Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Es ist ein geheimnisvoller Vorgang, wie sich etwas Neues verbreitet, wie es sich in die unsichtbaren Adern des Lebens hineinfrißt: in einer kleinen Stadt entschließt sich ein dort ansässig gewordener Komponist, die bisherigen Anschauungen der Menschheit von der Musik und hauptsächlich von der Oper völlig umzustoßen. Gegen den Geschmack, die Überzeugung und den Rat aller erzwingt er die Aufführung der durchgefallenen Stücke eines unbekannten Komponisten. Die Opern werden von unzulänglichen Kräften bei mangelhafter Ausstattung aufgeführt, sie bleiben höchstens fünf- oder sechsmal auf dem Spielplan, die Einwohner der Kleinstadt kümmern sich kaum um die ganze Angelegenheit. Wenn der am Hofe so gern gesehene langhaarige Mensch solche Mucken hat, so muß man ihn eben gewähren lassen, er schadet ja niemandem …

Und mit einem Male beginnt um das kleine Weimarer Theater herum etwas zu gären und zu quirlen. Aus anderen Städten kommen Menschen hergereist, um diese beunruhigende sonderbare Musik zu hören. Hier und da taucht in der Presse ein Artikel mit vorsichtiger Meinungsäußerung auf. Man beginnt von der neuen Musik zu reden, einige machen sie hoheitsvoll herunter, andere wiederum verspotten sie gutgelaunt mit väterlicher Nachsicht. Vorerst sprechen nur Sachverständige davon. In ganz Frankreich und in ganz Rußland sind kaum mehr als je zehn Menschen, die davon wissen, daß der in Weimar ansässig gewordene Franz Liszt irgendeine musikalische Absonderlichkeit durchsetzen will. Die heimische Presse greift den kleinstädtischen Apostel dauernd an. Auf die Angriffe folgt die Verteidigung, auf die heftigen Gegenstöße noch heftigere Angriffe. Der geruhsame Leser fängt an sich zu ärgern: was ist denn nur los, was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Wagner? Wer ist das überhaupt? Es gibt Leute, die in München oder Stuttgart in die Notenhandlungen gehen, um aus Neugierde etwas von ihm zu kaufen. Es ist aber nichts von ihm vorrätig. Man muß es erst aus Leipzig kommen lassen. Und überall, wo es in Deutschland solche junge Musiker gibt, die Schwärmer sind und neue Dinge in ihren Köpfen wälzen, gewöhnt man sich daran, daß man sich mit seinen Gedanken nach Weimar wenden muß, denn dort arbeitet dieser kühne, Neues schaffen wollende Mansch, mit dem Hunderttausende nichts anzufangen wissen, den nur einzelne verstehen. Einige berühmte Kunstrichter mischen sich schon in den Pressekampf ein, die ganze Lage muß doch ernst genommen werden, denn es finden sich bereits Häuser in den Straßen von Dresden oder Nürnberg, hinter deren Fenstern namenlose junge Damen das Lied vom holden Abendstern spielen.

Wenn ein Felsblock in einen See fällt, so schlägt er mächtige Wellen, die immer breiter werden, sich immer flacher nach dem Ufer hin ringeln, bis sie sich vollkommen zerschlagen. Hier geschah aber ein Wunder: als man in dem kleinen Weimar das durchgefallene Werk eines unbekannten Tondichters aufführte, da fiel nur ein Staubkörnchen in das Meer des musikalischen Lebens der Welt, aber das kaum sichtbare Erbeben des Wassers zog immer weitere Ringe, und die sich ausbreitenden Wellen wurden sonderbarerweise immer höher …

Von überall her kamen junge Männer nach Weimar, klopften am Zimmer des »Erbprinzen« an und stellten sich vor. Aus Hannover kam einer namens Klindworth, kaum älter als zwanzig Jahre. Aus München einer namens Pruckner, sogar erst siebzehn Jahre alt. Ein gereifter Mann war dagegen Peter Cornelius aus Mainz, den die musikalische Revolution in Weimar so erregt hatte, daß er an die Quelle übersiedelte und dort leben, arbeiten und an diesem eigenartigen Kampf teilnehmen wollte.

