Es hatte ihnen im Grunde genommen ja schon gehört, er hatte es von jeher in Paris verwalten lassen und hatte es ihnen lediglich noch nicht ausgehändigt. Er sprach in seinem Testament aber nicht nur von seinem Vermögen, sondern auch von seinen Gefühlen. Er dankte für die Güte und Liebe seiner Mutter, er legte ein Bekenntnis für Wagner ab, und in tiefbewegten Worten nannte er die Fürstin die Gefährtin seines Lebens, die Schwester seiner Seele und seine Braut. Das schrieb er. Dann erwartete er den Tag.

Statt der Hochzeit folgten aber neue Prüfungen. Die Wittgensteinsche Verwandtschaft gab sich noch nicht geschlagen. Jetzt kämpften sie nicht mehr aus materiellen Interessen, die Hochzeit Hohenlohe hatte diese Frage bereinigt, sondern aus Haß. Und daß sie auch jetzt noch eine ungeheure Macht besaßen, das bewiesen sie erneut in Wien. Der Nuntius hatte den Bischof zu Fulda einfach nicht angewiesen, die Heiratserlaubnis zu erteilen, er weigerte sich, den Beschluß der Kardinalskonferenz auszuführen, und schickte die gesamten Akten zu erneuter Prüfung zurück nach Rom. Die Fürstin mußte die ganze Angelegenheit dem Papst nochmals von vorn darlegen. Sie lief von Pontius zu Pilatus, sie war ungestüm, sie lauerte dem Papst bei einem Spaziergang auf und erreichte endlich lediglich, daß der Papst, sobald man die Wittgenstein-Angelegenheit nur erwähnte, schon nervös wurde. Die ganze Sache geriet abermals ins Stocken. Carolyne quälte sich in Rom, Franzi in Weimar.

Er wartete, wartete und wartete. Dann reiste er umher. Er dirigierte einmal da, einmal dort. Er besuchte seinen alten Freund und Gönner, den musikliebenden und Wagner zugetanen Fürsten Hohenzollern-Hechingen in Löwenberg. Er fuhr nach Wien zu Eduard, dem nunmehr der Adel verliehen war. Wien ernannte ihn zum Ehrenbürger. Dann folgte die große Familienfreude in Berlin: Cosima gebar eine Tochter. Hans war überglücklich. Die Tochter wurde auf den Namen Daniela Senta getauft, einesteils zum Andenken an Daniel, andernteils weil Hans darauf bestand, daß das Kind auch einen Namen aus einer Wagner-Oper bekommen sollte. Franzi trug lächelnd die bisher unbekannte Würde des Großvatertums, die er noch leidlich jung erlangte, er war noch keine fünfzig Jahre alt.

Dann fuhr er auch nach Paris. Er wollte Blandines Mann, Ollivier, kennenlernen, außerdem wollte er seine alte Londoner Bekanntschaft mit dem Kaiser Napoleon auffrischen. Und er wollte auch Wagner sehen, der zu dieser Zeit seines bewegten Lebens sich dort niedergelassen hatte, das Kreuz der Ehe mit Minna wieder auf sich nehmend. Der kleine Tausig, den Carolyne aus der Altenburg verbannt hatte, wohnte jetzt bei ihm.

Ursprünglich wollte er im Hotel Danube absteigen, weil ihm der Name dieses Hotels gefiel. Es war jedoch besetzt, auch alle anderen guten Hotels in Paris waren von Fremden überflutet, man riet ihm endlich zu einem Haus in der Rue Castellane, wo er ein möbliertes Zimmer erhielt. Blandines Wohnung war zu klein, als daß er dort hätte wohnen können.

Ollivier war ein sehr angenehmer Mensch, kräftig, kerngesund, in seinem Gesicht fiel besonders der Mund mit den breiten, dicken Lippen auf. Seine Bewegungen strahlten die ungebrochene Kraft aggressiver Männlichkeit aus. Blandine war neben ihm sichtlich glücklich. Er verbrachte den ersten Abend mit ihnen, nachdem sie auch Mutter Liszt dorthin eingeladen hatten. Die alte Dame war in der letzten Zeit sehr kränklich, ihr gebrochener Fuß wollte durchaus nicht wieder vollständig heilen, sie lebte ganz zurückgezogen, hatte nur eine vertraute alte Freundin in Paris und sich im übrigen dort so eingelebt, daß sie zumeist nur noch französisch sprach. Als Franzi sie fragte, ob sie auf ihre alten Tage nicht zu ihren Schwestern nach Österreich übersiedeln wolle, widersprach sie heftig. Von der Familie interessierte sie nichts anderes als das Andenken an Daniel und die bevorstehende Heirat Franzis. Von Daniels Tod, über den man ihr schon ausführlich geschrieben hatte, wollte sie immer wieder hören. Dann kam sie auf die Fürstin zu sprechen.