Franzi bemerkte plötzlich, daß er ständig von einer ganzen Schar junger Männer umringt war. Alles erstklassige, vielversprechende Begabungen, am begabtesten unter ihnen aber der liebe, gute Hans. Andächtig lauschten sie jedem Wort des Meisters, und er unterrichtete sie mit väterlicher Liebe, wie ein in der Schlacht erprobter Führer seine jungen Knappen. Er hörte sich vor allem die Klavierspieler an und wies ihr Können auf neue Wege. Mit den angehenden Komponisten studierte er ihre Versuche Takt für Takt durch. Er lehrte sie aber nicht nur Musik, sondern zeigte ihnen auch die Erhabenheit, Unantastbarkeit dieser Kunst, die volle begeisterte Hingabe von ihren Jüngern verlange. Diese Schüler wurden schon im neuen Geiste der Musik erzogen, die alten Lehrbücher der Harmonielehre und der Instrumentation konnten sie nicht mehr gebrauchen, sie sprachen ihre eigene musikalische Sprache und waren mit ihrem väterlichen Meister zusammen begeisterte Schwärmer. Diese kleine Gruppe sprach von früh bis abends von nichts anderem als von der Tetralogie Wagners, aus der sie noch keinen einzigen Takt kannten, auf die sie aber warteten wie auf die Erfüllung einer Weissagung aus dem Alten Testament.

»Wißt ihr, Kinder«, fragte Franzi, »wie die Kathedrale von Sevilla erbaut wurde? Ein Pfarrer des Domkapitels beauftragte einen Baumeister mit dem Bau der Kathedrale mit folgenden Worten: ›Bauen Sie uns eine Kathedrale, vor der jedermann ausruft: ›Der Domkapitular von Sevilla ist verrückt geworden, daß er so etwas bauen ließ.‹ Der Baumeister nickte und baute die Kathedrale. Eine solche Kathedrale unserer Musik wird das Nibelungen-Drama werden.«

Als Berlioz nach Weimar kam, umringten ihn diese Jünger. Sie wußten alles von ihm, sie konnten ihm auswendig die Instrumentation jedes einzelnen Satzes aus dem »Cellini« erklären, durch die Vorträge ihres Meisters hatten sie den aufsehenerregenden Einfall der » Idée fixe« verstanden. Und wenn für sie der Erlöser des neuen Musiklebens Wagner war, so sahen sie in Berlioz ihren Johannes den Täufer, den visionären Vorboten, den ersten Verkünder des nahenden musikalischen Erdbebens.

Die Weimarer bestaunten den kräftigen, untersetzten Mann mit dem Adlergesicht. Sie wußten, daß auch er ein Revolutionär war, aber sie hatten einen jungen Titanen erwartet, und sie waren nun verwundert, daß dieser Titan ein vollkommen ergrauter alternder Mann war. Ins Theater gingen sie aber doch, und die Anwesenheit des Tondichters brachte dem »Benvenuto Cellini« ein volles Haus ein, was bisher noch nicht der Fall gewesen war. Jetzt spendeten sie auch schon Beifall, und seinen anderen Werken war erst recht ein großer Erfolg beschieden. Unter der persönlichen Leitung des Tondichters trug das Orchester zwei Sätze aus der » Damnation de Faust« vor. Auch der Rakoczi-Marsch tat nunmehr seine Schuldigkeit, die Weimarer waren ganz aus dem Häuschen. Franzi rieb sich freudig erregt die Hände. Er war nicht nur glücklich über den Erfolg seines guten Freundes, sondern auch über den Erfolg der Sache selbst. Da er Berlioz von vornherein beharrlich und planmäßig als eine Größe seiner musikalischen Richtung verkündet hatte, waren die Zuhörer gezwungen, verlegen festzustellen, daß der Meister, den sie bisher nur beschimpft und ausgelacht hatten, doch sehr gefällige und effektvolle Sachen zu bieten vermochte; an dieser »Zukunftsmusik« war anscheinend doch etwas dran …

Ein Bankett löste das andere ab, eine Audienz am Hofe die andere. Wenn Maria Pawlowna Gelegenheit fand, sich mit dem Pariser Gast über Musik zu unterhalten, so nahm das Stunden in Anspruch. Bei der letzten Audienz überreichte der Großherzog Berlioz den Falkenorden. Am letzten Abend fand im Rathaus ein großes Festbankett statt, im großen Saal stand die neu geschaffene Büste des Gastes, mit Lorbeer umkränzt, der Sprecher für das Orchester überreichte dem Gefeierten einen silbernen Dirigentenstab. In den späten Frühmorgenstunden, als sie endlich ihr Hotel aufsuchten und zu zweit blieben, hatten sie Lust, sich noch ein Weilchen unter vier Augen zu unterhalten. Ihre Privatangelegenheiten hatten sie einander schon in der vergangenen Woche anvertraut. Hektor hatte in seiner Tasche die Pariser Adresse der Kinder Liszts, um sie aufzusuchen, Franzi war bereits von der prächtigen Entwicklung des Sohnes Berlioz', von dessen Absicht, Marineoffizier zu werden, und von der unerträglichen Tyrannei der zweiten Frau Hektors unterrichtet, es blieb nichts weiter übrig zu besprechen, als das einzige Thema, das sie beide bisher vermieden hatten. Jetzt, beim Kerzenlichte der Abschiedsnacht, in der Unordnung des Hotelzimmers, sprachen sie endlich den Namen Wagner aus.

»Was soll das eigentlich?« fragte Hektor lächelnd, »was habt Ihr mit diesem Wagner? Ich höre ihn hier viel öfter nennen, als bei uns in Paris den Prinzen Bonaparte, den Thronprätendenten.«

Er sagte das zwar nur so leicht hin, aber eine gewisse Tönung seiner Stimme verriet, daß es ihm sonderbar vorkam, in der ihm zu Ehren veranstalteten Festwoche immer und immer wieder den Namen Wagners zu hören.

»Wagner ist jetzt ein großer Trumpf«, erwiderte Franzi, »Wagner wird von hier aus, von Weimar, groß werden.«

»Hältst du ihn denn für so begabt?«

»Ich halte ihn für einen Feuergeist.«

»So. Und worin äußert sich sein Feuergeist?«

»Darin, daß er etwas sagt, was vor ihm niemand gesagt hat, und alles, was er sagt, mit einer beispiellosen Fertigkeit und Begabung sagt.«

»Was bis jetzt noch niemand gesagt hat? Und ich?«

»Das ist etwas anderes. Du weißt sehr gut, Hektor, daß ich dich für einen sehr bedeutenden Tondichter halte. Obendrein ist meine Jugend mit dir so verwachsen und ich habe dich so gerne, daß ich der Letzte bin, der deine Arbeit herabmindern würde. Dieser Wagner aber ist etwas ganz anderes. Wie Stephenson die Eisenbahn erfunden hat, so erfand Wagner das Musikdrama.«

»Eine interessante Sache, das will ich nicht leugnen. Aber das Gebiet des Theaters ist doch schließlich nur ein kleines Gebiet, neben dem Theater hat die Musik noch ein riesengroßes Feld. Und das, was ich Neues zu bringen versucht habe, wirkt sich in jeder Musik aus, auch in der seinen. Ich höre zum Beispiel, daß die Leitmotive bei ihm eine so große Rolle spielen. Ist das aber seine Idee? Habe nicht ich in meiner phantastischen Symphonie die Idée fixe zuerst durchgeführt?«

»Selbstverständlich hast du das getan! Darüber läßt sich nicht streiten. Das hat er auch gar nicht in Abrede gestellt.«