»Es ist mir nur ein Trost«, sagte Mutter Liszt, »daß du nunmehr keine materiellen Sorgen haben wirst und nach Herzenslust arbeiten kannst.«

»Ich glaube«, lachte Franzi, »daß Sie sich da falschen Hoffnungen hingeben, Mutter. Die Fürstin war, als ich sie kennenlernte, eine sehr reiche Frau, jetzt hat sie gerade nur noch zu leben.«

»Das verstehe ich nicht. Was hat sie denn mit ihrem vielen Geld gemacht?«

»Sie hat alles ihrer Tochter vermacht, mußte aber auch viel für die Scheidung von ihrem Manne opfern. Solange die kleine Prinzessin bei uns war, bekam Carolyne den Ertrag ihres Vermögens in die Hände, jetzt aber hat Manja geheiratet und Carolyne blieben nur die kümmerlichen Reste ihres früher sehr großen Vermögens. Bescheiden kann sie davon zwar leben, muß aber sehr rechnen. Deswegen habe ich ja schlaflose Nächte. Neulich habe ich ein Testament gemacht. Da kam mir erst zur Besinnung, daß ich dieser Frau, wenn mich der liebe Gott zufällig abriefe, gerade soviel lassen würde, wie einem geplünderten Obstbaum. Das ist so traurig, daß ich mich vor mir selbst schämen muß.«

Ollivier hob hochmütig den Kopf.

»Warum müssen Sie sich schämen, Papa? Vermachen Sie ihr doch Ihr Bankguthaben in Paris, das ist doch ein sehr schönes kleines Vermögen.«

»Nein, mein Sohn, die Hälfte dieses Guthabens habe ich euch, die andere Hälfte Cosima und ihrem Gatten zugedacht.«

»Ich danke Ihnen, auch im Namen von Blandine, aber unseretwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich bin selbst ein wohlhabender Mann, und dann erwartet Blandine ja auch ein viel größeres mütterliches Erbteil als dieses Bankguthaben. Ändern Sie also ruhig Ihr Testament ab, und wenn es Ihnen unbequem ist, dann übernehme ich gern, brieflich auch mit Cosima die ganze Angelegenheit wegen ihres Erbteils zu erledigen. Mein Schwager Bülow ist, soviel ich weiß, vermögenslos, aber es geht ihnen ja soweit ganz gut, und ein entsprechender Teil des D'Agoultschen Vermögens wartet ja auch auf sie. Sie, Papa, sollen nur getrost ein neues Testament machen und für die Fürstin sorgen.«

Franzi geriet in peinliche Verlegenheit und wurde rot.

»Du denkst doch wohl nicht, Emile, daß ich diese Angelegenheit nur deswegen berührt habe, weil …«

Ollivier klopfte seinem Schwiegervater vergnügt auf die Schulter.

»Ich denke gar nichts, Papa. Ich habe Sie sehr gern, und obendrein bin ich davon überzeugt, daß Sie die Fürstin noch um viele Jahre überleben werden. Sie riskieren also nichts. Die Sache mit Cosima will ich schon erledigen. Blandine wird ihnen schreiben, aber ich werde diktieren.«

Sie stritten noch eine Weile, Franzi ließ sich aber leicht überzeugen. Seinen väterlichen Pflichten hatte er reichlich genügt, seine Töchter konnte er jetzt getrost seinen Schwiegersöhnen anvertrauen. Der Gedanke, daß er im Falle seines Todes der um ihr Vermögen gekommenen Carolyne eine kleine Sicherheit hinterlassen konnte, erfüllte ihn mit großer Freude und milderte die Verantwortung für das Schicksal seiner Geliebten, die bis jetzt quälend auf ihm gelastet hatte.