Sie schwiegen. Die Frage, die jetzt hätte kommen müssen, wäre die heftige Frage Berlioz' gewesen: »Wer ist also der größere, ich oder der Neue?« Sein Schamgefühl aber ließ ihn die Frage nicht aussprechen. Franzi war erleichtert, daß er wieder von etwas anderem reden konnte. Er hätte nicht lügen können. Er hätte sagen müssen, daß dieser Neue die größte musikalische Begabung des Jahrhunderts sei. Sie wechselten noch einige wenige belanglose Sätze, dann begaben sie sich zur Ruhe. Franzi lag noch lange schlaflos und starrte in die Dunkelheit. Er prüfte sich selbst. Wen liebte er mehr: diesen liebenswürdigen, heftigen und ein bißchen launenhaften Berlioz oder den anderen, streng logisch denkenden und maßlos egoistischen Mann? Ja, Berlioz war er aus ganzem Herzen zugetan, den anderen aber verehrte er, wie der Kämpfer seine Lieblingswaffe. Wem sollte er aber den Vorrang geben? Unbedingt und ohne Einschränkung Wagner. Wagner war das Werk, die Idee, das Ziel und die Erfüllung selbst. Die Kunst ähnelt auch darin dem Glauben, daß der Gläubige ohne Zögern sein Leben dafür verleugnet. Auch sich selbst? War Wagner auch mehr als er …?

Er hatte von jeher tapfer in sich selbst hineinzusehen gewagt. Er war glücklich zu wissen, daß er seine Fehler kannte und sich der Grenzen seiner Fähigkeiten bewußt war. Jetzt, als er in der frühen Morgenstunde eine Prüfung seiner eigenen Fähigkeiten abhielt, sprach er sich selbst das Urteil: Wagner ist als Bühnenmusiker mehr als ich. Daß er aber als Symphoniker auch mehr wäre, kann ich nicht zugeben. Er überblickte seine bisherigen Werke und bewertete sie. Er kam zu dem Ergebnis, daß viele davon seiner Zeit um Jahre voraus waren. In der Tasso-Symphonie zum Beispiel waren Einzelheiten enthalten, die nur eine spätere Generation verstehen würde. In der Sammlung seiner » Années de Pèlerinage« hatte er auf dem Klavier einige Sätze zu sagen gewagt, für die die Klavierkultur der Welt noch lange nicht reif war. »Sposalizio« war reine Zukunftsmusik; in hundert Jahren würde man das moderne Musik nennen. Wagners Musik gehört der Gegenwart an. Wagner wird zweifelsohne die ganze Welt erobern, ein noch nie geahnter Theaterruhm wartet seiner, wenn ihn Gott am Leben erhält. Sein Reich ist aber nicht von dieser Welt. Wenn er Wagner also mit seiner ganzen Kraft fördert, handelt er richtig, denn er fördert ja nicht nur die gottgesegnete Begabung, sondern durch ihn zugleich den deutschen Mythus.

Mit dem Gedanken an Wagner schlief er endlich ein.

Berlioz fuhr am Tage darauf ab. Gleichzeitig erhielt Franzi das Manuskript des Vorspiels zu dem großen in Arbeit befindlichen Wagner-Werk. Er stürzte sich ebenso gierig darauf wie vorher auf »Siegfried«. Zuvor mußte er aber noch den Begleitbrief lesen, den Wagner an die Großherzogin gerichtet hatte, und den er, wie er auf einem besonderen Zettel bemerkte, als Vorwort zur Buchausgabe der Tetralogie zu verwenden gedachte, und zwar mit dem Titel »Franz Liszts symphonische Dichtungen«.

Dieser für die Veröffentlichung bestimmte Brief war sehr aufschlußreich. Wagner sprach in seinem gewohnten, weitschweifigen, sehr schwer verständlichen Stil eher von Programmusik im allgemeinen und vom Verhältnis der Form zur Ausdrucksweise im besonderen, als von Liszts Symphonien. Trotz allem aber wurde Franzi zur Genüge gewürdigt.

»Vor allem«, sagte Wagner unter anderem, »überraschte mich die große und sprechende Bestimmtheit, mit welcher der Gegenstand sich mir kundgab: natürlich war dies nicht mehr der Gegenstand, wie er vom Dichter durch Worte bezeichnet wird, sondern der ganz andere, jeder Beschreibung unerreichbare, von dem man sich bei seiner unnahbar duftigen Eigenschaft kaum verstellen kann, wie er wiederum ebenso einzig klar, bestimmt, dicht und unverkennbar unserem Gefühle sich darstellen kann. Diese geniale Sicherheit der musikalischen Konzeption spricht sich bei Liszt sogleich im Beginne des Tonstückes mit einer Prägnanz aus, daß ich oft nach den ersten sechzehn Takten erstaunt ausrufen müßte: ›genug, ich habe alles!‹ Diese Eigenschaft dünkte mich ein so hervorragender Zug der Lisztschen Werke zu sein, daß ich, trotz aller Abneigung, die sich der Anerkennung Liszts auf diesem Felde von gewisser Seite entgegenstellt, doch nicht das mindeste für ein sehr schnelles, inniges Bekanntwerden von seiten des eigentlichen Publikums fürchte … Wißt ihr einen Musiker, der musikalischer sei als Liszt? Der alles Vermögen der Musik reicher und tiefer in sich verschließe als er? Der feiner und zarter fühle, der mehr wisse und mehr könne, der von Natur begabter und durch Bildung sich energischer entwickelt habe als er? Könnt ihr mir keinen zweiten nennen, oh, so vertraut euch doch getrost diesem Einzigen und seid sicher, daß ihr durch dieses Vertrauen da am meisten bereichert werdet, wo ihr, mißtrauisch, jetzt Beeinträchtigung fürchtet!«

Auch die Fürstin, der im übrigen die gesamten Studien gewidmet waren, bekam ihre persönliche Freude:

»Vielleicht ist es aber unmöglich, daß ich gerade Ihnen das mitteile, weil Sie mit demselben Instinkt, der Liszt in seiner Entwicklung leitete, gewiß auch errieten, welche Bewandtnis es hiermit hätte, während wir Männer, die wir selbst, wenn eigentlich gar nichts mit uns zu tun ist, immer mit uns zu tun haben, in solchen Fällen oft beschämt vor den Frauen stehen.«

Er würdigte mit größter Bewunderung Franzis unübertreffliches Spiel, seine gottvollen Beethoven-Interpretationen, seine Selbstlosigkeit, seinen begeisterten Einsatz für ihn, Richard Wagner, selbst. Die Symphonie der warmen Anerkennung wurde aber durch eine Dissonanz gestört. Von den Liszt-Symphonien kam Wagner auf Berlioz und griff ihn hart an:

»Bei den besten, ja wirklich idealen Erscheinungen dieser Art war es mir immer begegnet, während der Anhörung den musikalischen Faden so gänzlich zu verlieren, daß ich mit keinerlei Anstrengung ihn festzuhalten oder wieder anzuknüpfen vermochte. Dies begegnete mir noch vor kurzem mit der in ihren Hauptmotiven so wundervoll ergreifenden Liebesszene in unseres Freundes Berlioz ›Romeo und Julia‹-Symphonie: die größte Hingerissenheit, in die mich die Entwicklung des Hauptmotives gebracht hatte, verflüchtigte und ernüchterte sich im Gefolge des ganzen Satzes bis zum unleugbaren Mißbehagen; ich erriet sogleich, daß, während der musikalische Faden verlorengegangen war (d. h. der konsequent übersichtliche Wechsel bestimmter Motive), ich mich nun an szenische Motive zu halten hatte, die mir nicht gegenwärtig und auch nicht im Programm aufgezeichnet waren. Diese Motive waren unstreitig in der berühmten Shakespeareschen Balkonszene vorhanden; darin, daß sie getreu der Disposition des Dramatikers gemäß festgehalten waren, lag aber der große Fehler des Komponisten. Dieser, sobald er die Szene als Motiv zu einer symphonischen Dichtung benutzen wollte, hätte fühlen müssen, daß der Dramatiker, um ungefähr dieselbe Idee auszudrücken, zu ganz anderen Mitteln greifen muß, als der Musiker.«

Als sie die Freude über das ihnen persönlich gespendete Lob hinter sich hatten, lasen sie gemeinsam die ganze Besprechung noch einmal aufmerksam durch. Die Fürstin schüttelte den Kopf:

»Es wäre nicht erforderlich gewesen, Berlioz zu tadeln. Berlioz ist eine wichtige Säule in Ihrer Weimarer Tätigkeit, die auch ihm nützlich ist. Ich finde das nicht besonders geschmackvoll.«

Franzi zuckte die Achsel. Es fiel ihm ein, daß einst auch er die Kompositionen seines Rivalen Thalberg in der Presse angegriffen hatte. Er konnte gegen Wagner also nicht strenger sein, als gegen sich selbst. Zudem war er der Ansicht, daß einer solchen Begabung alles erlaubt sei. Selbstsucht, Formlosigkeit, Geiz, Rücksichtslosigkeit in der Auswahl der Mittel, das gehört alles zur persönlichen Eigenart. Die Hauptsache ist, daß das, was ein solcher Mensch schafft, wirklich groß ist. Als Franzi sich in die Verse des »Rheingold« vertiefte, fühlte er jenen leichten Schauer sein Rückgrat hinunterlaufen, den nur außergewöhnliche Eindrücke hervorrufen. Das Vorspiel begann mit einem so kühnen Szenenbild, wie es ein Operndichter bisher noch nie vorgeschrieben hatte: Das Flußbett des Rheines als riesengroßes Aquarium mit grünlich schimmernden Wassermassen, in denen, spielenden Robben gleich, die drei Rheintöchter herumschwammen: Woglinde, Wellgunde, Floßhilde. Schon ihre Namen schlugen den Ton des ganzen Werkes an, kennzeichneten den Geist des urwüchsigen, alten Germanentums, der seit dem »Siegfried« immer mehr Gewalt über den Dichter gewann. Die Sprache war bezaubernd: »Woge, du Welle! Walle zur Wiege!« sang Woglinde, und der Leser nahm mit seinen Sinnen das Wogen auf, das der Dichter Wagner im voraus schon dem allmächtigen Orchester des Komponisten Wagner unterschob. Auf dem Grund des ehrwürdigen Flusses erglänzte der Hort, und der Zwerg Alberich, der nach ihm verlangte und ihn rauben wollte, jagte mit spielerischer Lust hinter den Rheintöchtern her. Auf einmal wurden die Wellen zu visionär wogenden Wolken und die Tiefe des Rheins verwandelte sich in die Götterburg Walhall. Da leuchtete sie, erbaut für Wotan und seine Genossen von den beiden Riesen Fasolt und Fafner, die sich als Belohnung die betörende Schönheit der Göttin Freia ausbedungen hatten. Die eifersüchtigen, miteinander streitenden und zugleich märchenhaft naiven Götter beschworen plötzlich denselben Wagner herauf, der an dem gleichen Tische der Altenburg mit der Fürstin eine so leidenschaftliche Debatte über die klassische griechische Welt ausgefochten hatte: die Göttergestalten von Walhall schienen die Götter des Olymps in Verkleidung zu sein, selbst der findige Hermes war da in der Gestalt des klugen Loge.

Dieses für die Musik geschaffene dramatische Gedicht konnte man einfach nicht wieder aus der Hand legen. Auf den ersten Blick mutete es an wie eine farbenprächtige schlichte Volkserzählung, aber das bühnengewandte Auge erkannte sofort den hinreißenden dramatischen Aufbau der Handlung, die den Zuschauer in immer wachsender Spannung hielt. Wie der diebische Zwerg, ganz im Geist des Volksmärchens, sich mit Hilfe der Tarnkappe erst in eine Riesenschlange, dann in eine Kröte verwandelte und den aus dem Rheingold gehämmerten Zauberring an seinen Finger steckte, wie ihm Wotan alle diese Schätze gewaltsam wieder raubte, wie er dann zögerte, dem Riesen diese Schätze als Lösegeld für Freia zu geben, wie die plötzlich auftauchende, rätselhafte Erda Wotan auf das verhängnisvolle Schicksal des Zauberringes aufmerksam machte, wie er dieses Kleinod dann doch als Lösegeld für Freia hingab, wie die beiden Riesen sich um den Schatz stritten und Fafner den Fasolt tötete, alles das war ungeheuer spannend, aufregend und bühnenwirksam. Franzi legte das Textbuch mit dem Gefühl aus der Hand, daß er viel mehr bekommen, als er erwartet hatte.