Am anderen Tag ging er in die Stadt, er mußte unzählige Besuche machen. Vor allem sprach er in der österreichischen Botschaft vor, wo er einst so oft mit dem Grafen Apponyi zusammengekommen war. Jetzt war der junge Metternich Hausherr der Botschaft, dessen Frau Paula, die Tochter des durch seine Reitkunst berühmten Grafen Alexander, mit der Kaiserin Eugenie eng befreundet war. Durch Metternichs wollte Franzi erreichen, daß er bei Napoleon III. eine Audienz erhielt. Der Botschafter hatte ihm das auch zugesagt. Dann kamen die anderen Besuche an die Reihe. Er besuchte Rossini. Der greise Italiener wohnte in der Chaussee d'Antinon, komponierte kleine Lieder und war ein Genießer und Feinschmecker geblieben. Die erlesenste Küche von Paris führte er, auf seinem Tisch wurden zuerst sensationell neue Speisen aufgetragen. In der Musik hatte er sich aber zu dem Neuen nicht aufschwingen können. Als er einmal einen für Wagner schwärmenden Herrn zu Gaste hatte, setzte er ihm Fisch ohne Tunke vor mit den Worten: wer die Musik ohne Melodie liebe, verdiene ein so zubereitetes Essen. Franzi mied deshalb jede Debatte über Musik. Er wollte ja auch viel weniger den einstigen großen Musiker wiedersehen, als eine unvergeßliche Erinnerung seiner Jugend wieder heraufbeschwören. Der alte Herr empfing ihn sehr liebenswürdig. Er umarmte ihn, dann fuhr er mit seinen fünf Fingern ganz unerwartet in die große Mähne Franzis.

»Ist das alles Ihr Haar? Warum lassen Sie es nicht abschneiden?«

»Eben weil das alles mir gehört, mache ich damit, was ich will.«

»Leider, Sie haben recht, schauen Sie her. Meinen Haare gehören leider nicht mehr mir.«

Und er nahm seine Perücke ab, sein Kopf war so kahl wie eine Billardkugel. Dann setzte er die Perücke wieder auf und sagte traurig:

»Ich werde bald keinen einzigen Zahn mehr haben, der mir gehört. Was trinken Sie? Kognak? Sie können bei mir dreiundzwanzigerlei Kognaks bekommen. Wir wählen einen aus. › La fine de la maison‹. Eine ganz besondere Marke meines Hauses. Ach, wenn ich so jung sein könnte wie Sie …«

Franzi lächelte leise. Und ihm ging ununterbrochen im Kopfe herum, wie alt er doch war. Paris war nicht wiederzuerkennen. Diese Stadt, wo er vor fünfundzwanzig Jahren fünfundzwanzig Jahre alt war, war eine ganz andere Stadt geworden. Mit einem Male überkam ihn heftig die Erinnerung an Marie. Seit sie sich getrennt hatten, ging er ihr aus dem Wege. Seit sechzehn Jahren hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Seitdem aber waren viele Wunden geheilt, und »Nélida« wäre jetzt sicherlich auch bei keinem Antiquar mehr zu bekommen. Es schien ihm sinnlos, Marie auch jetzt noch zu meiden. Blandine hatte ihm einmal etwas erzählt, was ihn Marie gegenüber freundlich gestimmt hatte: als Blandine mit ihrer Mutter nach Italien gereist war, war Marie beim Anblick einzelner Stätten in Tränen ausgebrochen. Die Erinnerung an die hier mit Franzi verlebte Zeit hatte sie überwältigt.

Er suchte Marie also auf. Er fand sie in einem vornehm eingerichteten Heim. Marie hatte auch jetzt nicht aufgehört, die Gräfin D'Agoult zu sein. Nur jung zu sein, hatte sie aufgehört. Sie war sechsundfünfzig Jahre alt und trug das schwarze Seidenkleid mit der Würde einer alten Dame, und das Ergrauen ihrer Haare betonte sie noch durch Puder. Nur die Wangen waren so rosig geblieben wie einst. Und die Sicherheit ihres weltgewandten Auftretens.

»Das ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie mich besuchen. Auch ich habe diese Begegnung schon seit langem herbeigewünscht. Im Grunde genommen hat es ja auch keinen Sinn, daß ein berühmter Musiker und eine nicht ganz unbekannte Schriftstellerin sich nur deswegen nicht treffen, weil sie sich dereinst nicht haben verstehen können.«

Franzi sah der nicht ganz unbekannten Schriftstellerin ins Gesicht. Das war Daniel Stern, der Verfasser »Nélidas«, mit seinem gekünstelten Benehmen und seiner Eitelkeit.