»Wissen Sie, Carolyne«, sagte Franzi, »was unser Freund mit diesem Werk tut? Er macht seinem Vaterland ein nationales Geschenk, wie seinerzeit Homer den Griechen. Ich habe gut überlegt, was ich sage. Ich sehe aber schon ganz genau seine Größe. Es wird eine Zeit kommen, in der er als Wotan gilt in der Walhalla der deutschen Geistesheroen. Seine Größe ist unbegrenzt. Die Kraft dessen, was er begann, ist so gewaltig, daß man davor fast Angst bekommen könnte. Ich will Ihnen etwas sagen, Carolyne: wenn ich in meinem ganzen Leben nichts anderes getan hätte, als diesen Mann vor dem Untergang gerettet, so hätte ich dafür allein den Dank der Menschheit reichlich verdient.«

»Das ist alles sehr schön und erhaben«, entgegnete die Fürstin nach längerem Schweigen, »ich habe es aber gar nicht gern, wenn Sie so sprechen, Franzi. Als ob Ihre eigene Kunst gar nicht vorhanden wäre. Sind Sie denn nur dazu da, um anderen den Weg zu ebnen?«

»Liebe Carolyne, ich habe Ihnen schon so oft gesagt, und ich kann es Ihnen auch jetzt nur wiederholen: ich ebne nicht den Weg eines Menschen namens Richard Wagner, obgleich ich ihm persönlich auch gern förderlich bin, wie einem jeden auf dieser Welt, ich ebne den Weg der Kunst. Meine von Gott mir auferlegte Pflicht ist es, all dem zu dienen, was groß und schön ist. Ob ich es schuf oder ein anderer, ist vollständig gleichgültig.«

»Aber um des Himmels willen, dem, was Sie selbst schaffen, dienen Sie ja eben gar nicht, nur dem Schaffen eines anderen.«

Franzi zuckte mit den Achseln und schwieg lange.

»Warum antworten Sie nicht? Ich werde Sie mit dieser Frage doch nie in Ruhe lassen.«

»Vergebliche Mühe«, entgegnete er, »ich werde für mich und für meine eigene Sache niemals einen einzigen Schritt tun …«

»Aber warum nicht, warum nicht, warum nicht?«

»Ich verbiete Ihnen, so kleinlich und engherzig zu sein, ich habe nur das Große und Schöne im Auge.«

Carolyne sah mit ihren großen schwarzen Augen Franzi an, voller Verwunderung und Schmerz. Aus den schwarzen Augen rollten langsam zwei Tränen herab. Franzi sprang auf, umarmte die Frau, tröstete sie und bat sie um Verzeihung. Es kostetet ihn keine allzu große Mühe, Carolyne wieder an sich zu ziehen, um sie mit der heißen Innigkeit eines liebenden Mannes küssen zu können. Carolyne kam aber am Abend noch einmal auf diese Sache zu sprechen.

»Ich werde diesen Wagner immer hassen, weil Sie seinetwegen mit mir in einem solchen Ton gesprochen haben.«

»Zürnen Sie mir denn immer noch? Womit soll ich Sie beruhigen, mein Liebling. Verlangen Sie von mir, was Sie wollen.«

»Eigentlich möchte ich Sie darum bitten, nie mehr Alkohol zu trinken. Ich habe aber Angst, daß ich Sie damit vor eine viel zu schwere Aufgabe stelle. Aber wissen Sie, worum ich Sie bitten will? Vollenden Sie nächstes Jahr die Faust-Symphonie. So wie Sie einst in Woronice davon gesprochen haben. Versprechen Sie es? Hand darauf!«

Sie reichten sich die Hände und ließen sie nicht wieder los. Sie fielen sich um den Hals.


 << zurück weiter >>