»Nicht so, Marie, nicht so. Bleiben wir doch Menschen. Ich habe von Blandine gehört, daß Sie in Italien hier und da geweint haben. Zu jener Marie bin ich gekommen, nicht zu dieser.«

Marie zog die Augenbrauen hoch und dachte über eine geistreiche, höhnische Antwort nach. Statt dessen aber füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie entgegnete nichts.

»Sehen Sie«, beschwichtigte Franzi, »das ist etwas anderes. Das ist die alte Marie, die ich jetzt in Friede und Liebe segne. Wie ein Geistlicher. Sie müssen nämlich wissen, daß ich seit einiger Zeit ehrenhalber Franziskaner geworden bin.«

Er erhob sich, küßte sie auf die Stirn und legte seine Hand einen Augenblick auf die weiße Haarkrone. Marie weinte noch mehr, Franzi setzte sich zurück auf seinen Stuhl. Dann kamen sie langsam ins Gespräch. Über Musik, über Wagner, über Franzis Bestrebungen, über seine bevorstehende Heirat. Sie sprachen auch von ihren Töchtern.

»Das verzeihe ich Ihnen aber nicht, Franzi, daß Sie Cosima nicht Künstlerin werden ließen. Sie hätte Pianistin werden müssen.«

»Und unglücklich. Jetzt ist sie glücklich. Wir verstehen uns heute noch nicht, Marie. Das schadet aber nichts mehr. Jetzt muß ich gehen. In den nächsten Tagen komme ich noch einmal wieder, falls ich Sie nicht störe.«

Sie verabschiedeten sich höflich wie zwei wohlerzogene Menschen. Im Treppenhaus begegnete Franzi einem ihm bekannt vorkommenden Herrn mittleren Alters. Er konnte sich aber durchaus nicht besinnen, wer das sein könnte. Erst viel später schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn: aber natürlich, das war ja Ronchaud, der junge Dichter von damals, der in Marie so verliebt war. Er sollte später auch, wie aus Paris berichtet wurde, den Lohn für seine standhafte Anbetung erhalten haben.

Franzi besuchte auch Berlioz. Er fand ihn gealtert, nervös, kränklich, voller Sorgen. Seine zweite Frau und deren Mutter hielten ihn unbarmherzig unter dem Pantoffel. Seinen Sohn konnte er kaum ein- bis zweimal im Jahr sehen; der junge Berlioz war Schiffskapitän der Handelsmarine geworden und war dauernd fern in der weiten Welt. Der Vater aber war zusammengebrochen, mit sich selbst in Zwietracht fristete er sein Leben, hatte kaum Einkommen, und über seinem tondichterischen Schaffen lauerte, einem Fluche gleich, die überwältigende Musik Wagners. Das, was er angeregt hatte, hatte Wagner vollbracht. Jedes zweite Wort von ihm war Wagner, er verurteilte ihn, er haßte ihn und schmähte ihn. Als Franzi abermals auf die Straße hinaustrat, fühlte er zugleich Erleichterung und Mitleid. In der erdrückenden Atmosphäre dieses Hauses ließ er ein großes Talent zurück, das schon bei Lebzeiten gestorben war.

Der Rivale Wagner hauste in einer möblierten Wohnung der Rue d'Aumale. Auch diese konnte man nicht als gemütliches Heim bezeichnen, Minna schaltete und waltete darin wie ein stummes Gespenst. Aber keine Hoffnungslosigkeit fand Franzi hier, sondern zähneknirschenden Tatendrang und den überzeugten Glauben des Berufenen. Die beiden guten Freunde umarmten sich liebevoll, ihr peinlicher Briefwechsel war längst vergessen. Auch der kleine Tausig war da, der hastig mit übersprudelnder Freude dem Meister um den Hals fiel. Sie aßen zusammen zu Abend und sprachen vom »Tristan«. Wagner spielte daraus vor, das Liebesduett des zweiten Aktes erklang, und gleich Lavaströmen ergossen sich die Töne höchster Leidenschaft durch das Zimmer. Und Franzi sah, daß Minnas Augen verweint waren. Minna wußte wohl, wen Tristan und Isolde darstellen sollten.

Später kam das Gespräch auf die Musik Franzis. Wagner nickte mit dem Kopf zu Tausig:

»Dieser Bursche spielte mir gestern die Phantasie vor, die du aus den Buchstaben B–A–C–H komponiert hast. Ich kann dir nur sagen, er hat sehr gut gespielt. Und ich lobe sehr selten. Tausig erzählte mir aber, daß er dieses Stück von dir nie gehört habe.«

»Ich pflege nicht zu spielen. Jetzt will ich's dir aber vorspielen.«

Er setzte sich ans Klavier und spielte. Als ob man einem Löwen eine Katze als Spielzeug gegeben hätte. Tausig stand neben dem Klavier. Er lauschte gespannt. Plötzlich wurde er bleich und begann zu zittern. Er wurde so erregt, daß er sich am Klavier krampfhaft festhalten mußte. Franzi spielte immer weiterhin seinem Spiel war eine gewisse Grausamkeit, wie er so erbarmungslos mit seinem unheimlichen Können das ganze Können, alle Hoffnungen des armen Jungen zunichte machte. Wagner schrie überrascht auf:

»Aber, das ist ja …«

Er wollte sagen, daß das ja eine ganz andere Komposition sei, hundertmal voller und inhaltsreicher als im Spiele Tausigs. Er konnte aber seinen Satz nicht beenden, der Junge sank plötzlich neben dem Klavier zusammen. Er war ohnmächtig geworden. Franzi hörte mitten im Spiel auf. Man brachte Wasser, der Junge kam wieder zu sich. Sie halfen ihm mit Mühe und Not auf die Beine und setzten ihn in einen Lehnstuhl. Von dort stierte er Franzi an wie einer, der ein Gespenst steht.

»Daß man so Klavier spielen können soll … das ist ja fürchterlich … warum spiele ich da überhaupt noch Klavier, wenn man …«

»Rede keine Dummheiten«, fiel ihm Franzi ins Wort, »ich zähle nicht. Die besten Klavierspieler der Welt seid heute ihr vier: Bülow, du, Rubinstein und Bronsart. Spiel' du nur ruhig weiter Klavier, es lohnt sich. Du mußt aber auch auf deine Gesundheit bedacht sein, denn du bist viel zu nervös.«

»Ich werde nicht so leicht ohnmächtig«, sagte Wagner, »aber auch mich überlief es kalt. Was du kannst, das kann außer dir nur Gott. Und der Satan. Ich glaube, in uns beiden ist von diesem wie von jenem reichlich vorhanden … Wie ich höre, bist auch du zu Gounods eingeladen. Könnten wir nicht zusammen hingehen?«

»Nimm es mir nicht übel, das geht nicht. Ich habe soviel zu tun, daß ich mich mit Blandine nur noch im Wagen zu treffen pflege. Wenn ich von einem zum anderen fahre, unterhalten wir uns im Wagen, sonst bekäme ich sie überhaupt nicht mehr zu sehen.«

Bei Gounods stellte man ihm einen jungen Dichter namens Baudelaire vor, besten Gedichtband » Fleurs du Mal« in Paris großes Aufsehen erregt hatte. Dieser Dichter liebte die Musik außerordentlich und gehörte zu den wenigen, treugebliebenen Anhängern des in Paris durchgefallenen »Tannhäuser«. Er hatte sogar einen langen Artikel über die Wagnerbegeisterung geschrieben. Auch jetzt, in dieser großen Gesellschaft, suchte er häufig die Nähe von Franzi und Wagner. Ihnen berichtete er klagend von den bitteren Kämpfen seiner schmerzlichen Armut. Er war ein sonderbarer Mensch mit funkelnden Augen und leidenschaftlichem Temperament. Seine Sprache überraschte durch ihre kühnen Wendungen, alles, war er sagte, war voller Farbe, und sogar seine Bitterkeit war in eine überwältigende Pracht gekleidet, wie das Herbstlaub der Bäume. Franzi zog ihn beiseite und fragte ihn, in welcher Weise er ihm behilflich sein könne. Geld konnte er ihm nicht gut anbieten, denn das hätte Baudelaire sicher verletzt. Sie sprachen aber von verschiedenen einflußreichen Menschen und Kunstgönnern. In dieser Nacht schlief Franzi anderthalb Stunden weniger. Er schrieb an alle, deren er sich nur erinnerte, Empfehlungsbriefe für Baudelaire. Wie weit aber der Dichter mit diesen Briefen schließlich gekommen war, erfuhr er nicht mehr.

Mit einem anderen jungen Talent war er bei Halévy bekannt geworden. Hier setzte er sich ans Klavier, da die Rede auf klaviertechnische Fragen kam. Er zeigte sehr schwere und verwickelte Passagen, um seine Behauptung von dem Fingersatz durch Beispiele zu erläutern. Dann erhob er sich aber sofort wieder, er hatte keine Lust, ein Hauskonzert zu geben. Da sprach Halévy einen untersetzten, stillen jungen Mann an:

»Hast du das gehört, Georges?«

Der junge Mann setzte sich sofort ans Klavier und begann zu spielen.

»Ja, das war sehr interessant, diese letzte Passage. Und ziemlich schwer.«

Franzi hörte ihm verwundert zu. Der junge Mann spielte von seinen Passagen die letzte, die schwerste.

»Wer sind Sie, mein Sohn?«

Der junge Musiker, kaum älter als zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre, schwieg verstört. Er konnte seinen Namen kaum stammeln. Halévy erwiderte statt seiner:

»Das ist Georges Bizet, der das Konservatorium im Klavierfach mit Auszeichnung absolviert hat. Er erhielt den Prix de Rome und ist gerade aus Italien zurückgekommen. Er will aber kein Virtuose werden, sondern Komponist.«

Franzi legte Bizet die Hand auf die Schulter:

»Vorwärts, junger Mann! Ich will Ihren Namen auf dem Titelblatt schöner und großer Kompositionen lesen.«

Endlich kam zu den vielen Besuchen in Paris auch noch der Besuch beim Kaiser.

Metternich hatte sein Versprechen gehalten, er hatte für Franzi nicht nur eine Audienz durchgesetzt, sondern sogar eine Einladung zum Souper bei Hofe. Sowohl der Kaiser als auch die Kaiserin begrüßten ihn als alten Bekannten. In der Pracht der Tuilerien wehte setzt eine ganz andere Luft als einst. Franzi verglich die Bourbonen-Erinnerungen seiner Kindheit mit diesem Hofe. Und diesen Vergleich entschied er zugunsten des zweiten Kaiserreiches. Er war dem Kaiser noch aus den Zeiten, da er als Bonaparte verbannt war, sehr zugetan, und seit sie sich im Londoner Salon des Grafen D'Orsay begegnet waren, hatte er die französische Politik immer aufmerksam verfolgt.

Der Herrscher saß ziemlich bedrückt an der unerhört prächtig gedeckten Tafel, im warmen Lichterglanz der Kerzen. Während des dem Souper folgenden Cercles winkte er Franzi zu sich.

»Ich höre soeben von der Kaiserin, daß man Ihretwegen die spanische Etikette geändert hat.«

»So war es, Majestät. Seit dieser Zeit mache ich aber nur noch in der Musik Revolution.«

»Auch davon habe ich gehört. Daß Sie ganz Deutschland aufgerüttelt haben. Diese Wagner-Affäre gefällt mir übrigens sehr gut. Sie wissen wohl, daß man seine Oper auf meinen strikten Befehl wieder aufführen wird?«

»Es ist mir bekannt, Majestät, und ich weiß nicht, ob ich dafür dem Kaiser oder der künstlerischen Seele huldigen soll.«

»Keinem der beiden, sondern der Kaiserin. Sie und die Fürstin Metternich haben diesen Befehl von mir erzwungen. Sagen Sie mal, wie ist denn die politische Stimmung in Deutschland?«

»Sehr franzosenfeindlich, Majestät, was übrigens durchaus zu verstehen ist.«

Die trüben Augen des Kaisers begannen lustig zu glänzen. Das war ein sehr seltener Fall bei ihm, denn seine frostige Art war in Paris sprichwörtlich geworden. Alten Bekannten gegenüber ließ er sich jedoch manchmal gehen.

»Verständlich? Franzosenfeindschaft ist nie verständlich«, entgegnete er humorvoll.

Dann aber verdüsterte sich der Blick des Kaisers gleich wieder.

»Ein schwerer Beruf ist das, mein lieber Liszt. Ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich hundert Jahre alt wäre.«

Franzis Schlagfertigkeit fand blitzschnell die Antwort:

»Kein Wunder, Majestät, Sie sind das Jahrhundert selbst.«

Napoleon III. blickte den Musiker wohlwollend an. Die Antwort gefiel ihm. Er schritt weiter, um auch andere mit einer Anrede auszuzeichnen. Diesen erzählte er die geistreiche Antwort des berühmten Künstlers sofort weiter. Nach zehn Minuten nahten sich ihm von rechts und links schon Gratulanten. Metternich kam eigens auf ihn zu, um ihm die Hand zu drücken.

»Andere bewundern Sie«, sagte er, »ich finde es nur natürlich, daß Sie sich auch hier sicher fühlen. Sie haben lange Zeit genug in Hofluft verbracht, nicht wahr?«

»Von meinen fünfzig Jahren vierzig, Exzellenz. Aber jetzt war es genug. Aus der Kälte des Hofes sehne ich mich nach der Wärme des Heimes.«

»Bravo! Sie sprühen ja förmlich. Ich gehe jetzt. Ich will das meiner Frau erzählen, die soll sich nur mal ärgern, daß auch andere außer ihr geistreich sein können.«

»Sie wird sich nicht ärgern, Exzellenz. Sie ist eine Ungarin.«

Er schwamm auf dem funkelnden Meeresspiegel der Gesellschaft genau wie einst in seiner Virtuosenzeit. Graf Walewski, der Sohn des großen Napoleon, gab einzig und allein seinetwegen eine große Abendgesellschaft. Die Metternichs, die Rothschilds, die Herzogin Mathilde und die anderen Aristokraten rissen sich förmlich um den berühmten Künstler. Die Zeitungen zitierten seine geistreichen Aussprüche. Der Kaiser lud ihn zum zweiten Male ein. Der Glanz seiner einstigen berauschenden Siege schien auch über diesen Pariser Tagen zu liegen. Er hielt sich noch in Paris auf, als der »Moniteur« bekanntgab, daß ihn Napoleon III. zum Ritter der Ehrenlegion ernannt hatte.

Als er sich zur Ruhe gelegt hatte und in die Finsternis starrte, sah er einen langen und steilen Weg hinter sich. Aus den verzärtelten Jahren seiner Wunderknabenzeit, aus der ruhmsüchtigen Zeit seiner Jugend, von seiner theatralischen Eitelkeit war er endlich dort angelangt, wo nicht mehr der äußere Erfolg entscheidend ist. Aber auch vor sich sah er einen Weg. Er hatte einen neuen Kampf auszutragen. Und das war nicht der Kampf gegen die Welt für die neue Musik, dieser neue Kampf ging gegen ihn selbst, sein Ziel war einsichtsvolle Weisheit und Demut. Daß jemand, dem Gott eine Begabung geschenkt, diese Gabe nützen muß, wußte er. Sein Leben bedeutete aber noch viel mehr als das: Gott hatte ihm eine Seele gegeben, eine unsterbliche Seele, die er zu pflegen, zu vertiefen, zu veredeln die Pflicht hatte. Was für einen Menschen hatte er bis jetzt aus sich gemacht? Einen, mit dem man zufrieden sein konnte? Nein! Es fehlte noch sehr viel. Er hatte Schwächen, die er noch nicht abzulegen vermochte. Er mußte sein Haupt noch beschämt neigen, wenn er sich verstellte, daß er vor Gottes Antlitz stehe. Es mußte noch viel Zeit vergehen, ehe er sich vor sich selbst freisprechen konnte. Und ganz undeutlich tauchte vor seinem geistigen Auge der weißgetünchte Gang eines Klosters auf. Wie schön mußte es sein, hier, umrauscht von der heiligen Musik der Psalmen, an seiner inneren Läuterung zu arbeiten. Aber er ließ diesen Gedanken in den Wogen der Zukunft versinken. Er konnte kein Mönch werden, er mußte Carolyne heiraten und in vertrauter Ruhe arbeiten.

Bevor er abreiste, besuchte er Marie noch einmal. Er wollte seinen Töchtern den Gefallen tun, das freundschaftliche Verhältnis zu ihrer Mutter wieder herzustellen. Marie fragte ihn hauptsächlich nach George Sand aus, wärmte den alten Klatsch aus den Zeiten in Nohant wieder auf. Der Haß gegen ihre einstige Freundin sprühte förmlich aus ihren Worten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.

Draußen auf der Straße mußte er daran denken, daß dieser Frau bei all ihren Begegnungen in Paris nicht ein einziges Mal eingefallen war, den Namen Daniels zu nennen.


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